FRONTPAGE

«Schauspielerin Regula Grauwiller: Zwischen Wortspektakel, «Wilder» und Hörbüchern»

Von Rolf Breiner

 

Sie ist seit 30 Jahren als Schauspielerin aktiv und gefragt. Die Baselbieterin Regula Grauwiller wirkte in vielen TV-Serien «Der Bergdoktor» sowie «Tatort», «Zürich-Krimi» oder «Das Traumschiff» mit. Erst kürzlich war sie in der ZDF-Romanze «Ein Sommer auf Elba» zu sehen, bei der ihr Mann Jophi Ries Regie führte. Ihr Projekt «Wortspektakel», das sie zusammen mit Stefan Gubser entwickelt hat, liegt aufgrund der Corona-Einschränkungen zurzeit auf Eis.

 

Frisch von den Dreharbeiten zur vierten Staffel «Wilder» zurück und aufgetaut?

Regula Grauwiller: Ja, es war schon ziemlich kalt. Mein Teil ist beendet, ich habe da nur eine kleine Rolle als Regierungsrätin, die aber immerhin in drei Folgen vorkommt.

 

Also weder Täterin noch Opfer?
Das verrate ich natürlich nicht!

 

Und die Dreharbeiten fanden und finden im Glarnerland statt?
Meistens wird im Glarnerland gedreht, aber meine Drehtage waren am Stausee Zervreila bei Vals.

 

Wie war deine Erfahrung?
Das Team war toll und ein Supercast – mit Sabine Timoteo, László Kish, Jonathan Loosli, natürlich mit Marcus Signer und Sarah Spale, die finde ich grossartig, die liebe ich.

 

Du bist seit 30 Jahren als Schauspielerin aktiv, hast fast kontinuierlich in Serien, Fernseh- und Kinofilmen mitgewirkt. Wie schafft man das, über drei Jahrzehnte gefragt und begehrt zu sein?
Ich habe viel Glück gehabt, bin zwischendurch auch mal ausgestiegen. Als ich meine Kinder bekommen habe, habe ich Pause gemacht. Man hatte mich zwar davor gewarnt, doch ich war bockig und habe mir gesagt: Das ist mir egal, ich will diese Zeit mit den Kindern geniessen. Das Zurückkommen war dann nicht so einfach und nahtlos. Es hat schon etwas gedauert, bis die Leute gesehen haben: Aha, die Regula gibt’s auch noch.

 

Deine Kinder, zwei Mädchen, ein Sohn, sind jetzt 16, 18 und 20 Jahre alt. Sind sie flügge geworden.
Sie sind noch zuhause und haben ja oft sturmfreie Bude.

 

Dein Mann war dir eine starke Stütze…?
Er war eigentlich gerade dabei, seine Regiekarriere voranzutreiben, als sich unsere Tochter ankündigte, und deshalb hat er das erstmal zurückgestellt und als Schauspieler Geld verdient. Somit konnte ich mich nur um die Kinder kümmern, was ein Privileg war, und was ich sehr genossen habe. Als ich dann auch wieder arbeiten konnte, weil die Kinder grösser waren, habe ich ihn ebenfalls unterstützt bei seinem Traum, Regie zu führen.

 

«Sommer auf Elba» heisst der Film, der vom ZDF unter dem Titel «Herzkino» ausgestrahlt wurde und in der Mediathek noch zu sehen ist. Vier Wochen Dreharbeiten auf Elba mit dem eigenen Mann, Jophi Ries, als Regisseur. Gab es Reibereien, hat es Spass gemacht?
Nein, Reibereien gab es nicht. Man steht natürlich unter Zeitdruck, und ich war bemüht, dass er nicht noch mehr Stress durch mich hat. Ich konnte mich total fallen lassen, weil ich ihm vertraute. Ich weiss, dass er einen guten Blick hat und sieht, ob ich authentisch spiele oder nicht. Wir sind Verbündete.

 

Du würdest also wieder mit deinem Mann drehen…
Auf jeden Fall. Ich hatte danach einen kleinen Auftritt in seinem nächsten Film «Die Luft zum Atmen», eine Hamburger Produktion über die Lebensgeschichte der Schauspielerin Miriam Maertens, die das Buch «Verschieben wir es auf Morgen» geschrieben hat. Jophi kennt sie schon lange, ich spiele eine Nebenrolle als Schwester Maria, Miriam selbst verkörpert die Ärztin, die sie behandelte und rettete. Miriam Maertens, die von 2005 bis 2019 auch am Schauspielhaus Zürich wirkte, litt an der Lungenkrankheit Mukoviszidose und erholte sich nach einer Lungentransplantation 2012. (Der Fernsehfilm wird vom ZDF ausgestrahlt).

 

Du bist in der Familienromanze auf Elba als Mutter zu sehen, die in den Ferien mit der Familie ausbricht. Ist es dir auch mal so ergangen?
Eigentlich nicht. Wenn ich drehe, bin ich eh von der Familie weg, so eben auf Elba oder im Wallis für «Wilder». Da habe ich praktisch eine natürliche Auszeit. Das Schöne an diesem Fernsehfilm ist ja die Frage der Mutter, die sich immer um die Familie gekümmert hat: Was will ich? Sie sagt sich dann: Ich habe Lust, die Insel zu erkunden, auch wenn ihr, meine Familie, keine Lust habt. Ich mach das jetzt.

 

Du hast in allen möglichen Filmgenres mitgewirkt – in Krimis, Dramen, Komödien und Liebesfilmen. Hast du eine Vorliebe, ein Wunschrolle?
In Märchen beispielsweise als Hexe habe ich noch nicht mitgespielt oder in einem historischen Drama, sieht man mal von der Rolle als Dorothea, der Frau von Niklaus von Flüe, 2013 ab.

 

Vor zwei Jahren hast du zusammen mit Stefan Gubser das Unternehmen «Wortspektakel» gegründet. Was war der Auslöser, die Motivation?
Wir wollten selbst etwas in die Hand nehmen und haben gemerkt, wie gut das funktioniert und wie die Leute daran Freude haben. Wir haben so viele Ideen und Projekte, nur muss das im Moment warten, weil die Theater zugingen – in Hamburg zum Beispiel drei Tage vor unserer Premiere von «Die Deutschlehrerin» in den Kammerspielen. Da fühlt man sich wirklich, als würde der Stecker gezogen.

 

Nun ist ein neuer Termin geplant und zwar am 14. Oktober 2021.
Geht’s danach auf Tournee mit Stefan Gubser?
Ja, wir kommen mit der Deutschlehrerin im Februar 2022 auch in die Schweiz und zwar in Kleintheatern.

 

Nun habt ihr auch eine szenische Lesung zum Thema «50 Jahre Frauenstimmrecht» vorbereitet: «Weiber sind auch Menschen». Wann soll diese Eigenproduktion stattfinden?
Am 13. Juni im Zürcher Bernhard-Theater ist Premiere, danach in der ganzen Schweiz. Das ist eine unterhaltsame Geschichtsstunde, zusammengestellt von Domenico Blass (Autor bei «Giacobbo/Müller»). Ich hoffe dann mit Publikum. Ohne Publikum fehlt der Resonanzboden. Das Tolle am Theater ist ja, dass man das Publikum spürt.

 

Wie hast du die Pandemie bisher bewältigt?
Ich hatte Glück, dass man noch drehen konnte. Sonst ist es schon frustrierend. Alles was wir in der Warteschlaufe hatten, konnte nicht stattfinden.

 

Was wünschst du dir persönlich in naher Zukunft?
Ich wünsche mir vor allem, diese Pandemie zu überwinden. Dann geht es von alleine wieder los. Dann werden die Leute wieder ins Theater gehen, sich Kultur anschauen. Ich habe gemerkt, dass die Leute ein Bedürfnis haben, sich mal wieder in eine andere Welt zu begeben.

 

Wo sieht oder hört man dich demnächst, von den «Wortspektakel»-Projekten einmal abgesehen?
Ich lese seit Jahren für die Blindenbibliothek Hörbücher ein (www.sbs.ch/bibliothek/Sehbehinderung). Ein kleiner Fernsehauftritt steht noch an, und zwar im neuen Helen Dorn-Krimi am 6. März: «Wer Gewalt sät» mit Anna Loos (ZDF).

 

Kurz und bündig – drei Fragen: Was hat dich in den Corona-Zeiten aufgestellt?
Ich habe gesehen, dass die Leute auch füreinander da sein können. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wurde verstärkt.

 

Was bedeutet für dich Heimat?
Heimat ist für mich dort, wo auch die Leute sind, die mir am wichtigsten sind. Das kann überall sein.

 

Welche drei Eigenschaften schätzt du an dir am meisten?
Ich schätze meine Empathie, dass ich mich in andere Leute einfühlen kann, dazu meine Geduld und meine Gelassenheit. Meine grösste Stärke, meint mein Mann, sei, dass ich andere Leute so lassen kann wie sie sind, dass ich tolerant bin.

 

(Bild: Alberto Venzago)

 

 

Biographie in Stichworten
Geboren 10.Dezember 1970 in Liestal
1990-1993 Hochschule der Künste, Berlin
1992 Filmdebüt «Dann eben mit Gewalt», Regie Rainer Kaufmann
2000-2003 München, seither Wohnsitz in Liestal
Verheiratet mit Jophi Ries seit 2000, drei Kinder, geboren 2000, 2002, 2004

Wortspektakel mit Stefan Gubser (Schweizer «Tatort»)
«Weiber sind auch Menschen», Szenische Lesung zu 50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz, Premiere am 13. Juni 2021 im Zürcher Bernhard-Theater.

«Die Deutschlehrerin», Premiere am 14. Oktober 2021 in den Hamburger Kammerspielen.
www.wortspektakel.ch

 

 

«Milo Rau: eine Passionsgeschichte heute – den Worten sollten Taten folgen»

 

Interview Rolf Breiner

 

Er ist auf verschiedenen Bühnen aktiv. Regisseur Milo Rau ist Mitglied des «Literaturclubs» beim Schweizer Fernsehen, inszeniert an Theatern und realisiert Filme. Sein jüngstes Kinowerk «Das neue Evangelium» startet an oder um Ostern im Kino oder mittels Streaming. Er ist zu Gast in der «Sternstunde Philosophie» am 21. März (SFR1).

Milo Rau, 1977 in Bern geboren und in St. Gallen aufgewachsen, sorgte in Genf für Furore. Er inszenierte zum ersten Mal eine Oper mit Flüchtlingen: Wolfgang Amadeus Mozarts «La Clemenza di Tito (Titus)». Mit Flüchtlingen hat auch sein jüngstes Kinowerk zu tun: «Das neue Evangelium». Dabei verknüpft er die Passionsgeschichte mit der Situation von Emigranten und Kleinbauern in Italien heute (siehe Filmkritik).

 

 

Von der Oper in den Literaturclub und ins Kino – Sie bespielen viele Bühnen. Was motiviert Sie, reizt Sie an den verschiedenen Wirkungsstätten?

Milo Rau: Im Kern bin ich Theater- und Filmemacher. Andere Sachen sind Parallelgeschichten, wie etwa der «Literaturclub». Ich bin ja Literaturfan und habe früher viele Kritiken geschrieben. Seit ein paar Jahren leite ich das NTGent, ein Stadttheater in Belgien. Das hat meine Sichtweise auf den Kunstbetrieb nochmals verändert – es ist nochmals was anderes, als Intendant drei Häuser zu bespielen.

 

Ihr neuer Film «Das neue Evangelium» beruft sich auf die biblische Passionsgeschichte. Sie haben sich mehrfach mit der Bibel und ihren Bildern auseinandergesetzt. Nun eine moderne Jesus-Version fürs Kino. Was hat Sie zu dieser Verfilmung im italienischen Matera bewogen?
Das ist meine Methode: an einen Ort zu gehen, Schauspieler mit Laien und Aktivisten zu mischen. Einerseits war Matera 2019 europäische Kulturhauptstadt, ist das Jerusalem des Weltkinos, Pasolini und Mel Gibson haben hier Jesusfilme gedreht. Andererseits ist es ein Ort mit Monokulturen und Sklavenarbeitern. Diese doppelte Realität ist entscheidend. An einem anderen Ort wäre ein anderer Jesusfilm entstanden.

 

Verschiedene Ebenen und Erzählstränge kommen zusammen: ein Making-of, die Dreharbeiten und dazu die Realität vor Ort. Ist das so zusammengewachsen?
Ja. Einerseits von selbst, andererseits haben wir natürlich nach Parallelen gesucht, zum Beispiel zwischen der Bibel und der realen politischen Lage. Wir haben ein Jahr lang vorbereitet und Solidaritäten geschaffen.

 

Wie wirkte sich Ihre Filmarbeit aus?
Es gibt Netzwerke wie die Kampagne «Revolte der Würde», die vom Film befeuert wurden, aber heute vom Film unabhängig sind. Was man im Film sieht, ist real – auch ausserhalb des Films. Das war auch Yvan Sagnet und den anderen Aktivisten wichtig. Sie wollen ja keine Schauspielerkarriere machen. Das sind Menschen mit praktischen und politischen Absichten, wollen ihre Lebensbedingungen verändern und verbessern. Das ist uns gelungen.

 

Speziell an Ihrem Film ist auch, dass Jesus von einem Schwarzen verkörpert wird und Muslime Jünger spielen…
Ja, rund die Hälfte der Apostel sind Muslime, wir sind zudem der erste Jesusfilm mit weiblichen Apostelinnen. Aber jedes Evangelium, das man schreibt oder filmt, ist neu. Allein in der Bibel gibt es ja ein halbes Dutzend sich manchmal widersprechender Passionsgeschichten. Das hängt davon ab, wer es realisiert und wer mitmacht. Ich habe in Matera die Menschen eingeladen, die dort leben und kämpfen, und für die auch Jesus kämpfen würde, glaube ich.

 

Und die Muslime, die mitgemacht haben…
Die meisten Flüchtlinge dort sind Muslime, und die haben gesagt: Gerade weil wir Muslime sind, wollen wir mitmachen, denn es geht um eine universale Geschichte. Es geht in der Bibel nicht um einen weissen Christen, sondern um alle Menschen, egal welcher Herkunft oder Religion. Das ist ja auch die Paulinische Botschaft: Alle können erlöst werden, die Botschaft der Würde ist für jeden Menschen. Daran sollte man sich erinnern. Das Neue Testament wurde aber von einer Institution gekapert, nämlich der Kirche. Ich glaube, die Bibel ist nicht nur ein historisches oder spirituelles Buch, sondern eines, das sich immer wieder realisieren, an der Wirklichkeit messen muss.

 

In Ihrem Evangelium geht es um Benachteiligte, Ausgebeutete und Aussenseiter wie schon in der Bibel, ein Film mit starkem sozialen Aspekt. Was sollten die Zuschauer von diesem Passionsfilm mitnehmen?
Man sollte sich daran erinnern, dass Jesu Botschaft – wie jede von Menschen vertretene Botschaft – eine realpolitische Botschaft ist. Jesus wurde nicht gekreuzigt, weil er vom Himmelreich gesprochen hat. Das Problem war, dass er gesagt hat: Wir müssen nach der Schrift handeln, wir müssen ein faires Leben anstreben ohne Sklaven und mit Rechten für die Frauen. Das war nicht akzeptabel, denn dann bricht unsere Sklavenwirtschaft zusammen, dachten sich die Römer. Und das ist auch unsere Botschaft: Den Worten sollten Taten folgen.

 

Was hat Sie selber am meisten bei der Verarbeitung des Stoffes und den Dreharbeiten beeindruckt?
Was mich bei solchen Projekten wie auch der Oper mitreisst, ist der Rausch des Kollektivs. Plötzlich wird alles möglich, wenn 50 oder 100 oder mehr Menschen an einem gemeinsamen Projekt mitwirken und sich solidarisieren. Das ist meine Theorie: Es gibt keine Ideologien, keine Absichten, es gibt nur Projekte, reale Arbeits- und Lebenszusammenhänge.

 

Sind Sie Humanist?
Ja. Ich denke, wir sind alle Humanisten. Die Frage ist ja nicht: Warum sind wir böse, sondern: Warum tun wir Böses, obwohl wir gute Absichten haben? Warum leben wir in Strukturen, wo das Menschliche die Ausnahme ist?

 

Wie ist Ihr modernes Evangelium angekommen – beim Vatikan beispielsweise?
Wir haben mit dem Immigrationsministerium des Vatikans zusammengearbeitet. Die katholische Kirche unterstützt die Häuser der Würde finanziell. Wir hatten Kontakt mit Franziskus. Er fand den Film gut, konnte aber die «Revolte der Würde» nicht offiziell unterstützen, weil sie zu politisch ist. Für mich ist dieser Papst mit all seinen Widersprüchen ein absoluter Hoffnungsschimmer. Er predigt ein Evangelium der Armen.

 

Welches Verhältnis haben Sie zur Religion, zur Kirche?
Institutionen sind immer so gut wie die Leute, die dort arbeiten. Wir hatten sehr viel Glück in Italien, speziell in Süditalien, wo von der Kirche viel in der Flüchtlingshilfe unternommen wird. Ich habe viele Vorurteile abbauen können.

 

Wie geht es weiter mit dem Kino, dem Theater?
Eine Oper, im Streaming aufzuführen, wie jetzt in Genf, ist eine halbe Sache. Wir werden unseren Genfer «Titus» nun live an den Wiener Festwochen im Mai aufführen. Und wir hoffen natürlich, dass die Kinos bald wieder öffnen. Parallel probe ich an zwei neuen Stücken. Und jüngst wurden zwei neue Bücher von mir verlegt: «Grundsätzlich unvorbereitet. 99 Texte über Kunst und Gesellschaft», gesammelte Kolumnen, Verbrecher Verlag/Ex Libris 2021. Und «Vers un Réalisme global», L’Arche 2021.

 

 

Biographie in Stichworten 

Geboren am 25 Januar 1977 in Bern, aufgewachsen in St. Gallen
Vater zweier Töchter (11 und 14)
Wohnhaft in Köln
Studium der Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Zürich und Berlin
Autor von rund 50 Theaterstücken, Filme, Bücher, Aktionen.
Inszenierungen u.a. an der Schaubühne Berlin, Münchner Kammerspielen.
2007 Gründung der Theater-und Filmproduktionsgesellschaft IIPM (International Institute of Political Murder).
Seit 2018/19 Intendant des NTGent
Filmauswahl: «Die Moskauer Prozesse», Dokumentarfilm (2014)
«Das Kongo Tribunal», Dokumentarfilm (2015)
«Das neue Evangelium», Dok-Spielfilm (2020)

 

 

 

Schweizer Filmpreise 2021 online:
«Schwesterlein» stach alle Brüder aus»
rbr. Das kennt man seit Pandemie-Ausbruch: Konzerte, Kinos, Festivals und Preisverleihungen finden nur noch virtuell, sprich online statt. Die Ausnahme bildeten Kinoevents wie Fantoche in Baden und das Zurich Film Festival (ZFF), das übrigens in diesem Jahr Ende September schwerpunktmässig im frisch renovierten Kongresshaus über die Leinwände gehen soll.

Die diesjährige Quartz-Preisverleihung, also die Übergabe der Schweizer Filmpreise wurde in den Genfer RTS-Studios organisiert und als Live-Stream übertragen. Natürlich ohne Publikum. Die Geehrten und Gefeierten wurden zugeschaltet. Das machte vor allem den Preisträger, hauptsächlich den Preisträgerinnen Spass. Am meisten Freude hatte wohl das Regieduo aus Lausanne, Stèphanie Chuat und Véronique Reymond. Ihr Geschwisterdrama «Schwesterlein» sahnte gross ab mit fünf Quartz-Auszeichnungen. Ein Rekord. Der Schauspielerfilm, geprägt von den deutschen Stars Nina Hoss und Lars Eidinger, wurde von Ruth Waldburger produziert. Quartz-Trophäen also für den besten Film, das beste Drehbuch (Chuat/Reymond), beste Kamera (Filip Zumbrunn), beste Montage Myriam Rachmuth) und beste Nebendarstellerin (Marthe Keller).

 

Nebenfavorit «Platzspitzbaby» hatte das Nachsehen. Allein Sarah Spale («Wilder») kam in die Quartz-Ränge (beste Schauspielerin).
Milo Raus engagierte Dokumentarfilm mit Spielszenen, die freilich als solche deutlich zu erkennen und Bestandteil des Konzepts sind, wurde zurecht als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. «Das neue Evangelium» spannt den Bogen von der biblischen Geschichte bis in unsere Gegenwart, von Jesu Botschaft und Passion bis zu ausgebeuteten Flüchtlingen und Kleinbauern in Italien. Raus Film wartet noch immer auf den hiesigen Kinostart und wird ab 1. April online zu sehen sein (www.dasneueevangelium-film.ch).
Erstmals wurde die Arbeit am Ton ausgezeichnet: Peter Bräker erhielt ihn für den Dokumentarfilm «Nemesis» von Thomas Imbach. Weitere Filmpreise: Bester Kurzfilm «Deine Strasse» von Güzin Kar, beste Filmmusik «Burning Memories» von Alice Schmid, bester Abschlussfilm «Amazonen einer Grossstadt» von Thais Odermatt (Filmuniversität Babelsberg), Spezialpreis der Akademie für Linda Harper (beste Kostüme in «Von Fischen und Menschen», «Platzspitzbaby» und «Spagat»).
Der Ehrenpreis ging an die Schauspielerin Liselotte Pulver (91), die weit über Schweizer Grenzen bekannt und beliebt ist. Sie brillierte sowohl als «Gustav Adolfs Page», Räuberbraut («Wirtshaus» und «Spukschloss im Spessart») oder als eine der «Kohlhiesels Töchter»). Unvergesslich sind ihre Auftritte an der Seite von Sonnyboy Hannes Schmidhausen in den Franz Schnyder-Filmen «Uli der Knecht» und «Uli der Pächter». Die Pensionärin, die aus Bern zugeschaltet wurde, freute sich wie eine Schneekönigin und lachte wie einst im Mai.
Gesamthaft betrachtet, war die Quartz-Ausmarchung 2021 etwas dünn. Lag’s an Corona, dass die Männer schwach vertreten waren oder am femininen Zeitgeist und den starken Frauen? Man könnte sich ja auch seitens der Filmakademie überlegen, ob man nicht einen genderübergreifenden Filmpreis für Darstellung etablieren sollte angesichts mangelnder Kandidaten oder Kandidatinnen.
Die nächste Quartz-Verleihung ist für 25. März 2022 in Zürich angesagt, wenn dann der Virus samt Mutanten in der Asservatenkammer gelandet ist…

 

 

«Oscar 2021 – Chinesin übertrumpfte alle»

 

rbr. Hollywood feiert sich – wenn auch in kleinerem Pandemie-Rahmen. Die Verleihung der 93. Academy Awards fand in der Union Station von Los Angeles mit Schaltungen ins Dolby Theatre statt. Das erlesene Publikum (170 Personen statt wie üblich 3000), schön separat platziert, war über verschiedene Ebenen verteilt. Andere wurde wie in Corona-Zeiten üblich dazu geschaltet. Ein wichtiger Mann fehlte: Anthony Hopkins («The Father») glänzte durch Abwesenheit. Auffallend war die grosse Präsenz und Berücksichtigung von Frauen und Diversität der Ausgezeichneten.

 

Für einmal dominierte nicht die White Colour-Klasse. Absoluter Abräumer war das Roadmovie mit starkem Dok-Touch «Nomadland» der US-Chinesin Chloé Zhao, die übrigens in ihrem Heimatland China totgeschwiegen wird, wie verschiedene Zeitungen berichteten. Es gab dort auch keine TV-Übertragung – weder in Honkong noch in Peking oder sonstwo in China. «Nomadland» wurde mit drei Oscars ausgezeichnet (nominiert für sechs Oscars).

 
Die Gewinner
Bester Film: «Nomadland»
Beste Regie: Chloé Zhao für «Nomadland»
Beste Hauptdarstellerin: Frances McDormand für «Nomadland»
Bester Hauptdarsteller: Anthony Hopkins für «The Father»
Beste Nebendarstellerin: Yuh-jung für «Minari»
Bester Nebendarsteller: Daniel Kaluuya für «Judas and the Black Messiah»
Bester internationaler Film: «Druk/Drunk (Der Rausch)»
Bestes adaptiertes Drehbuch: Christopher Hampton und Florian Zeller für «The Father»
Bestes Originaldrehbuch: Emerald Fennell für «Promising Young Woman»
Beste Kamera: Erik Messerschmidt für «Mank»
Bestes Szenenbild: Donald Graham Burt und Jan Pascale für «Mank»
Bestes Kostümdesign: Ann Roth für «Ma Rainey’s Black Bottom»
Beste Filmmusik: Trent Reznor, Atticus Ross und Jon Batiste für «Soul
Bester Filmsong: «Fight for You» aus «Judas and the Black Messiah»
Bestes Make-up und beste Frisuren: Sergio Lopez-Rivedra, Mia Neal und Jamika Wilson für «Ma Rainey’s Black Bottom»
Bester Schnitt: Mikkel E. G. Nielsen für «Sound of Metal»
Beste visuelle Effekte: Andrew Jackson, David Lee, Andrew Lockley und Scott Fisher für «Tenet»
Bester Animationsfilm: «Soul» von Pete Doctor und Dana Murra
Bester Kurzfilm: «Two Distant Strangers» von Travon Free und Martin Desmond Roe
Bester Dokumentarfilm: «My Octopus Teacher» von Pippa Ehrlich, James Reed und Craig Foster
Bester Internationaler Film: «Druk/Drunk» von Thomas Vinterberg

 

 

«Und sie feiern doch: Oscar und Quartz»
Von Rolf Breiner

 

In Zeiten von Corona-Krisen sind Kinos wie andere Kultur- und Konzertstätten zum Nichtstun verurteilt. Gleichwohl lebt der Film und nistet sich quasi im Homeoffice ein – dank Netflix und anderen Streamingplattformen. Auch Festivals mussten andere Abspielmöglichkeiten und Medienkanäle suchen – von Solothurn bis Berlin.

Nun muss sich auch die «Olympiade der Filmkünste» mit Online-Shows begnügen. Am 25. April sollen die Oscar-Verleihungen an zwei Standorten in Los Angeles über die Bühnen gehen – im Dolby Theatre und Union Station – ohne Publikumspräsenz versteht sich. Grosse Hollywood-Kisten wie «Mulan» (Streamingdienst Disney +) oder «Wonder Woman 1984» fehlen bei den Nominationen, da sie nur phasenweise in den US-Kinos zu sehen waren und online angeboten wurden.
So führt die Liste der Nominierten die Netflix-Produktion «Mank» mit zehn Nennungen an, u.a. für bester Film, beste Regie (David Fincher), bester Hauptdarsteller (Gary Oldman) und beste Nebendarstellerin (Amanda Seyfried). Das schwarzweisse Biopic-Drama beschreibt den Kampf des Drehbuchautors Herman Mankiewicz um seine künstlerische Freiheit – im Dienste eines Orson Welles (Citizen Kane) – siehe Filmkritik. «Mank» lief letztes Jahr in unseren Kinos.
Ganz aktuell ist das Roadmovie «Nomadland» von Chloé Zhao, das am 8. April in unseren Kinos starten soll – wenn Staat und Corona es zulassen. Erzählt wird von modernen Nomaden in Amerika wie der verwitweten Fern (Frances McDormand), die mit ihrem Van auf Achse ist von Nevada bis Kalifornien. «Nomadland» wurde sechsmal nominiert (bester Film, beste Regie, beste Hauptdarstellerin, bestes adaptiertes Drehbuch u.m.), bereits ausgezeichnet mit Golden Globes und dem Goldenem Löwen in Venedig.
Ebenfalls sechsmal nominiert wurde das Drama «Father», eine Beziehungsgeschichte um den 80jährigen, dementen Anthony (Anthony Hopkins) und seine Tochter Anne (Olivia Colman). Ein Film, der unter die Haut geht (Premiere am ZFF), nominiert als bester Film. Auch die beiden Hauptdarsteller sowie die Autoren Christopher Hampton und der Schweizer Florian Zeller (adapted Screenplay) wurden nominiert. «Father» feierte wie «Nomadland am Zurich Film Festival Schweizer Premiere. Gut vertreten ist auch das Gerichtsdrama «The Trial of the Chicago 7» mit sechs Nomination (Netflix-Produktion) für bester Film, bester Nebendarsteller (Sacha Baron Cohen), bestes Originaldrehbuch (Aaron Sorkin), beste Kamera (Phedon Papamichael), bester Schnitt (Alan Baumgarten) und bester Originalsong («Hear My Voice»).
Bemerkenswert: Gleich zwei Frauen wurden für die beste Regie nominiert: Chloé Zhao («Nomadland«) und Emerald Fennell («Promising Young Woman»). Vor drei Jahren plädierte Gewinnerin Francis McDormand bei der Oscar-Verleihung für mehr Vielfalt und Frauenpräsenz. Das ist tatsächlich eingetreten. In den Schauspielerkategorien (20) finden sich neun Akteure/Akteurinnen nicht weisser Hautfarbe. Auffallend ist aber auch, dass im Oscar-Jahr 2021 fette 35 Netflix-Produktionen berücksichtigt wurden (2020: 24). Corona sei Dank!
Auch der Schweizer Filmpreis buhlt um Aufmerksamkeit. Die Verleihung soll am 26.März in den Genfer Studios RTS stattfinden, als Livestream (quartz.ch) über die Internetseiten von SRF, RTS und RSI live übertragen. Die 25 nominierten Filmwerke können über die Websites des Zürcher Filmpodiums vom 22. bis 28. März 2021 visioniert werden (der Vorverkauf läuft). In zwölf Kategorien wird der Quartz verliehen, neu wurde die Kategorie Bester Ton eingeführt. Ein Spezialpreis der Filmakademie ist mit 5000 Franken dotiert. Die Schauspielerin Lilo Pulver erhält den Ehrenpreis des Schweizer Films.
Mangels in Frage kommender Schauspieler ist diese Kategorie in diesem Jahr gestrichen worden. Die Auswahl 2021 ist klein, aber sehenswert. Die Filme sind bekannt und liefen teilweise in den Kinos, wenn auch corona-geschädigt. Der Filmpreis ist mit 15 000 Franken dotiert. «Atlas» von Niccolò Castelli feierte in Solothurn Premiere und wartet auf eine Kinoauswertung. «Mare» und «Platzspitzbaby» haben bereits einige Kinorunden gedreht. «Schwesterlein», dieses grossartige Schauspielerdrama mit Nina Hoss, Lars Eidingen und Marthe Keller wird vom Streamingdienst myfilm angeboten. Es hätte eine neue grössere Kinoauswertung verdient. «Wanda, mein Wunder» von Bettina Oberli wartet auf grünes Kinolicht.
Schweizer Dokumentarfilm: Diese Kategorie (mit 25 000 Franken dotiert) ist gewohnt bestens bestückt. Milo Raus moderne Passionsgeschichte «Das neue Evangelium» soll im April starten und ist zu favorisieren. Jean-Stéphane Brons «5 Nouvelles du Cerveau» vermittelt interessante Einblick in die Hirnforschung . Weiter nominiert wurden: «Il mio corpo» von Michele Pennetta, «Nemesis» von Thomas Imbach und «Saudi Runaway» von Susanne Regina Meures.
Zu wenig männliche Darsteller boten sich offensichtlich für eine Auswahl an, desto stärker stehen Frauen im Filmlicht und wurden nominiert (5000 Franken): Luna Mwezi und Sarah Spale in «Platzspitzbaby» sowie Rachel Braunschweig in «Spagat». Dieses Liebes- und Sozialdrama soll im April starten: Ein starker Film von Christian Johannes Koch, der intim und hautnah beschreibt, wie eine Mutter und Ehefrau fremdgeht und den Spagat versucht, ihre Familie, ihre Liebesbedürfnisse sowie den Liebhaber aus der Ukraine samt Tochter zu retten.
Die meisten Quartz-Nominationen verbuchten «Schwesterlein» mit 6 (bester Spielfilm, bestes Drehbuch, beste Nebendarstellerin, beste Kamera, beste Montage, bester Ton), «Platzspielbaby» mit 5 (bester Spielfilm, bestes Drehbuch, beste Darstellerinnen, beste Montage), «Mare» mit 3 (bester Spielfilm, bestes Drehbuch, bester Ton).
Die Auswahl Schweizer Spielfilme scheint eher mager. Einige wurden schlicht «übersehen» wie «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei» von Natascha Beller, «Jagdzeit» von Sabine Boss, «Sekuritas» von armen Stadler oder «Bis wir tot sind oder frei» von Oliver Rihs. Filme, die im März in Berlin reüssierten, fanden keine Berücksichtigung, Filme wie «Das Mädchen und die Spinne» von Ramon und Silvan Zürcher (Kinostart im Sommer) oder «La mif» von Fréderic Ballif. Auch das Teenagerdrama « Sami, Joe und ich» von Karin Heberlein (ausgezeichnet beim ZFF 2020) blieb im Abseits.
Der Kinostart von «Wanda mein Wunder», Eröffnungsfilm des ZFF 2020, wurde auf 2021 verschoben. «Spagat» von Christian Johannes Koch und «Das neue Evangelium» von Milo Rau hoffen auf einen Kinostart demnächst.
Fragen bleiben offen: Wann kann sich ein Schweizer Film für den Quartz nominieren? Spielen Produktionsjahr, Festival- oder Kinostart eine Rolle? Doch die wichtigsten Fragen lauten: Wann heben sich die Vorhänge in den Kinos wieder, wird das Publikum zurückkehren oder im Heimkino-Sessel hocken bleiben?

 

 

 

Filmtipps

Nomadland

rbr. Nomaden Amerikas. Wirtschaftskrisen oder persönliche Schicksalsschläge haben sie entwurzelt, ihnen den (materiellen) Boden unter den Füssen weggezogen. Sie leben auf Rädern – in Wohnwagen und Vans. Sie sind unterwegs von einem Job zum andern, von einem Parkplatz oder freiem Raum zum anderen. Die modernen Nomaden Amerikas: Menschen meistens über 60, die sich ein «normales» Leben nicht mehr leisten können. Die Journalistin Jessica Bruder war selber on the road, hat ihre Begegnungen und Erfahrungen im Sachbuch «Nomadland: Surviving America in the 21. Century» (Nomaden der Arbeit) niedergeschrieben (2017). Chloé Zhao hat dieses Material zum Drehbuch verbeitet und verfilmt. Zhao und Hauptdarstellerin Frances McDormand waren auch an der Produktion beteiligt.
Empire, ein öder Flecken in Nevada. Fern (McDormand) hat 2011 ziemlich alles verloren: Mann und Job und Lebenssinn. Sie verlässt die karge Behausung und steuert mit ihrem weissen Van neue Ufer an – von Nevada und South Dakota über Nebraska und Arizona bis Kalifornien. Sie jobbt zur Weihnachtszeit bei Amazon, verdingt sich als WC-Putzfrau im Badlands National Park oder anderswo als Restaurantgehilfin. Immer knapp am Lebenslimit. Fern trifft «Artgenossen», Nomaden wie Charlene Swankie, die zur letzten Reise nach Alaska aufbricht, oder Bob Wells, der aussieht wie ein Weihnachtsmann und der jährlich ein grosses Nomadentreffen in der Wüste organisiert, das Rubber Tramp Rendezvous (RTR). Bob, Charlene und Linda May sind echte Nomaden, die sich im Spielfilm «Nomadland» selber spielen.
Trotz einiger weniger Lagerfeuerszenen und geselligen Zusammenkünften, grossartiger Landschaftsaufnahmen (Kamera: Joshua James Richards) und unterschwelligem Gefühl von Freiheit ist Zhaos Roadmovie von niederschmetternden, melancholischem und wehmütigem Unterton geprägt. Dazu trägt auch die klassisch-moderne Musik von Ludovico Einaudi bei, die teilweise typische Countryklänge «überstimmt».
Man wollte mit diesem Film die landläufige Van- und Camper-Romantik entzaubern, meinte Frances McDormand in einem Gespräch. Sie bildet zusammen mit David Strathairn als David, der seine Nomaden-Existenz aufgibt und Fern einlädt, bei ihm zu bleiben, das professionelle Schauspielerpaar. Beide verschmelzen quasi mit den Nomaden, mit dem gesamten Laienensemble. «Nomadland» zeigt ungeschminkt und schonungslos die andere trübe Seite Amerikas: Menschen, die aus der Gesellschaft gefallen sind, nicht heimatlos, aber ohne Wohnadresse, «jagen den Horizont» (Chloé Zhao) und fühlen sich dank ihrer mobilen Untersätze frei. Und noch etwas zeigt dieser Film: Solidarität und Gemeinschaftsgefühl unter Menschen. Es bleibt ein Schimmer Hoffnung, wie ihn der Menschenfreund und -retter Bob Wells ausdrückt: «I never say good-bye, I say see you again down the road.» Es bleibt ein Schimmer Hoffnung, wie ihn der Menschenfreund und -retter Bob Wells ausdrückt: «I never say good-bye, I say see you again down the road.» Das eindringliche Countrybild «Nomadland» wurde in Venedig 2020 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet und hat gute Chancen im Oscar-Rennen und hat zwei Globes gewonnen: Bester Film, Beste Regie.

*****°

 

The Scent of Fear
rbr. Angst vor der Angst. Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann, vor dem bösen Wolf oder «Wer hat Angst vor Virginia Woolf?». Märchen, ein Bühnenstück von Edward Albee samt Verfilmung oder auch der Fassbinder-Film «Angst essen Seele auf» – sie alle befassen sich auf ihre Art mit der Angst. Furcht oder Angst ist die Frage? Die Thurgauerin Mirjam von Arx («Freifall») geht dem «Geruch von Angst» nach. Sie hat Menschen aufgesucht, die Ängste wahrnehmen und sich ihr stellen, sie vielleicht verdrängen oder mit ihr handeln. Sie beschreibt an konkreten Beispielen die Angst vor der Angst, auch Versuche, Angst zu überwinden oder ihr auf die Spur zu kommen.
Ein junger Koreaner besucht ein Seminar, das sich mit dem Tod auseinandersetzt. Er lässt sich probeweise auch mal einsargen. Kann man Erfahrungen mit dem Tod arrangieren und trainieren?
Die Extremsportlerin Evelyne Binsack macht sich mutterseelenallein auf dem Weg durch die Arktis. Da ist nicht nur die unendliche Weite bei minus 30 und mehr Grad, sondern auch die Angst vor Eisbären nachts im dünnen Zelt.
Ein Ehepaar hat sich in einen ehemaligen US-Militärbunker (South Dakota) eingenistet und vorgesorgt mit Proviant für Monate. Die Zwei sind selbstzufrieden und anscheinend angstsicher. Da kann kommen, was will.
Ein Wissenschaftler der New Yorker Universität, Joseph LeDoux, referiert kühl am Hörsaaltisch übers Gehirn und erläutert Unterschiede zwischen Angst und Furcht. «Wir fühlen nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Hirn», hört man.
Der Zürcher Peter Schneider, Psychoanalytiker und Kommentator, weist unter anderem auf die Vielschichtigkeit von Ängsten hin. Es gibt auch kollektive Ängste, denen Märchen vorbeugen sollen.
Mirjam von Arx hat das grosse Feld der Angst geschickt beackert. Kein Lehrstück, kein akademischer Vortrag. Ihr Film (Sprecherin: Katja Riemann!) bietet denkwürdige Einsichten und Impressionen – eben auch über den Geruch der Angst. Der Film kann Ängste zwar nicht verhindern, hilft aber, sie zu verstehen und ihr furchtlos zu begegnen.
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Sin señas particulares
rbr. Suche nach dem verlorenen Sohn. Anders als in der biblischen Geschichte vom verlorenen Sohn, geht es hier nicht um das Thema Heimkehr und Verzeihung, sondern um Verlorenheit. Teenager Jesús (Juan Jesús Varela) und sein Freund Rigo brechen von Mexiko auf, um in Amerika ihr Glück zu finden. Sie verschwinden spurlos. Die Polizei weiss nichts oder will nichts wissen. Und so macht sich Jesús‘ Mutter Magdalena (Mercedes Hernández), auf die Suche. Sie macht den Bus ausfindig, mit dem die beiden jungen Leute gereist sind. Busfahrer blocken, schweigen oder sind samt Bus verschwunden.
Irgendwo erzählt ihre eine treue Seele vom alten Mann Alberto Matteo, der wohl im selben Bus gereist ist wie Jesús und sein Weggefährte. Überfalle von Banditen, Vergewaltigungen, Ermordungen sind im mexikanischen Grenzgebiet an der Tagesordnung. Den Alten hat man halbtot zurückgelassen. Was passierte mit dem der Sohn?
Auf ihrer Suche begegnet die Mutter, die trotz allem die Hoffnung nicht aufgibt, dem Heimkehrer Miguel (David Illescas). Er hat vor Jahren seine Mutter verlassen hatte und nun den Ort seiner Kindheit aufsucht. Er findet das elterliche Haus verwaist vor. Mercedes nimmt ihn mit auf ihre Suche: Hat ihr Sohn überlebt?
Die Mexikanerin Fernanda Valadez realisierte ihren ersten Spielfilm, der am Zurich Film Festival 2020 mit dem Golden Eye ausgezeichnet wurde. Ein Drama über Suche und Verlorenheit, Emigration und triste Rückkehr, geprägt und geschaffen von Frauen (Regie, Buch, Kamera, Hauptdarstellerin). Es ist ein deprimierender Film, meistens in Grau- und Brauntöne getaucht, der Gewaltszenen nur schemenhaft andeutet, aber umso stärkere Wirkung erzielt. Es ist nicht die mexikanische Landschaft aus Ferienprospekten, welche Kulisse bildet, sondern staubiges Territorium, verlassen und irgendwie verdammt. Es herrscht teuflische Gewalt. Der Titel «Keine besonderen Merkmale» deutet an, dass hier Menschen, die verschwinden, kaum Spuren hinterlassen, untertauchen, untergehen. (Streaming: filmingo.ch)
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The Brain – Cinq nouvelles du cerveau

rbr. Mensch und Maschine. Wie kriegt man das menschliche Gehirn zu fassen? Was spielt sich ab, wie funktioniert diese unglaubliche Vernetzung, wie kommt es zu Entscheidungen? Ein Neuron ist mit 30 000 Neuronen vernetzt. Das Hirn oder auch Gehirn (lateinisch Cerebrum) ist das Steuerungszentrum unseres Nervensystems. Laut wissenschaftlichen Erkenntnissen beträgt die Länge aller Nervenbahnen eines Erwachsenen rund 5,8 Millionen Kilometer. Jean-Stéphane Bron («Mais im Bundeshuus» hat Erkundungen unternommen. Er beschreibt fünf Ansätze und Wege, die Forscher verfolgen, dem Phänomen beizukommen. Kann man das Gehirn kopieren, nachbauen? Kann eine Maschine den Menschen ersetzen, ihm den Rang ablaufen oder ihn gar übertrumpfen, wie es Stanley Kubrick 1968 meisterhaft in seinem SF-Film «2001: Odyssee im Weltraum» geschildert hat?
Vater und Sohn Pouget befassen sich mit künstlicher Intelligenz (KI). Alexandre P., der Vater, glaubt fest daran, menschliches Bewusstsein (Intelligenz) entwickeln und nachbauen zu können. Sein Sohn Hadrien, der in Oxford studiert, ist skeptisch und denkt einen Schritt weiter. Er macht sich Gedanken über Auswirkungen von KI. Was, wenn KI zum Selbstläufer wird und eher Angst denn Sicherheit bewirkt?
Christof Koch in Seattle weiss, dass sein Hund Ruby sterben wird und wünscht sich eine Kreatur, die ihn ersetzt. Kann er Felix (mit 120 Elektronen im Hirn) kopieren? Neurowissenschaftler Niels Birbaumer arbeitet in München und in Venedig. Er versucht, dem vollständig gelähmten Patienten Fabio mittels Computer-Interaktionen Kommunikationswege zu ermöglichen, und bringt Erstaunliches zustande.
David Rudrauf in Genf will Maschinen schaffen, die «frei» sind. Er, der werdende Vater, will keine neuen Kinder kreieren, aber doch Kreaturen mit künstlichem Bewusstsein ausrüsten. Aude Billard, Roboter-Spezialistin, lebt am Genfersee. Sie möchte Roboter mit menschlichen Fähigkeiten ausstatten.
Jean-Stéphane Bron beobachtet und beschreibt fünf Ansätze und Modelle, Ansichten und Haltungen. Es geht ihm um das Spannungsfeld von Natur und Künstlichkeit. Er meint: «Die Idee war, vom berechnenden Gehirn, das sich auf die Mathematik konzentriert, zur Hand, zur Geste zu gelangen, mit der Vorstellung, dass es keinen Gedanken ohne Handlung, oder keine Handlung ohne Gedanken gibt.» Sein denkwürdiger, höchst anspruchsvoller Film lotet die Spannbreite zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, Mensch und Maschine aus. Das ist nicht nur spannend zu sehen und zu erleben, sondern auch befremdlich und doch sehr wirklichkeitsnah, erschreckend und faszinierend zugleich.
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Antoinette dans les Cévennes

rbr. Bockig. Die Konstellation ist sehr bekannt und wurde zigmal in Filmen erzählt: Eine Frau liebt einen verheirateten Mann, doch der kann (und will) nicht von seiner Familie lassen. Tragisch? In Caroline Vignals Roadmovie zu Fuss, «Antoinette dans les Cévennes», entwickelt sich die Liebesgeschichte komisch und schräg. Die Lehrerin Antoinette (Laure Calamy) ist in Vladimir (Benjamin Lavernhe) verknallt und möchte mit ihm die Sommerferien verbringen. Doch der weicht aus und geht mit Frau und Tochter auf Tour. Die unglückliche Antoinette folgt ihm heimlich auf ein Esel-Trekking – auf den Spuren vom schottischen Schriftsteller Robert Louis Stevenson («Dr. Jekyll und Mr. Hyde»). Seine Wanderungen hat er im Buch «Travels with a Donkey in the Cévennes» festgehalten. So tippelt Antoinette also allein mit dem störrischen Esel Patrick auf diesem Weg in den Cévennen, wird von anderen Wandertouristen belächelt und trifft irgendwann tatsächlich auf ihren Geliebten Vladimir samt Familienanhang. Happy End? Nicht ganz so einfach, denn da spricht der bockige vierbeinige Begleiter ein Wörtchen (Laut) mit.
Caroline Vignals luftige Komödie «Mein Liebhaber, mein Esel und ich» unterhält charmant. «Herzkino» der leichten Art zum Schmunzeln und Schmelzen. Die idyllische Landschaft der Cévennen im südöstlichen Teil des französischen Zentralmassivs spielt wunderbar mit, und Esel Patrick wird zum wahren Liebhaber. Fazit: Der Weg ist das Ziel, und Liebe geht und Liebe kommt.

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Sweat

rbr. Vereinsamt. Sie heizt den Menschen vor Ort oder am Bildschirm ein, treibt sie zu rhythmischer Gymnastik und Schweiss, spornt an und glaubt, dass die, welche mitmachen, sich spüren und vielleicht etwas glücklicher werden. Sylwia (Magdalena Kolesnik) ist Fitness-Influencerin in Polen. Sie produziert sich, ist zu jedem Selfie bereit und stellt sich als Werbeträgerin aus. Eine hübsche Hülle eben. Wer wie Sylwia 600 000 Follower verbuchen kann, sollte eigentlich zufrieden sein. Doch sie ist einsam, würde gern in den Arm genommen werden, sich geborgen fühlen. Selbst bei einem Familienfest wird sie als schöner Fremdkörper betrachtet und beargwöhnt. Bei einem Barbesuch macht sie einen Mann an, animiert ihn, sie zu begleiten. Er hofft auf ein prickelndes Schäferstündchen, wird von Sylwia jedoch auf einen Stalker angesetzt, der vor ihrer Wohnung Nacht für Nacht wartet. Der vermeintliche Liebhaber weiss auch nichts besseres, als den stalkenden «Verehrer» brutal zusammenzuschlagen.
Der schwedische Filmregisseur Magnus von Horn hat im polnischen Łódź studiert und lebt in Warschau. Die Hauptstadt ist auch Schauplatz seines Psychodramas. Aktivitäten von Influencer in sozialen Medien sind ein höchst aktuelles Thema. Was treibt sie, was motiviert sie, was bewirken sie? Im Film «Sweat» ist zwar auch von Schweiss, Fleiss und Tränen die Rede, doch wesentliche Fragen werden nicht gestellt. Im Fokus steht Modell Sylwia und ihr Zuschaustellen. Es geht nur um ihre Gefühle, die hinter schönem Outfit versteckt werden. So bleibt «Sweat» ein intimer Ausflug in eine fragwürdige verlogene Scheinwelt. Das Drama ist oberflächlich wie Influencer-Botschaften und lässt Tiefe vermissen.
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to be continued

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