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«Weimar – Von Bauhaus, Bach, Goethe, Schiller und Cranach»

Von Marc Peschke

Schon auf dem Weg nach Weimar, von Unterfranken kommend, reihen sich Kunst und Kultur wie Perlen an einer Kette, die Theaterstadt Meiningen zuerst, dann das Städtchen und ehemalige Kurbad Ilmenau.

Doch wir lassen sie links liegen, denn Weimar im Freistaat Thüringen lockt. Schon viele Jahre waren wir nicht mehr in der Kleinstadt an der Ilm. Kleinstadt? Weimar hat etwa 65.000 Einwohner, doch der Ruf der Stadt strahlt überregional in die Welt.
Weimar ist eine der bedeutendsten Kunststädte Deutschlands: Goethe und Schiller lebten hier, Cranach und Bach, Wieland, Herder, Liszt, Berlioz und Richard Strauss, Nietzsche und Feininger, Gropius und Henry van de Velde – der Gründer der Großherzoglich-Sächsischen Kunstgewerbeschule, aus der später das Bauhaus wurde, das noch heute Studien anbietet.

 

Der belgische Architekt und Designer Henry van de Velde ist eine zentrale Figur. 1902 vermittelte ihn der einflussreiche Harry Graf Kessler als Berater für das thüringische Kunsthandwerk nach Weimar. Wir können sein Werk, seine Kunst, seine Möbel, Gebrauchsgegenstände und Raumgestaltungen an verschiedenen Orten erleben, wie etwa im Nietzsche-Archiv, im Museum Neues Weimar wie auch in seinem eigenen Wohnhaus, dem Haus Hohe Pappeln. Er entwarf das Hauptgebäude der Bauhaus-Universität Weimar und nebenan den nach ihm benannten Van-de-Velde-Bau. Beide dienen noch heute als Ort der Lehre. 4000 Studierende sind hier an dieser UNESCO-Welterbestätte eingeschrieben, welche die Stadt bis heute markant prägt. Weimar ist eine auffällig junge Stadt, über 40 Studiengänge gibt es.

 

Man sollte unbedingt beide Gebäude besuchen und echte Bauhaus-Luft schnuppern – hier entdecken wir sehenswerte Wandreliefs aus der DDR-Zeit, eine Skulptur von Rodin, Wandmalereien von Herbert Bayer oder auch ein Figurenrelief nebst Wandgestaltung von Oskar Schlemmer. Es ist ein mythischer Ort der Moderne, seit 1919 lehrten hier unter anderem Lyonel Feininger, Johannes Itten, Gerhard Marcks, Paul Klee, Oskar Schlemmer, Wassily Kandinsky, László Moholy-Nagy, Josef Albers und Adolf Meyer. Noch mehr Bauhaus gefällig? Das Musterhaus „Am Horn“, 1923 nach einem Entwurf von Georg Muche erbaut, lohnt ebenfalls einen Besuch. Und pünktlich zum 100-jährigen Jubiläumsjahr eröffnete 2019 das neue Bauhaus-Museum am Weimarhallenpark.

 

Geschichte, Kunstgeschichte, Kulturgeschichte

Hier in der Mitte Deutschlands, wurde Geschichte in all ihren Widersprüchen geschrieben. Kunstgeschichte, Kulturgeschichte und auch politische Geschichte. Hier im Deutschen Nationaltheater, wurde 1919 die Nationalversammlung einberufen. Ein erster Rundgang durch die Klassikerstadt, die unter Herzogin Anna Amalia und deren Sohn Carl August um 1800 einen sagenhaften Aufschwung erlebte, kann am Herderplatz starten. Die Herderkirche, die evangelische Stadtkirche St. Peter und Paul aus dem frühen 16. Jahrhundert, birgt einen eindrucksvollen Kreuzigungsaltar, entworfen von Lucas Cranach dem Älteren, ausgeführt von seinem Sohn.
 
Weimar war ein Zentrum der Reformation: auch Martin Luther ist auf dem Altargemälde dargestellt. Er hat hier in dieser Kirche gepredigt. Cranach zeigt ihn selbstbewusst, so gross wie Christus selbst. Die Kirche gehört gemeinsam mit dem Herderhaus zum UNESCO-Welterbe „Klassisches Weimar“. Und hier begegnen wir schon dem ersten der fabulösen Vier der Weimarer Klassik, dem Dichter, Philosoph und Aufklärer Johann Gottfried Herder, der gemeinsam mit Wieland, Goethe und Schiller in Weimar wirkte und hier 1803 verstarb.

 

Ein paar Schritte sind es zum Marktplatz mit seinen Gebäuden aus dem frühen 19. Jahrhundert, wie etwa dem neugotischen Rathaus, dessen Glocken aus Meissner Porzellan bekannte Melodien läuten. Gerade in den 1990er-Jahren, aber auch schon zu DDR-Zeiten wurde hier viel saniert. Die Stadt, die 1999 Kulturhauptstadt Europas war, wurde herausgeputzt. Weimar bietet viel: die Hochschule für Musik Franz Liszt, das Deutsche Nationaltheater, mehr als 30 Museen, Schloss und Park Belvedere, ebenfalls Teil des Weimarer Weltkulturerbes. Oder die Herzogin Anna Amalia Bibliothek und Schillers Wohnhaus, die 1998 ins UNESCO-Welterbe aufgenommen wurden.

Dazu noch Gartenfestivals, Konzerte, Theateraufführungen, Ausstellungen, das Kunstfest Weimar, ein internationales Theater-, Ballett- und Musikfestival mit Gastspielen aus aller Welt: In diesem Städtchen sind Kunst und Kultur nicht Beiwerk, sondern wichtigster Teil der DNA. Eine Kulturstadt von europäischem Rang.
 
Immer wieder fühlen wir uns nach Italien versetzt. Die Stadt ist voller kunsthistorischer und architektonischer Perlen: das Weimarer Stadtschloss mit seinem Rundturm, das im 18. Jahrhundert erbaute Wohnhaus Johann Wolfgang von Goethes, heute Goethe-Nationalmuseum, Schillers Wohnhaus, das Wittumspalais, Anna Amalias Witwensitz, das ehemalige Hofgärtnerhäuschen, in vielen Sommern bewohnt vom Komponisten Franz Liszt, der ebenfalls in Weimar wirkte, der historische Friedhof mit den Gräbern von Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Großherzog Carl August und seiner Frau Maria Pawlowna.
 
Politische Geschichte vermittelt das Haus der Weimarer Republik, wo die Ausstellung „Zwei Welten – eine Republik“ bis zum 29. September die Lebenswege der Reichspräsidenten Friedrich Ebert und Paul von Hindenburg in all ihren Gegensätzen erzählt. Zwei Männer an den Schalthebeln der Macht. Die Stadtgeschichte ist im Stadtmuseum Weimar erlebbar. Auch ein Museum für die Ur- und Frühgeschichte Thüringens gibt es. Und natürlich den weltberühmten Rokokosaal der Herzogin Anna Amalia Bibliothek im Grünen Schloss. Ebendort, im Renaissancesaal, präsentiert die Klassik Stiftung unter dem Titel „Cranachs Bilderfluten“ in einer Dauerausstellung die Kunst von Lucas Cranach dem Älteren, dem Jüngeren und ihrer Werkstatt. Die Schau „Sophie. Macht. Literatur“ stellt bis zum 15. Dezember im monumentalen Bau des Goethe- und Schiller-Archivs die Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach vor, Alleinerbin des handschriftlichen Nachlasses Goethes, Gründerin des ersten Literaturarchivs Deutschlands.
 
Die Ausstellung spannt den Bogen bis in die Gegenwart und fragt kritisch nach der Verbindung von Literatur und Politik. Erwähnt sei auch das Kirms-Krackow-Haus mit seinem Biedermeiergarten in der Jakobstraße. Es ist eines der ältesten Häuser Weimars und ein anmutiges Beispiel für die Wohnkultur der Goethezeit. Zu Gast waren hier etwa Franz Liszt, Johann Nepomuk Hummel oder Hans Christian Andersen. Ein Kleinod unter Kleinoden! Hier hat auch eines der schönsten der vielen Lokale in Weimar seinen Ort gefunden, das Café Lieblingsgarten.

 

Bauhaus und Ausstellungen
Immer wieder gibt es in Weimar hochinteressante Sonderausstellungen zu sehen, etwa „Bauhaus und Nationalsozialismus“. Die Jahresausstellung der Klassik Stiftung Weimar ist verteilt auf das 2019 eröffnete Bauhaus-Museum, das überaus lohnenswerte Museum Neues Weimar und das Schiller Museum: Es ist die erste Schau, welche sich den Verbindungen zwischen dem 1919 von Walter Gropius in Weimar gegründeten Bauhaus und der Nazi-Diktatur widmet. Zum ersten Mal werden Kontinuitäten deutlich. Die Schau folgt den Spuren der Bauhaus-Künstler im totalitären Herrschaftssystem: eine überaus komplexe politische Geschichte mit einer unbequemen Wahrheit, wie die Ausstellungsmacher betonen: «Eine innovative künstlerische Haltung allein, so zeigen die Schicksale vieler Bauhaus-Angehörigen, schützt noch nicht gegen die Verführbarkeit durch den Faschismus». Die Residenzstadt Weimar, von der UNESCO mehrfach geadelt (insgesamt sind es elf Weltkulturerbe-Stätten Klassisches Weimar und das in Weimar befindliche Bauhaus-Welterbe), ist zu jeder Jahreszeit eine Reise wert.

 

Zeitgenössische Kunst und Galerien

Wir begeben uns auf die Suche nach der Gegenwartskunst und werden fündig. Seit 1988 gibt es die ACC Galerie in Weimar bereits, ein Ort von besonderer Bedeutung für die Stadt, für ganz Thüringen, der weit über das Lokale hinaus strahlt. Die Ausstellungsräume des ACC sind in vier ehemaligen Wohnungen zweier miteinander verbundener Renaissance-Wohnhäuser beherbergt. In einem davon lag Goethes erste Wohnung in Weimar. Und ein Galerie-Ort, der selbst Geschichte geschrieben hat. Werke des französischen Künstlerpaars Pierre et Gilles waren schon 1996 hier zu sehen, auch Schöpfungen des Bauhaus-Lehrers Paul Klee wurden ausgestellt. Wichtig ist auch das „Internationale Atelierprogramm“, das für Austausch und neue Befruchtung sorgt. Es ist, betonen die ACC-Macher, das einzige seit den frühen 1990ern konstant betriebene Artist-in-Residence-Programm in Thüringen.
Eigentlich ist die Galerie ACC keine Galerie, sondern ein Kunstverein, dem schon der „Preis für Kunstvereine“ der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine verliehen wurde. Als „Hort der Gegenwartskunst“ sieht sich ACC: Man veranstaltet Lesungen, Konzerte und Vorträge. Auch ein Restaurant-Café mit empfehlenswertem wechselndem Mittagstisch und Übernachtungsmöglichkeiten gibt es hier.

 

Weiterhin sehenswert sind die Ausstellungen der Galerie Eigenheim, die im Gärtnerhaus des Weimarhallenparks residiert. Auch hier finden neben Solo- und Gruppenausstellungen Konzerte und Lesungen statt. Man versteht sich als „Schnittstelle zwischen Hochkultur und Subkultur“, als „Multifunktionsraum“ und organisiert ebenfalls ein jährliches Residenzprogramm für Künstler und Künstlerinnen.
Einen Besuch lohnt auch die Galerie Profil Weimar, die bereits 1990 gegründet wurde. Ausgestellt werden Malerei, Grafik und Skulptur zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion.
In der Ausstellung „Deutschstunde“ wird Olaf Metzel, der 1952 in Berlin geborene documenta-Teilnehmer, bis zum 1. November Schloss Belvedere und das Liszt-Haus bespielen und Fragen stellen: „Was lernen wir aus der Geschichte? Lernen wir tatsächlich etwas daraus für die Gegenwart? Und wer ist überhaupt dieses Wir?“ Am 22. November, wird die Schau „Caspar David Friedrich, Goethe und die Romantik in Weimar“ im Schiller Museum eröffnet (https://www.klassik-stiftung.de/schillermuseum/wechselausstellungen/).

 

Gastronomie à la carte
Wir durchstreifen die Weimarer Gassen und Plätze, das Angebot an Bars, Restaurants und Cafés ist grandios, es gibt eine hervorragende Gastronomie, ergänzt um Clubs und Kneipen wie etwa den C.Keller & Galerie direkt am Marktplatz, wo Konzerte und Ausstellungen stattfinden. Oder die kleine Henry’s Bar unweit des autonomen linken Zentrums Gerberstraße 3, wo wiederum inmitten der Klassik-Stadt am frühen Sonntagabend Black-Metal-Bands aufspielen. Das Angebot thüringischer Restaurants mit viel Tradition und Flair ist gross, wir entscheiden uns für das historische „Siechenbräu“, können aber auch den „Weißen Schwan“ empfehlen. Auch das „Mascha“ ist ein besonderer Ort, ein kulturelles Zentrum ebenfalls im Herzen der Altstadt, direkt neben dem Goethe-Schiller-Standbild am Theaterplatz. Hier kann man Konzerte erleben, Diskoabende, Theateraufführungen und Stand-up-Comedy. Auch das Kulturzentrum und Kommunale Kino Mon ami lohnt unbedingt einen Besuch.

 

Auf dem Ilmradweg lassen sich Kultur- und Naturschönheiten gleichermaßen erfahren: Bei herrlichstem Wetter radeln wir zu Goethes Gartenhaus im Ilmpark und nach dessen Besichtigung weiter nach Oberweimar, wo das Bienenmuseum lockt. Unterwegs passieren wir die Villa Haar, die nach dem Vorbild der Villa d’Este in Tivoli im Stil der Neo-Renaissance gebaut wurde. Am nächsten Tag geht es auf dem Radweg in die andere Richtung, durch den romantischen Tiefurter Schlosspark, vorbei an Schloss Kromsdorf und Schloss Denstedt zum Wielandgut in Oßmannstedt. Das Wielandgut in Oßmanstedt war der Ort, an dem Christoph Martin Wieland von 1797 bis 1803 lebte. Ein barockes Gutshaus und auch hier wieder ein prächtiger Park. Die historischen Wohnräume sind nun ein Museum, das sich darum bemüht, Wieland als ersten Schriftsteller der Moderne zu präsentieren, denn, so die Ausstellungsmacher, nach dem Dreißigjährigen Krieg war jede literarische Tradition in Deutschland abgebrochen. Die Literatur begann neu, unter anderem mit Wieland, der den deutschen Bildungsroman begründete. Arno Schmidt wurde im 20. Jahrhundert sein grösster Fan und Wiederentdecker.
 
Ein lohnendes kleines Spezialmuseum, das ebenfalls der Klassik Stiftung angegliedert ist. Wir radeln, wo einst Lyonel Feininger radelte und zeichnete. Wie etwa die Kirche des idyllischen Tiefurt. Seit 1906 arbeitete Feininger in Weimar und erkundete mit seinem damals hochmodernen Sportfahrrad das Weimarer Land und zeichnete. Diese Skizzen wurden später die Grundlage seiner grossen, weltbekannten Gemälde. 1919 wurde er von Walter Gropius zum ersten Meister des neugegründeten Weimarer Bauhaus berufen und blieb bis zu dessen Auflösung im Jahr 1925 hier.
 
Zurück im Park an der Ilm, der grünen Oase am Rand der Weimarer Altstadt: Dieser Landschaftspark wurde 1778 bis 1828 angelegt – unter der Mitwirkung Goethes, dem das weltberühmte Gartenhaus von Herzog Carl August im Jahr 1776 geschenkt wurde. Damit wurde der gebürtige Frankfurter Goethe im Alter von 26 Jahren Weimarer Bürger und blieb es bis zu seinem Tod 56 Jahre später.

 

Bildlegenden: 1) Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar  2) Römisches Haus  3) Schloss Belvedere  4) Goethes Wohnhaus in Weimar  5) Schillerhaus Weimar  6) Haus der Weimarer Republik  7) Cranach-Altar in der Herderkriche  8) Bauhaus-Mseum Weimar  9) Bauhaus  10) Nietzsche-Archiv in Weimar  
 
Links:

www.weimar.de
www.klassik-stiftung.de
www.klassik-stiftung.de/forschung/sammlungen-bestaende/sammlung/van-de-velde-henry

 
 
Marc Peschke, 1970 geboren, Kunsthistoriker, Kulturjournalist und Künstler, lebt in Wertheim am Main, Wiesbaden und Hamburg. Er hat in Mainz Kunstgeschichte, Komparatistik und Ethnologie studiert. Seitdem schreibt der gebürtige Offenbacher unter anderem über Bildende Kunst, Fotografie, Fotokunst und Popmusik. Gelegentlich arbeitet er auch als freier Kurator. Seit 2008 zahlreiche eigene Ausstellungen im In- und Ausland. Seit 2020 ist Marc Peschke unter dem Namen MASCHERA auch wieder als Musiker aktiv. www.marcpeschke.de

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