Digitale Überwachung: George Orwells Big Brother «1984» in neuer Übersetzung»
Von Ingrid Isermann.
Orwell gelang mit seiner beklemmenden Vision einer Staatsdiktatur, die kein Privatleben duldet, sondern die Gedanken und Gefühle der Bürger bis ins Letzte diktiert, ein Klassiker der Moderne. Winston Smith ist Mitarbeiter im Ministerium der Wahrheit. Er macht zwei entscheidende Fehler, er verliebt sich in seine Kollegin Julia und er vertraut sich seinem Vorgesetzten an, im Weltreich Ozeanien eine Todsünde.
Totalitärer Überwachungsstaat, Entmündigung des Individuums, lückenlose Observation und Manipulation, Gehirnwäsche und Geschichtsfälschung – selten hat eine bei Erscheinen noch völlig absurd anmutende Dystopie die Zukunft der Menschheit so exakt und visionär vorhergesagt wie dieser Bestseller aus dem Jahre 1948.
Ab 1947 bis etwa 1956 fanden im Kalten Krieg Untersuchungen gegen unamerikanische Umtriebe und Kommunisten statt, die als McCarthy-Ära bekannt wurden. Vermutlich wurde Orwell auch inspiriert durch diese rigiden Überwachungen und Anklagen gegen Schauspieler und Künstler, seine Dystopie-Geschichte «1984» im Jahre 1948 zu schreiben, die 1949 herauskam. «1984» wurde bis heute zum geflügelten Wort und zum Synonym für eine dystopische Gesellschaft.
Im Lichte von «Social Scoring», wie es in China längst praktiziert wird, haben sich die schlimmsten Befürchtungen des Autors bewahrheitet.
Heute ist ein Kulturkampf in vollem Gange zwischen Coronaleugnern und Verschwörungstheoretikern und die Freiheit der Medien ist bedroht.
Grund genug, es (wieder) zu lesen in der neuen Übersetzung von Gisbert Haefs mit einem aufschlussreichen Nachwort von Mirko Bonné.
Leseprobe:
Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith drückte das Kinn auf die Brust, um dem beissenden Wind zu entgehen, und schlüpfte schnell durch die Glastüren der Victory Mansions, aer nicht schnell geug, um zu verhindern, dass ein Wirbel grobkörigen Staubs mit ihm hineingelangte.
Im Hausflurroch es nach gekochtem Kohl und alten Fussmatten. An einem Ende hatte man ein buntes Plakat, für Innenräume eigentlich zu gross, an die Wand geheftet. Es zeigt nichts als ein riesiges Gesicht, über einen Meter breit: das Gesicht eines etwa fünfundvierzigjährigen Mannes mit dichtem schwarzem Schnurrbart und markigen, ansehnlichen Zügen. Winston ging zur Treppe. Es mit dem Aufzug zu versuchen, war sinnlos.
Selbst zu den besten Zeiten funktioinierte er selten, und im Moment war der Strom tagsüber abgeschaltet. Das gehörte zu den Sparmassnahmen in Vorbereitung der Hass-Woche. Die Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, neununddreissig Jahre alt und mit einem Krampfadergeschwür über dem rechten Knöchel, ging langsam hinauf und legte mehrere Pausen ein. Auf jedem Absatz starrte gegenüber vom Aufzugsschacht das Plakat mit dem riesigen Gesicht von der Wand. Es war eines jener Bilder, die so angelegt sind, dass einem die Augen bei jeder Bewegung folgen.
DER GROSSE BRUDER BEOBACHTET DICH, stand darunter.
George Orwell wurde 1903 in Motihari/ Bengalen als Sohn eines britischen Kolonialbeamten geboren. Er besuchte Privatschulen in England, diente in der burmesischen Imperial Police, arbeitete als Lehrer und Buchhandelsgehilfe, machte als Vagabund in Südengland und Paris Erfahrungen, kämpfte auf republikanischer Seite im Spanischen Bürgerkrieg und arbeitete als freier Schriftsteller und Journalist. Neben seinen Welterfolgen „Farm der Tiere“ und „1984“ ist er durch zahllose politische wie literarische Essays bekannt geworden. Er starb 1950 in London.
George Orwell
1984
Roman
Neu übersetzt von Gisbert Haefs,
mit einem Nachwort von Mirko Bonné
Manesse Verlag, München 2021
Hardcover mit Schutzumschlag, 448 Seiten,
13,5 x 21,5 cm
CHF 30.90. € 22.
ISBN: 978-3-7175-2528-8
«Literarische Science-Fiction: Fahrenheit 451»
Der Film von François Truffaut mit dem Theater- und Filmschauspieler Oscar Werner blieb mir im Gedächtnis: «Fahrenheit 451». Das ist der Hitzegrad, an dem Papier zu brennen beginnt. Brennen werden bald alle Bücher, denn Lesen ist geächtet, Wissen nicht erwünscht. Bücher sind verboten. Stattdessen Entertainment und Dauerberieselung. Das Buch, 1953 von Ray Bradbury verfasst und im Diogenes-Verlag jetzt mit neuer Übersetzung herausgebracht, ist im Social -Media-Zeitalter wie Orwells «1984» höchst aktuell.
Die Geschichte, die einem schier den Atem verschlägt, die der Amerikaner Ray Bradbury als 33-jähriger junger Schriftsteller wie in einem Rausch in wenigen Wochen niederschrieb, handelt von Feuermännern, die statt Feuer zu löschen Feuer legen und Häuser niederbrennen, in denen sich Bücher befinden.
Bücher machen Menschen unglücklich lautet die Devise, weil sie zuviel grübeln und deshalb depressiv werden. Also berieselt man sie in ihren Wohnhäusern unaufhörlich mit Musikvideos von den Wänden herab und seichten Family soaps. Fast fühlt man sich erinnert an einen Grossteil unserer heutigen Musik- und TV-Unterhaltung mit Quiz und seichten Schlagersendungen.
Ein Krieg droht, doch die Menschen sind apathisch und werden durch Dauerbeschallung und Entertainment kleingehalten. Wissen ist geächtet, Spass ist alles, worauf es ankommt, der Besitz von Büchern steht unter Strafe. Für die Einhaltung dieser strikten Restruktionen ist die Feuerwache verantwortlich, in absurder Umkehrung ihres Auftrags verbrennt sie Bücher und Häuser.
Als der Feuermann Guy Montag einen Selbstmordversuch seiner Frau Mildred miterlebt, und sieht, wie eine alte Frau zusammen mit ihren Büchern, die sie nicht aufgeben will, in ihrem Haus verbrannt wird, keimen Zweifel in ihm und er sucht einen alten Literaturprofessoren auf, der zurückgezogen lebt.
Zusammen schmieden sie einen Widerstandsplan gegen die Staatsgewalt, doch die Handlanger der Regierung sind ihnen mit ihrem elektronischen Spürhund schon auf den Fersen.
Guys Leben ist in akuter Gefahr, die elektronische Überwachung ist universell, er flüchtet in letzter Minute über den Fluss aufs offene Land und trifft dort auf andere Widerständler, die Inhalte von Büchern auswendig lernen, damit Wissen nicht vergessen geht. Sie verbergen sich in Laubhütten und wechseln oft die Standorte. Guy schliesst sich ihnen an.
Das ist so unheimlich gut geschrieben, so klug und empathisch, dass man vergisst, dass es schon fast 70 Jahre her ist, seit das Buch 1953 erschien und nun im Diogenes-Verlag mit neuer Übersetzung wieder aufgelegt.
Eine berückende Hommage an den freien Willen, die Kraft des Denkens und der Sprache, ein Appell an Humanität und die Würde des Menschen.
Leseprobe:
»Es ist so«, erwiderte Granger lächelnd. »Wir verbrennen auch Bücher. Wir haben die Bücher gelesen und verbrannt, aus Angst, dass man sie findet. Mikrofilm hat sich nicht bewährt; wir waren ständig unterwegs, deshalb wollten wir die Filme nicht vergraben und später wiederkommen. Da wäre stets das Risiko des Entdeckens. Also bewahren wir sie lieber in unseren alten Köpfen auf, wo niemand sie sehen kann oder sie vermuten würde.
Wir alle sind Bruchstücke aus Geschichte, Literatur und Internationalem Recht, Byron, Tom Paine, Machiavelli oder Christus, alles ist hier. Es ist höchste Zeit. Der Krieg ist ausgebrochen. Wir sind hier draußen, und dort ist die Stadt, ›ganz in ein prächtiges Gewand gehüllt‹. Was denkst du, Montag?«
»Ich denke, ich war blind, es auf meine Weise versuchen zu wollen, Bücher in den Häusern von Feuermännern zu verstecken und Alarm zu schlagen.« »Du hast getan, was du tun musstest. Auf landesweiter Ebene hätte das vielleicht funktionieren können. Aber unser Weg ist einfacher und besser,
wie wir finden. Wir wollen nur das Wissen, von dem wir glauben, dass wir es brauchen, unversehrt und sicher bewahren. Wir haben im Moment nicht vor, jemanden aufzuwiegeln oder zu verärgern.
Denn wenn wir umkommen, ist das Wissen tot, vielleicht für immer. Auf unsere besondere Art und Weise sind wir Vorzeigebürger; wir gehen die alten Wege, bei Nacht lagern wir auf den Hügeln, und die
Stadtmenschen lassen uns in Frieden. Gelegentlich werden wir angehalten und durchsucht, aber wir haben nichts bei uns, was uns belasten könnte. Die Organisation ist beweglich, sehr locker und weitmaschig. Einige von uns haben sich Gesichter und Fingerabdrücke umoperieren lassen. Im Augenblick haben wir eine entsetzliche Aufgabe zu erledigen; wir warten darauf, dass der Krieg ausbricht und ebenso schnell wieder endet. Das ist nicht angenehm, aber darüber haben wir keine Macht, wir sind nur die kleine Minderheit der Rufer in der Wüste. Wenn der Krieg vorüber ist, können wir vielleicht der Welt von Nutzen sein.«
»Glaubst du, dass sie dann zuhören werden?«. »Wenn nicht, werden wir einfach warten müssen. Wir geben die Bücher mündlich an unsere Kinder weiter, und dann warten unsere Kinder auf die anderen. Natürlich geht auf diese Weise vieles verloren. Aber man kann die Menschen nicht zwingen zuzuhören. Sie müssen selbst darauf kommen, müssen sich selbst fragen, was geschehen ist, war¬um die Welt in die Luft geflogen ist. Das kann ja nicht ewig so weitergehen.«
»Wie viele von euch gibt es denn?«. »Heute Nacht sind Tausende auf den Straßen und Schienen unterwegs, von außen betrachtet, Landstreicher, inwendig Bibliotheken. Das war nicht von Anfang an so geplant. Jeder hatte ein Buch, an das er sich erinnern wollte und auch tat. Dann haben wir uns im Laufe von zwanzig Jahren etwa unterwegs getroffen, das lockere Netzwerk geflochten und einen Plan aufgestellt. Der wichtigste Punkt, den wir uns einbleuen mussten, war die Tatsache, dass wir nicht wichtig sind, nicht
pedantisch werden dürfen; wir dürfen uns nicht allen anderen auf der Welt überlegen fühlen. Wir sind nichts weiter als Schutzumschläge der Bücher und haben ansonsten keinerlei Bedeutung. Manche von uns leben in kleinen Gemeinden zusammen. Kapitel eins von Thoreaus Walden lebt in Green River, Kapitel zwei in Willow Farm, Maine. Es gibt sogar eine Gemeinde in Maryland, dort wohnen nur siebenundzwanzig Menschen, niemand wird jemals dieses Dorf bombardieren, aber es stellt die gesamten Essays eines Mannes namens Bertrand Russell dar. Man könnte diese Gemeinde buchstäblich in die Hand nehmen und durchblättern, soundso viele Seiten pro Person. Und eines Tages, eines Jahres, wenn der Krieg vorüber ist, dann können die Bücher wieder geschrieben werden, man wird die Menschen nach und nach herbeirufen, um vorzutragen, was sie wissen, um die Bücher wieder zu drucken, bis zu irgendeinem dunklen Zeitalter, in dem wir die ganze verfluchte Geschichte wieder¬holen müssen. Aber das ist das Wunderbare am
Menschen; niemals wird er so sehr entmutigt oder überdrüssig, dass er einfach aufgeben würde, es von Neuem zu versuchen, denn er weiß sehr gut, dass es wichtig und der Mühe wert ist.«
Ray Bradbury, geboren 1920 in Waukegan (Illinois), wurde gleich mit seinem ersten Roman, ›Fahrenheit 451‹, berühmt, den François Truffaut verfilmte. Bekannt für seine Science-Fiction schrieb Bradbury auch Kinderbücher, Gedichte und Drehbücher wie jenes zu ›Moby Dick‹ von John Huston. Ray Bradbury starb 2012 in Los Angeles. Besondere Ehrung für sein Lebenswerk im Rahmen der Pulitzer-Preis-Verleihung in New York., 2007 Diplom Russian National Olympus, 2007.
Ray Bradbury
Fahrenheit 451
Aus dem amerikanischen Englisch
von Peter Torberg
Diogenes Verlag, Zürich 2020
Hardcover, geb. 272 S.,
CHF 32. € 24.
ISBN 978-3-257-07140-5