FRONTPAGE

«Adolf Muschg: Der weisse Freitag»

Von Ingrid Isermann

 

 

Adolf Muschg interpretiert den «weissen Freitag«, die Wette Goethes mit seinem Schicksal, als Gegenstück zu Fausts Teufelswette und zugleich als Kommentar zum eigenen Schicksal eines älteren Mannes, der mit einer schweren Krankheitsdiagnose konfrontiert wird.

Angesichts weltweiter Fluchtbewegungen und einer gleichzeitig digital eng verflochtenen Welt findet er aktuelle Koinzidenzen, die vom Umgang mit dem Risiko handeln, denen der Mensch ausgesetzt ist, der die Naturgewalten nicht beherrschen kann.

Muschg hat mit dieser Analogie zweier Reisen ein sehr persönliches Buch und Bekenntnis geschrieben, im Wissen um die Endlichkeit menschlicher Bestrebungen.

 

Goethes zweite Schweizer Reise 1779 hätte gut die letzte des damals Dreissigjährigen sein können, und der «Werther» sein einziges bekanntes Werk. Denn das Risiko einer neunstündigen Fusswanderung über die Furka im November durch Neuschnee war unberechenbar. Aber der frisch ernannte Geheimrat hatte es auf den kürzesten Weg zu seinem heiligen Berg, dem Gotthard, abgesehen, seinen acht Jahre jüngeren Landesfürsten Carl August mitgenommen und alle Warnungen in den Wind geschlagen.

 

Leseprobe:

Die Höhe Der Gletscher stürzte scheinbar unaufhaltsam von oben, die Klippen an seiner Stirn standen wie gefrorene Gischt, und aus Spalten und Klüften zündete ein unirdisches Vitriolblau. Aber der Strom war erstarrt, und gut ließ sich erkennen, wo wieder fester Boden begann. Hier hatte sich frischer Schnee auf ein Durcheinander rundgeschliffener Felsblöcke gesetzt, zwischen denen der Abfluß, den Augen verborgen, nur dem Ohr vernehmbar, seinen überstürzten Weg in die Tiefe suchte.
Nach dieser Seite lag das große Tal in stumpfem Grau. Da waren sie hergekommen und, ohne innezuhalten, auf dem Hang dem Gletscher gegenüber weitergestiegen. Sie waren ein kleiner Zug von Menschen, der sich so langsam entfernte, daß sie kaum von der Stelle zu rücken schienen. Bewegung war nur am wechselnden Abstand zwischen ihnen auszumachen und am anhaltenden Versuch, ihn wieder zu schließen. Dabei verschwanden ihre Körper immer wieder in den Schneeweben, die der beständige Wind über die ansteigende Fläche trieb, so daß sich ihre Ränder zum Himmel aufzulösen schienen. Erst gegen den Zenit wurde er hell wie Glas.
Es waren fünf. Sie rückten von der Stelle, als wären ihnen die Füße abgeschnitten, und der vorderste, breiter als die übrigen, schien immer wieder im Boden zu versinken, dennoch ging er regelmäßig wie ein Uhrwerk. Der nächste, der eine unförmige Last trug, blieb ihm dicht auf der Spur, nur daß er sich manchmal umwandte, um nach dem dritten zu sehen, der seinerseits Die Höhe bemüht schien, die Reihe nicht abreißen zu lassen. Denn der letzte der fünf wollte immer wieder zurückfallen, und der vierte, klein, aber stämmig, hatte ihn am Arm gefaßt, um ihn weiterzuziehen. Schließlich tauschten sie den Platz, und immer wieder hätte ein Betrachter den Kleinen den Größeren schieben sehen und sich wundern können, warum der Führer des Zugs den strengsten Weg gewählt hatte. Er hätte den Anstieg mit einem Bogen hie und da erträglicher machen können, aber der neue Schnee zeigte an, daß er locker saß und seine Unterlage jederzeit, durch Abrutschen breiter Lagen, freilegen konnte. Unter diesen Umständen war die steile Naht, welche die Berggänger geradewegs in die Fallinie zogen, die am wenigsten gefährliche Spur, dabei alles andere als gefahrlos, wie die rieselnden Schollen anzeigten, welche sie immer noch lostraten.
Ein Beobachter der Gruppe konnte nur hoffen, daß dies das heikelste Stück ihres Weges war, daß der Schnee weiter oben fester wurde, der Wind mäßiger, die Kälte erträglich; daß Stiefel und Gamaschen haltbar waren, eine gestrickte Halsbinde als Schutz für Gesicht und Ohren ausreichend, die Kräfte unerschöpflich.
Aber diesen Beobachter gab es nicht. Die Gruppe war allein mit dem Hochgebirge, am 12. November 1779, ihrem weißen Freitag, und gewarnt wäre sie genug gewesen. Noch unter dem Gletscher hätten sie umkehren können. Als sie aufbrachen, im letzten Dorf des Tals, war der Himmel noch klar gewesen, aber um diese Jahreszeit trügt das Wetter im Hochgebirge immer, gleich in welchem Jahrhundert. Aber da war einer in dieser Gesellschaft, der wollte über den Berg, auch bei Lawinengefahr, wollte nicht Gott versuchen, sondern sein Glück.
Waren jetzt auch die vorderen, die Führer, stillgestanden? Oder meinte man nur Stillstand zu sehen, wo bereits die weiße Einöde überhandgenommen hatte? In den Schleiern, die den Horizont unscharf machten, begann die Menschengruppe zu schwimmen und verflüchtigte sich im lichten Dunst. War sie immer noch unterwegs, wohin? Und würde sie dort je ankommen?
Geht’s wieder Männe?
Es muß, Durchlaucht.
Letztes Jahr um diese Zeit, hinter Stützerbach, lag auch viel Schnee, da haben wir immer noch gejagt.
Aber das nahm auch mal ein Ende. Dieser Berg ist ein Scheißer. Laß das Herrn Weber nicht hören.
Dem ist sein Leben egal.
Was fällt dir ein!
Ich hab sein Buch gelesen.

 

 

Adolf Muschg, geboren 1934 in Zürich, war u.a. von 1970-1999 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH in Zürich und von 2003-2006 Präsident der Akademie der Küste Berlin. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis, dem Grimmelshausen-Preis und zuletzt dem Grand Prix de Littérature der Schweiz.

 

 

Adolf Muschg

Der weisse Freitag

Eine Erzählung

C.H. Beck Verlag München, 2017

Geb., 251 S.,

€ 22.95 (D). €23.60 (A). E-book € 18.99.

 

 

«Wir waren fünf. Bildnis der Familie Mann»

 

Quasi als literarischen Quereinsteiger wollte sich der jüngste Bruder Heinrich und Thomas Manns noch vor Vollendung seines Erinnerungsbuches selbst vorgestellt sehen. Und doch beweist «Wir waren fünf», dass Viktor Mann mit seinen ganz anderen Voraussetzungen, mit seiner gleichwohl grossen, humorvollen Erzählergabe Teil jener erstaunlichen Familie ist, in der das Schreiben ein «erbliches Laster» war.

 

Seit seinem Erscheinen im Jahre 1949 hat sich «Wir waren fünf» als ein Standardtitel der Mann-Literatur bewährt, wiewohl über Viktor Mann so manch absprechendes Urteil gefällt wurde. Die vorliegende Neuausgabe versucht in ihrem Nachwort eine korrigierende Perspektive und zeigt auf, was am jüngsten der Mann-Brüder im Sinne einer gerechteren Einschätzung seiner Person gut zu machen bleibt.

Die komplett überarbeitete und erweiterte Neuausgabe des auto- und familienbiografischen Erinnerungsbuches von Viktor Mann, 1949 erstmals im Südverlag erschienen, enthält ein würdigendes Nachwort von Manfred Bosch, einen ausführlichen Anhang und attraktive Gestaltung mit bibliophiler Ästhetik.

 

 

Viktor Mann
Viktor Mann, 1890 in Lübeck geboren, war der jüngere Bruder von Thomas und Heinrich Mann. Viktor, genannt „Viko“, vollendete sein auto- und familienbiografisches Erinnerungsbuch „Wir waren fünf“ in den ersten Monaten des Jahres 1949 – kurz vor seinem Tod.

 

 

Manfred Bosch
Manfred Bosch lebt als freier Autor in Konstanz. Mit dem Bodensee und dem deutschen Südwesten hat er sich in zahlreichen zeit- und literaturgeschichtlichen Darstellungen, Anthologien und Herausgaben befasst. Bei UVK hat er u.a. die Geschichte des Südverlags (Zeit der schönen Not, 2009) vorgelegt und die Erinnerungen des Kunstwissenschaftlers Kurt Badt an den Bodensee.

 

 

Viktor Mann, Manfred Bosch
Wir waren fünf
Bildnis der Familie Mann.

Mit einem Nachwort von Manfred Bosch

2017, 654 Seiten, 13,3 x 20,4 cm
gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-87800-102-7

 

 

 

«Michel Contat: Paris 1959»

 

«Ich war zwanzig Jahre alt, und ich hatte einen Freund». Im Jahr 1959 bricht der zwanzigjährige Michel Contat auf nach Paris, in die Stadt der Träume, des Ruhms und der Ernüchterungen. Er schreibt sich an der Sorbonne ein und wohnt Zimmer an Zimmer mit seinem Freund Michel Thévoz, ihre Vermieterin trägt wie zu Kriegszeiten Zeitungen gegen die Kälte unter ihren Kleidern und legt ihnen Bücher von Marx und Engels vor die Tür.

 
Sie arbeiten sich durch «Das Sein und das Nichts», bei Kälte im Café Bonaparte in der vagen Hoffnung, Sartre zu sehen, der im dritten Stockwerk wohnt. Sie gehen ins Kino, ins Theater, verbringen Nächte in Jazzlokalen und gründen selbst ein Bepop-Quintett. Sie verachten de Gaulle und demonstrieren gegen den Algerienkrieg. Als Contats Vater mit ihm nach Berlin reist, um ihn von den linken Ideen abzubringen, fährt er dort mit dem Taxi ins Berliner Ensemble zu den Brecht-Inszenierungen, während der Vater im Hotel fernsieht. Am Ende wird er aus politischen Gründen aus Frankreich ausgewiesen.
Contat erzählt persönlich und offen, er verschweigt weder seine Einsamkeit noch seine Nöte, unter denen er in seiner Schüchternheit und Unschuld leidet – auch wenn die Liebe am Ende auch ihm zuteil wird. «Wenn ich mich frage, warum ich glücklich gewesen bin in jenem Pariser Jahr, das doch so karg war, dann weiss ich darauf nur eine Antwort: Ich war zwanzig Jahre alt, und ich hatte einen Freund.» Contats Erzählung ist ein Selbstporträt, das für eine ganze Generation steht.

 

 

Michel Contat
Paris 1959
Notizen eines Waadtländers

Limmat Verlag Zürich, 2017
Übersetzt von Eva Moldenhauer

Mit einem Nachwort von Luc Weibel
96 Seiten, gebunden
März 2017
SFr. 18.–, 16.– € / eBook sFr. 15.80

ISBN 978-3-85791-825-4

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