Emanuel Christ & Christoph Gantenbein «Bilder aus Italien» Scheidegger & Spiess, Zürich 2012
Emanuel Christ & Christoph Gantenbein
Auszug aus dem Buch Seite 22/23
Auszug aus dem Buch Seite 26/27
Auszug aus dem Buch Seite 45
Auszug aus dem Buch Seite 46/47
Auszug aus dem Buch Seite 64/65
«Bilder aus Italien»
Von Emanuel Christ. Christoph Gantenbein
Die Bilder aus Italien waren unser erstes architektonisches Projekt. Sie entstanden 1999 während einer sechswöchigen Italienreise. Wie jedes andere architektonische Projekt haben wir es so verinnerlicht, dass unsere Identität als entwerfende Architekten von diesen Bildern grundlegend geprägt ist.
Wir sind überzeugt, dass ein Entwurf nicht eine Schöpfung aus dem Nichts ist. Kreativität bezieht sich immer auf etwas Vorhandenes Sie reibt sich an dem, was es schon gibt. Das, was vor uns entstanden ist, können und müssen wir uns aneignen, indem wir es studieren und begreifen. Eine Form des Studierens und Begreifens ist die Abbildung. In diesem Sinn war unsere scheinbar klassische Bildungsreise genau genommen eine „Abbildungsreise“ mit dem Ziel zu lernen und zu begreifen. In unseren seither entstandenen Bauten hat sich der architektonische Inhalt der auf der Reise entstandenen Bilder zwingend in irgendeiner Form niedergeschlagen.
Denn die Bilder, beziehungsweise ihr architektonischer Inhalt, sind Teil unseres Fundus geworden. Mit anderen Worten: Was wir unter Architektur verstehen, wurde massgeblich auf dieser Reise geprägt.
Warum Italien
Eine Reise nach Italien zu machen, könnte man freilich für einfallslos halten, oder aber als rückwärts gewandtes, klassizistisches Manifest interpretieren. Für einfallslos deshalb, weil die Architektur Italiens bekannt zu sein scheint. Sie ist millionenfach bereist, beschrieben, studiert und dokumentiert. Sie ist auf den ersten Blick keine persönliche Entdeckung, kein originelles Konzept, wie eine Reise zu spezifischen Zielen in architektonisch wenig erforschten Kulturkreisen. Als klassizistisches Manifest deshalb, weil sie durch grosse klassische Namen wie Goethe und Schinkel besetzt ist. Die Bildungsreise war ein fester Topos in der akademischen Bildung gerade auch des abendländischen Architekten.
Für eine umfassende Bildungsreise kann Italien als Ziel heute unmöglich genügen. New York, São Paulo, Delhi oder auch Hong Kong müssen ebenso Stationen einer zeitgenössischen, globalisierten Bildungsreise sein. Die Kenntnis dieser Städte und ihrer Architekturen ist heute grundlegend für das Verständnis unserer Welt. Deshalb trifft in unserem Fall beides nicht zu. Wir suchten weder das Naheliegende, noch lag uns etwas an der Konvention der klassischen Bildungsreise. Wir hatten die Absicht, historische Architektur mit dem für unsere Zeit aktuellen Blick, gleichsam ahistorisch, zu betrachten. Es ging uns ausschliesslich um das architektonische Potential für eigene, zeitgenössische Projekte. Weder Kunstgeschichte noch Retrohaltung waren also der Antrieb.
Es war das zeitlos Architektonische schlechthin, das wir in Italien vermuteten.
Die Reise
Eine lange Liste beschrieb unsere Reiseroute vom Nordosten Italiens bis an den Golf von Neapel. Sie umfasste weit über hundert Bauten, darunter hauptsächlich Bauten der Renaissance von Alberti, Michelangelo, Vasari, Palladio, Raffael und Giulio Romano. Die römische Antike, vor allem aber die frühchristliche Monumentalarchitektur in Ravenna und Rom, war ein weiterer Schwerpunkt. Die rationalistische Architektur der 1920er- und 1930er-Jahre haben wir nur vereinzelt und sehr gezielt aufgesucht: die Ferienkolonie in Cattolica und die Bahnhöfe in Florenz, Siena und Rom. Bauten der Nachkriegsmoderne hingegen haben wir nur beiläufig besucht. Dies ist kein Zeichen von Desinteresse, sondern vielmehr eine notwendige Priorisierung, und Ausdruck der Vermutung, dass in der Antike, dem Mittelalter und der Renaissance grundsätzlichere Architekturen entstanden sind.
Und diese haben wir gefunden. Weniger in den nach systematischer Perfektion strebenden Bauten Bramantes und Palladios als in jenen, die einmalig und absichtsvoll sind. Entweder, weil sie von ihrem Entwerfer so konzipiert wurden, oder weil der Kontext und die Geschichte in ihnen ihre Spuren hinterlassen haben. Noch mehr haben wir das Architektonische in den fragmentarischen, ruinenartigen oder wirklich ruinösen und damit die entwerfende Fantasie beflügelnden Bauten entdeckt wie etwa in Raffaels Villa Madama in Rom oder dem von uns als „Haus des Archäologen“ bezeichneten Konstrukt, das aus den römischen Ruinen des Palatin wächst.
Erlebnis
Architektur ist durch Medien nicht richtig vermittelbar. Nur in der Unmittelbarkeit der physischen Begegnung kann sie wirklich wahrgenommen werden. So ist der Kontext, der Weg zum Ort, unabdingbar für das Verständnis jedes Projekts; denn erst im Kontext ist die Geschichte, die es erzählt, verständlich. Dazu gehören Realitäten, die in der Darstellung verloren gehen: Viele von Palladios Villen etwa sind Bauernhöfe, aufs Engste mit der Landwirtschaft verbunden. Die intellektuelle Konzeption, diese Villen als antike Tempel in die Landschaft zu setzen, entwickelt erst in diesem Erlebnis ihre Kraft. Man muss die Realität, die Gebautheit, die Konstruktion, die Funktionalität, all das, was der idealen Form oft entgegen steht, erleben, um die poetische Qualität einer solchen Idealarchitektur zu begreifen.
Die Bilder
Das Bild ist selbst architektonisches Objekt: Zwar bildet es ein Haus, eine Konstruktion, einen Ort oder eine städtebauliche Situation ab. In der Art der Abbildung ist es aber nicht die Darstellung einer existierenden Architektur, sondern eine Sicht auf diese. Es gibt der Erfahrung eines Orts oder einer Architektur eine Form. Damit ist es das Dokument eines entwerfenden Akts. Eine vorgefundene Realität wird durch das Schaffen eines subjektiven Bildes in eine eigene Architektur überführt. Durch das Bild findet die Aneignung statt.
Daher sind unsere Bilder nicht nur Dokumente einer italienischen Architektur, sondern vor allem auch ein eigenes Projekt, der Entwurf einer eigenen Architektur. Unsere Entwürfe und Bauten sind von diesen Bildern teilweise sehr stark geprägt – nicht direkt von den Architekturen, die wir besucht haben, sondern eben von deren Aneignung über das Bild.
Diese Bilder haben sich bis heute erstaunlich genau in unser Gedächtnis eingeprägt.
Eigene Projekte
In unserem Büro sind seither zahlreiche Projekte entstanden. Allen diesen Projekten ist irgendwo ein Bild aus Italien eingeschrieben. Meist in einer allgemeinen Form. Denn die persönlichen Bilder und Bilderinnerungen müssen sich natürlich bis zu einem gewissen Grad verallgemeinern lassen, damit sie für die eigene Arbeit verfügbar werden. Wir wollen sie nicht direkt reproduzieren, sondern übersetzen sie in Entwurfsideen, in ein architektonisches Vokabular oder in entwerferische Strategien: der seine Masse und Plastizität inszenierende architektonische Körper, das isolierte Objekt in der Landschaft, die einsame Öffnung in der Wand, die überraschende Materialität einer Oberfläche, das die Architektur überformende und verändernde Ornament, extreme Proportionen, die Ordnung und ihre gezielte Zerstörung… Weitere wesentliche Themen sind die Abstraktion, das Fragmentarische oder das Zufällige. In den in diesem Buch versammelten Bildern unserer Architektur müssen diese Themen demnach wiederzufinden sein. Die Schwarz-Weiss-Fotografien stammen von verschiedenen Fotografen. Alle haben versucht, die charakteristischen Eigenschaften der Gebäude zu zeigen.
Ihre fotografische Sprache ist unterschiedlich, so wie auch die architektonischen Objekte unterschiedlich sind. Die Bilder haben dabei nicht den Anspruch, das jeweilige Projekt in seiner Ganzheit zu erklären. Sie sind vielmehr so ausgewählt, dass sie die architektonische Essenz eines jeden Entwurfs ins Bild setzen.
Gegenüberstellung
Mit der Gegenüberstellung der beiden Bildserien unternehmen wir in diesem Buch das Wagnis, die Bilder in eine direkte Beziehung zu setzen. Sie erlaubt, über die unmittelbare Wirkung eines Italienbildes auf sein Gegenüber zu spekulieren. Dabei sind wir uns der vielen möglichen Missverständnisse bewusst und nehmen sie gerne in Kauf. Denn es geht uns um etwas anderes: einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Italien und Projekt gibt es nicht. Dieses Buch soll unser grundsätzliches Architekturverständnis und keine architektonische Genealogie unserer Projekte darstellen.
Im Nebeneinander der Bilder wollen wir die Kontinuität des Architektonischen zum Ausdruck bringen. Architektur bleibt Architektur. Sie wird immer wieder neu entworfen, nie aber wirklich neu erfunden. An gewissen Stellen inszenieren wir durch die Bildpaare geradezu die Permanenz einzelner architektonischer Motive, die immer gleichen Themen, die in immer neuen Formen wiederkehren. In anderen Fällen ist diese Brücke vom einen Bild zum anderen weniger stark; hier wird eher ein gemeinsames Thema angesprochen. Oder eine nicht ausgesprochene Erinnerung an ein Bild, die das Projekt in einem entscheidenden Moment beflügelt haben mag. Das wird uns aber erst jetzt beim erneuten Betrachten wieder bewusst.
Die einander gegenübergestellten Bilder sind jeweils gleichwertig und gleichzeitig. Und das ist das Entscheidende:
Es geht uns um die Simultaneität der beiden Bildergruppen. Nicht das biografische Hintereinander, sondern das Nebeneinander und die Gleichzeitigkeit sind das, was für uns von Interesse ist. Denn in dieser Gleichzeitigkeit liegt das Zeitlose. So gesehen sind die Bilder alle gleich aktuell und nicht historisch – und somit im übertragenen Sinn auch alle «Bilder aus Italien».
Emanuel Christ & Christoph Gantenbein
«Bilder aus Italien»
Scheidegger & Spiess, Zürich 2012
66 S., geb., Grossformat
CHF 45.00 / GBP 35.00 / USD 55.00 /
EUR 38.00. d/e
ISBN 978-3-906027-00-5
Bekannt wurde das Basler Architekten-Duo Christ und Gantenbein 2002 mit ihrem expressiven Erweiterungsbau für das Landesmuseum Zürich, der die Jury überzeugte.
Beim Wettbewerb für die Erweiterung des Basler Kunstmuseums überrundeten sie die internationalen Konkurrenten. Seit zwei Jahren lehren Christ & Gantenbein als Professoren an der ETH Zürich und plädieren dort für die Relevanz der Architektur.
Das Architekturbüro Christ & Gantenbein wurde 1998 von Emanuel Christ und Christoph Gantenbein gegründet und arbeitet mit einem Team von rund 40 Architekten in Basel. Neben dem Geschäftshaus UNO am Bahnhof Liestal wurde, ebenfalls im Rahmen einer Quartiersentwicklung, auch das Wohn- und Geschäftsgebäude VoltaMitte in Basel erbaut. Das Spektrum der Arbeiten von Christ & Gantenbein umfasst Neubauten von Wohn- und Bürogebäuden, Sanierungen sowie Studien zur städtebaulichen Strukturierung und Neuordnung. Die Projekte werden regelmässig mit Preisen ausgezeichnet und in der Schweiz, Grossbritannien, Mexiko und China realisiert. Neben ihrer praktischen Tätigkeit lehren Emanuel Christ und Christoph Gantenbein an verschiedenen Hochschulen, wie u.a. an der Accademia di Architettura in Mendrisio.
Im Verlag Scheidegger & Spiess sind zudem folgende Bücher erschienen:
[Not a valid template]
Katrin Eberhard
Heinrich Graf
Bauten Projekte Interieurs
Das umfangreiche zukunftsgerichtete Schaffen des Architekten Heinrich Graf wird in diesem Buch erstmals mit einer Fülle an Bildmaterial vorgestellt: In den Nachkriegsjahren entwarf und realisierte er fantastisch anmutende Wohnsiedlungen, Kirchen, Schulen und Einkaufszentren, dann zahlreiche Projekte in der St. Galler Altstadt und daneben zeitgemässe Möbelentwürfe und Innenausstattungen.
Scheidegger & Spiess, Zürich 2011
Gebunden
160 Seiten, 67 farbige und 164 sw Abbildungen,
106 Pläne, 22,5 cm x 27 cm
CHF 69.00 | € 63.55 (€ 68.00)
978-3-85881-337-4
Michael Hanak, Hannes Henz, Ruedi Weidmann
Bahnhof Aarau – Chronik eines Baudenkmals
Die vorliegende Publikation ist der vierte Band der Reihe «Architektur- und Technikgeschichte der Eisenbahnen in der Schweiz». Sie will auf den kulturhistorischen Wert von Bauten in der Schweiz aufmerksam machen, die im Zusammenhang mit der Eisenbahn entstanden sind. Dieser Teil des baulichen Erbes ist vergleichsweise wenig bekannt. Die Reihe berücksichtigt Architektur ebenso wie Ingenieurbauten, technische Einrichtungen oder Werke bildender Künstler. Sie kann aus dem reichen Fundus an grösstenteils unveröffentlichten Fotografien und Plänen im Archiv von SBB Historie schöpfen.
Herausgegeben von der SBB-Fachstelle für Denkmalschutzfragen und der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK
Scheidegger & Spiess, Zürich 2011
136 Seiten, 64 farbige und 80 sw Abbildungen, 62 Pläne, 2 Übersichtskarten. Leinen, gebunden. Format 22 x 27 cm.
CHF 59.00 | € 54.21 (€ 58.00)