Albert Camus 1956, © PD
«ALBERT CAMUS – Er sagte: Hab keine Angst!»
Von Iris Radisch
Schon zu Lebzeiten war er ein Mythos, der bestaussehende französische Schriftsteller aller Zeiten und einer der bedeutendsten Denker und Autoren seines Jahrhunderts: Am 7. November 2013 wäre der Schriftsteller Albert Camus 100 Jahre alt geworden. Eine Reise zu seinen Nachfahren und seinen Landschaften.
Man nannte ihn einen Moralisten, eine Ikone des unbestechlichen Intellektuellen, der die großen Menschheitsträume von der Transzendenz, von der Geschichtsutopie und von der Liebe wie Seifenblasen platzen liess. Er hat grandiose, magische Sätze hinterlassen, die wie unverrückbare Felsbrocken in der Wort-Wüste des 20. Jahrhunderts herumstehen. An seinem Namen haftet ein bewunderndes Frösteln – und auch ein wenig Marmorstaub.
Zu seinem 100. Geburtstag ist es an der Zeit, den überwältigenden Mann, der aus der grossen Kälte des vergangenen Jahrhunderts kam und zum Pariser Starintellektuellen wurde, wieder zu Albert Camus zu machen, der von einer Analphabetin am 7. November 1913 in Algerien auf dem nackten Lehmboden eines Weinguts bei Mondovi geboren wurde und am 4. Januar 1960 starb, als das Luxusauto seines Freundes Michel Gallimard auf dem Weg nach Paris sehr heftig und endgültig an einer Platane an der Route nationale Halt machte. Diesen Zeitgenossen unserer Desillusionen werden wir kaum in den Vitrinen der Ausstellungen finden, die sein Jahrestag hervorbringt. Deshalb mache ich mich auf eine Reise vom Mythos zum Menschen Camus, zu den besonderen Orten, den Menschen, den Häusern und den Landschaften, die sein Leben waren.
Fünf Zimmer, zweiter Stock rechts, Nordseite – seine letzte Pariser Adresse
Erste Station Paris, das liegt nahe. Paris war zu seiner Zeit die Welthauptstadt der Literatur. Alle waren in Paris, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Samuel Beckett, André Gide, André Breton, Marguerite Duras. Man kann sich dieses Paris bis heute nur in Schwarz-Weiss vorstellen, lange, schwere Wintermäntel, ernste Gesichter, Intellektuelle, die an den Caféhaustischen zusammenklumpen wie Rugbyspieler kurz vor dem Anpfiff. Paris hat Camus gross gemacht, das französische Theater, die französischen Schauspieler, der Journalismus, der Existenzialismus – nichts davon ist ohne Paris auch nur vorstellbar.
Noch immer leben hier ein paar seiner früheren Geliebten, uralte Weiblein heute, mit zittrigen Stimmen. Hier lebt sein 68-jähriger Sohn, Jean Camus, der allein im Appartement seiner Eltern wohnt in der Rue Madame, auf dem Sessel seines Vaters sitzt und raucht, auf dem Flügel seiner Mutter spielt und kaum noch aus dem Haus geht. Hier lebt sein Enkel, der Schriftsteller David Camus, der ihm so ähnlich ist. Hier geht sein alter Freund Roger Grenier, ein hellwacher 94 Jahre alter Mann, noch immer jeden Tag in sein Büro im Verlag Gallimard in der Rue Sébastien-Bottin.
Camus ist nicht hier. Er liegt auf dem Friedhof in Lourmarin in Südfrankreich. Als Sarkozy noch Präsident war, wollte er Camus unbedingt nach Paris holen, ins Pantheon, an die Seite von Voltaire, Rousseau und Malraux. Weg von den kleinen Leuten und ihren Plastikrosen und Porzellanvergissmeinnicht auf den ärmlichen Gräbern des Dorffriedhofes. Der Sohn Jean Camus war dagegen. Er ist sicher, Paris ist der falsche Ort für seinen Vater, im Leben wie im Tod.
Man kann nicht sagen, dass Camus Paris gehasst hat. Dennoch hat er 1945 geschrieben: «Ich bereue die stumpfsinnigen und schwarzen Jahre, die ich in Paris verbracht habe». Er war sein Leben lang der „Fremde“ in Paris. Das Glück, von dem in seinen Romanen, Essays und Theaterstücken unaufhörlich die Rede ist, hatte er verloren, als er mit 27 Jahren nach Paris kam – diese „einzig benutzbare Wüste“, wie er die Stadt genannt hat.
Zu allen denkbaren Tages- und Nachtzeiten habe ich schon vor dem Haus in der Rue Madame gestanden, in dem er, als er endlich ein erfolgreicher Autor war und «Die Pest» sich im Sommer 1947 innerhalb weniger Wochen hunderttausend Mal verkauft hatte, die grosse Etagenwohnung erworben hat, die sein Sohn bis heute bewohnt. Fünf Zimmer, zweiter Stock rechts, Nordseite. Die letzte Adresse des Mannes, der mit 24 Jahren geschrieben hat, er wolle sich selber am „Grunde des Weltalls“ finden.
Wie ist Camus ausgerechnet auf diese dunkle Wohnung verfallen, in die wirklich niemals ein Sonnenstrahl fällt? Was war sie? Abstellwohnung für Frau und Kinder? Für Francine, mit der er seit 1940 unglücklich verheiratet war, und für Jean und Catherine, die Zwillinge, die 1945 zur Welt kamen, obwohl er seiner Geliebten, der Schauspielerin Maria Casarès, versprochen hatte, dass er seine algerische Ehefrau nur mehr „wie eine Schwester“ lieben würde? Hier im dunklen zweiten Stock hat Francine am Ende dieser Ehe – in deren Verlauf sie einmal aus dem Fenster der Klinik sprang, in der sie ruhiggestellt werden sollte – den Telefonhörer abgenommen und erfahren, dass ihr Mann an einem Baum zerschellt ist.
Camus und die Frauen
Ein schwieriges Kapitel in seinem Leben, nicht das beste. «Ausser in der Liebe ist die Frau langweilig» – leider gibt es diesen schrecklichen Satz in seinen Tagebüchern. Dennoch war sein Leben voller Frauen, meist Schauspielerinnen, Künstlerinnen, Journalistinnen, in die er sich in grosser Zahl, nun ja, verliebt hat. In seinen Werken sind sie Statistinnen, animierte Requisiten wie die Stenotypistin, mit der der „Fremde“ nach der Beerdigung seiner Mutter erst ins Kino und dann ins Bett geht. Camus liebt es, noch die entlegensten Körperteile des Mannes zu beschreiben, die Ränder der Ohren, die Fußgelenke, die sehnigen Schultern, die Brauen, die Lippen, den Hals. Der Körper ist die härteste Währung in seinem Universum. Er ist sein Evangelium. Doch in der Beschreibung des weiblichen Körpers ist er ein Analphabet. Von einer Mutter heißt es, sie sei „ein unförmiges Tier“. An jungen Frauen beeindrucken ihn die „teilnahmslosen Mienen“ und die „natürliche Einfalt“.
Man muss den großen Moralisten nicht moralisieren, aber wahr ist: Er war ein grosser Frauenverbraucher, einer, der sich selber und alle um sich herum verbrannte. Erste Heirat mit 21 Jahren, da war er noch ein junger tuberkulosekranker Dandy in Algier, der nicht jedem die Hand gab. Die Anzüge bezahlte die Schwiegermutter, eine reiche Ärztin, das junge Ehepaar residierte oben auf den Hügeln überm Mittelmeer, im Beverly Hills von Algier. Damals trat er für ein paar Monate in die kommunistische Partei ein, imitierte in seinen Liebesbriefen kläglich die weissdornblütenbestreute Sprache der Schicht, in die er gerade hinaufgeheiratet hatte, und schrieb salbungsvolle Artikel in der Studentenzeitschrift seines Mentors Jean Grenier. Mit 23 war er schon wieder geschieden, lebte in einer Wohngemeinschaft mit jungen Frauen aus den wohlhabenden Kolonistenfamilien in einer alten Villa in der Oberstadt von Algier. Dort schrieb er seine ersten Erzählungen, die von seinen Jahren in der Unterstadt handeln, von seiner Jugend ohne fliessend Wasser, ohne Strom, ohne Bücher, ohne Radio, ohne Worte – in einem langen, jahrtausendealten Schweigen, das nur ab und zu von den Peitschenhieben unterbrochen wurde, die ihm die Großmutter mit dem Ochsenziemer verpasste. Es gab – abgesehen von den ersten Monaten in Paris, als er gerade an einem Jahrhundertroman schrieb, der 1942 unter dem Titel «Der Fremde» veröffentlicht wurde – keine Zeit in seinem Leben, in der er nicht mehrere Geliebte gleichzeitig hatte. Wirklich geliebt hat er jedoch ausschliesslich seine Mutter, eine autistisch veranlagte Schweigerin, die keine Gefühle zeigte. In ihr Schweigen hinein hat er sein Werk entworfen. Sie war der Massstab, den er an die Welt anlegte.
Ein Leben als Sohn – Jean Camus lebt bis heute in der Wohnung des Vaters
Eines Tages drücke ich dann endlich auf den Klingelknopf in der Pariser Rue Madame, auf dem seit über sechzig Jahren der Name Camus steht. Jean Camus konnte sich lange nicht entscheiden, ob er mich treffen oder lieber nicht treffen wollte. Viele Male hat er mir am Telefon zu- und bald darauf wieder abgesagt. Es gehe ihm schlecht, er sei nächste Woche sicherlich schon tot, er habe einen überraschenden Arzttermin, er sei müde. Als ich ihm endlich im dunklen Flur der Wohnung seiner Eltern gegenüberstehe, strahlt er. Genauso habe er sich die Besucherin vorgestellt. Das Treffen, das eben noch undenkbar war, täte ihm nun gut.
Die Camus-Zwillinge haben die Zerrissenheit ihres Vaters unter sich aufgeteilt. Der Vater, der sich zwischen den hochinteressanten Traurigkeiten einer intellektuellen Existenz in Paris und dem gleichmütigen Glück des einfachen Lebens am Mittelmeer nie entscheiden konnte, hat seinen Kindern die Wohnung in der Rue Madame und ein Landhaus in der Provence hinterlassen. Jean Camus hat die Pariser Wohnung und die intellektuell-melancholische Seite des Vaters übernommen. Catherine Camus wohnt in dem grossen Dorfhaus in Lourmarin. Jedes der Kinder lebt eines der beiden unversöhnlichen Leben des Vaters für sich zu Ende. Seit Jahren haben die Zwillinge kein Wort mehr miteinander gesprochen.
In der Pariser Rue Madame ist die Vergangenheit noch nicht vergangen
Im Klavierzimmer in der Rue Madame ist seit einem halben Jahrhundert die Zeit stehen geblieben. Camus scheint gerade erst aus dem Raum gegangen zu sein, und seither ist hier ausser vielen Zigarettenpackungen nichts Entscheidendes mehr dazugekommen. Auf Francines altem Flügel steht ein Foto von Robert Gallimard, dem Neffen des Verlagsgründers Gaston Gallimard, der im Juni dieses Jahres gestorben ist und jahrelang der Lebensgefährte der Tochter Catherine Camus in Lourmarin war. Im Bücherschrank stehen noch immer die Bücher des Vaters. Einzig die Briefe und Manuskripte Camus’, die bis vor Kurzem hier noch überall herumlagen, werden inzwischen in der Bibliothèque Méjanes in Aix-en-Provence von einer beeindruckend auskunftsunwilligen Mitarbeiterin des selbstbewussten französischen Verwaltungsapparats betreut.
Jean sitzt der Besucherin auf einem der zerschlissenen sandfarbenen Sessel seiner Dornröschenwohnung gegenüber und spricht so leise, als habe er jede Erinnerung an die in menschlicher Gesellschaft übliche Gesprächslautstärke verloren. Auf dem Balkon dieses Zimmers wurden die berühmten Fotos seiner Eltern gemacht. Camus mit Pfeife im Mund, Francine mit hochgeschlossener weißer Bluse. Auf der Straße drei geparkte Autos. Das war 1952.
Gestern, erzählt Jean, habe er sechzehn Stunden lang an seinem Tagebuch geschrieben. Eine halbe Seite sei dabei herausgekommen. Dann spricht er beinahe in einem Atemzug von Kant, von C. G. Jung, von Pascal, von Trotzki, von Freud, von Liszt, Chopin und Schubert. Er kann ganze Passagen aus dem Werk seines Vaters auswendig vortragen. Er rezitiert die Wutrede, die Meursault, der Fremde, dem Priester im Gefängnis hält, als er schon zum Tode verurteilt ist und auf die Hinrichtung wartet. Die ist eine der berührendsten Szenen im Fremden. Der Mörder Meursault, der sich gerade noch masslos empört hat über die haltlosen und kindischen Versprechen, mit denen das Christentum die Herzen vernebelt, öffnet sich für „die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt“ – als sei das Absurde ein Gott, der sich von Zeit zu Zeit in seiner erhabenen Sinnlosigkeit offenbare.
Diese Gleichgültigkeit traf nach dem Erscheinen des «Fremden» im Jahr 1942 das paradoxe moderne Lebensgefühl der Hoffnungslosigkeit, von der man nicht mehr erlöst werden will, weil sie selbst die Hoffnung ist. Darin steckte nicht nur ein kühner Gedanke, der sich gut mit schwarzen Rollkragenpullovern kombinieren liess, sondern auch ein Abwehrsystem gegen alles, was den Menschen ängstigt und ihm Schmerz bereiten kann, seitdem er davon ausgehen muss, dass er zwar ab und zu im Café de Flore von jemandem erwartet wird, aber niemals in den endlosen Räumen des Kosmos. Wer gleichgültig ist, hat nichts mehr zu befürchten. Weder die braune Pest vor seiner Tür noch das absurde Lebensgefühl in seiner Magengrube. „Der Gleichgültige“ sollte Camus’ erster Roman zunächst heißen. Wohl auch deswegen, weil sich sein Held einfach weigert, beim üblichen Urteilssprechen der Gesellschaft mitzumachen, und bei der Beerdigung seiner Mutter nicht weint. Wenn der Fremde überhaupt etwas sagt, dann sagt er meistens: „Das bedeutet nichts.“ Der Gleichgültige möchte der Sinnlosigkeit lieber mutig ins Auge sehen, als in das ideologische und sentimentale Geschnatter seines Zeitalters einzustimmen. Dabei ist die Welthaltung des Gleichgültigen entgegen dem landläufigen Vorurteil nicht leer und sinnlos, sondern reich und lebendig. Sie öffnet sich in die Stille, die Weite und die Mehrdeutigkeit der Welt und des Inneren und befreit ihre Anhänger vom Terror der Eindeutigkeit. Der Sohn Camus’ kann es noch immer nicht fassen, wie sein 26-jähriger Vater ein so geniales, wegweisendes Werk schreiben konnte, das Millionen Leser auf der ganzen Welt als eine Befreiung vom halb verlogenen Gefühlsschrott ihrer Zeit verstanden haben.
Anders als sein 43-jähriger Sohn David Camus, der mich in seinem Haus in Montrouge bei Paris empfangen und in atemberaubendem Sprechtempo darüber belehrt hat, wie tragisch der überlebensgrosse Schatten dieses Grossvaters auf seinem Leben laste, scheint Jean Camus nicht schwer an seinem Namen zu tragen. Sein Sohn David hat zehn Romane geschrieben, die alle irgendwann unter dem Gewicht, das dieser Name für einen jungen Autor bedeutet, zusammengebrochen sind und unveröffentlicht in der Schublade liegen. Schreiben muss er trotzdem, den Namen muss er dennoch tragen – „man kann die Intelligenz eines Menschen daran ablesen, wie viel Unsicherheit er aushält“, sagt David mit demselben wunderbaren Camus-Pathos, mit dem sein Vater Jean Camus in der Rue Madame den Verdacht zurückweist, er könne von dem gewaltigen Camus-Erbe in einer Weise erdrückt worden sein, die dazu geführt habe, dass er in der unberührten Wohnung seines Vaters bei geschlossenen Fensterläden wie in einer Zeitkapsel festsitze. Von einem Erdrücktwerden, beteuert Jean Camus, könne keine Rede sein, er bestehe schließlich ganz und gar aus Erinnerungen an seinen Vater, der für ihn auch gar nicht verschwunden, sondern immer noch anwesend sei, er höre manchmal sogar seine Stimme.
Obwohl Jean mit der Welt vor seiner Tür offensichtlich gebrochen hat und nur noch aus Poesie und Zigarettenrauch besteht, wirkt er nicht zerbrochen. Manchmal erfüllt ihn ein einziger Ton, den er spät in der Nacht auf dem Flügel seiner Mutter anschlägt. Wenn er etwas Definitives über seinen Vater äussern sollte, dann würde er einfach sagen: «Papa était un type bien», ein guter Typ, der niemals kleinlich gewesen sei. Und dann sagt er schnell und wie nebenbei: „Ich habe ihn so geliebt.“ Ein Vermächtnis seines Vaters mag er nicht nennen, aber er erinnert sich ganz genau an die Lehre, die ihm sein Vater mit auf den Weg gab: „Hab keine Angst!“ Zum Abschied, als wir schon wieder im Flur stehen, rezitiert er minutenlang eines jener dunklen Mallarmé-Gedichte, in denen es endlos um ein Grab, um trockenes Laub und Städte ohne Abend geht.
Einige Wochen nach meinem Besuch begegne ich ihm an einem warmen Sommertag noch einmal auf der Straße in der Nähe des Jardin du Luxembourg. Er geht allein, beachtet niemanden, trägt einen warmen dunklen Mantel und hält einen großen Fotoapparat aus alten Zeiten in der Hand – eines jener unfassbar geheimnisvollen Pariser Gespenster aus einer Vergangenheit, die noch nicht vergangen ist.
Grasduft bei Tag, Sternenlicht in der Nacht – das Haus in Lourmarin
Die Bahnfahrt von dem Pariser Gare de Lyon nach Aix-en-Provence dauert drei Stunden. Lourmarin liegt am Fuße des Luberon, 40 Kilometer von Aix und 70 Kilometer von Avignon entfernt. Zu Camus’ Zeiten dauerte die Fahrt zwei Tage. Camus hatte am 4. Januar 1960 seine Bahnfahrkarte schon in der Tasche und entschied sich erst im letzten Augenblick, lieber mit den lebenslustigen Gallimards als mit seiner depressiven Ehefrau Francine und den 14-jährigen Zwillingen nach Paris zurückzufahren. Er war 46 Jahre alt. Vielleicht ist ein Reifen geplatzt. Vielleicht ist Michel Gallimard am Steuer seines Facel Vega eingeschlafen nach dem ausführlichen Mittagessen im Hotel de Paris et de la Poste in Sens. Jedenfalls war Camus schon 24 Stunden nach der Abfahrt wieder in seinem Haus in Lourmarin – als Toter.
In Lourmarin angekommen, sieht man das Haus sofort. Seine große Steinterrasse, die Säulen und hohen Mauern fallen jedem in den Blick. Das Haus war die Erfüllung seines Traums – Grasduft am Tag, Sternenlicht in der Nacht und Abende, die einem das Herz weiten. In seinen letzten Lebensjahren hat Camus fieberhaft nach so einem Haus gesucht, die Immobilienfrage wurde zur Überlebensfrage. Das Haus, weitab von der Pariser „Pest“, vom Pariser „Krebs“, sollte ihn mit sich selbst wieder versöhnen. Nach der verlorenen Schlacht mit Jean-Paul Sartre, der seinen großen antitotalitären Essay Der Mensch in der Revolte lächerlich gemacht hatte („Und was, wenn Ihr Buch einfach nur von Ihrer philosophischen Inkompetenz zeugen würde? Wenn es voller eilig und aus zweiter Hand zusammengesuchter Erkenntnisse wäre?“), wollte er ein neues einfaches Leben beginnen, das so alt sein sollte wie „Brot und Wein“, das „Geheimnis der Natur“, die „Sonne des Südens“, das „Licht der Wahrheit“.
Das war so altmodisch gemeint, wie es klingt. Camus hielt sich schließlich für einen unmodernen Menschen, den das Schicksal zwar in die Welt der Etagenwohnungen und Bürostunden verschlagen hat, der jedoch einer alten Lebensvorstellung anhing, nach der Mut, Schönheit, Geist, Ehre, Liebe, Körper, Leben und Denken nicht voneinander zu trennen sind, ohne alles zu verlieren. Im Café de Flore in Paris rührte man, wenn Camus so etwas öffentlich von sich gab, peinlich berührt in den Kaffeetassen.
In Lourmarin werde ich von einer Eselherde empfangen, die auf einer Weide am Schloss unter weisssilbernen Olivenbäumen grast. Auf den Wiesen verneigen sich roter Mohn und blaue Iris im Wind. Das Licht ist so klar, als gebe es auf der Welt endgültig nichts Halbes und Unaussprechliches mehr. Am Abend heult der Mistral vom Luberon herab und übertönt das Konzert der Grillen und Frösche. Es duftet nach wilden Blumen, nach Thymian und Rosmarin. Als Camus zum ersten Mal nach Lourmarin kam, war er tief beeindruckt von dem „gewaltigen Schweigen“ und der „überwältigenden Schönheit“ dieser Landschaft, die man sich bis heute kaum schöner denken kann. Ohne zu zögern, hat er das Haus kurz vor seinem Tod gekauft, mit dunklen spanischen Möbeln ausgestattet und sogar einen Esel aus Algerien importiert. Dann saß er auf der großen Terrasse auf dem Boden und schrieb mit fliegender Eile an seinem letzten Lebensbuch «Der erste Mensch». Er hatte sich selber satt, die kühne, weiß gekachelte Tonlosigkeit des Fremden und der Pest ließ sich nicht ewig wiederholen. Am Ende wollte er wieder so schlicht und durchlässig erzählen, wie seine Mutter gelebt hat und wie die grossen Klassiker geschrieben haben. Er war besessen von der Idee, dass sein Leben und vielleicht das Leben überhaupt nur ein langes Unterwegssein sei, um zu seinem Anfang zurückzukehren und die „zwei oder drei einfachen großen Bilder wiederzufinden, denen sich das Herz ein erstes Mal erschlossen hat“. Und so sollte sich in diesem letzten Buch alles wie von selbst zusammenfügen – der Sand der Wüste, das Licht seiner Kindheit und die Poesie der Einfachheit. Bald darauf lagen die losen Seiten des Manuskripts im Schlamm der Unfallstelle bei Villeblevin. Camus starb genau in dem Augenblick, in dem sein Leben und sein Werk neu beginnen sollten – wie nach dem Willen seines absurden Gottes. Übrig blieb ein grandioser Buch-Torso, der, als er 1994 endlich erschien, ein grosser Erfolg wurde.
Das Buch ist eine fiktive Autobiografie, in der in kahlem Stil über ein kahles Leben berichtet wird, in dem wie in der Wüste oder am ersten Tag der Schöpfung noch nichts mit Bedeutung versehen ist. Camus schreibt in diesem letzten Roman wie ein Nomade, der das, was er beschreibt, nicht besiegen und besitzen, sondern nur wieder eintauchen möchte in die leere, ereignislose Zeit seiner algerischen Kindheit. Er erinnert sich an die Mutter, die abends den Stuhl ans Fenster rückte, um hinauszusehen. An den stummen Onkel, der in einer Böttcherei arbeitete. An die staubbedeckten Feigenbäume vor dem Haus, an die Sonne, das Meer und die glühenden Landschaften, die der Mensch sich noch nicht unterworfen hat. Er bleibt ganz nahe bei den Dingen und Menschen. Die großen Epochenromane, die den Menschen zum Rädchen im Maschinenraum der Geschichte machen, haben Camus nicht interessiert. Sein berühmter Satz, mit dem er sich gegen die masslosen Ansprüche der Geschichte an das Leben (und nebenbei auch gegen den Geschichtsphilosophen Jean-Paul Sartre) zur Wehr gesetzt hat, entstammte diesem heissen, wortlosen Universum seiner Kindheit, in das er am Ende seines Lebens schreibend zurückgekehrt ist: «Die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist».
Camus kam aus einer Welt, die am Rand der Geschichte lag. Er hat Algerien oft als ein „Land ohne Geschichte“ und „frei von Poesie“ besungen und dabei vergessen, dass die Geschichte der eingeborenen Algerier nicht nur von der glühenden Sonne, sondern auch von einer hundertjährigen französischen Besatzung des Landes ausgelöscht wurde. Als junger Reporter beim Alger républicain hat Camus mitreissende Reportagen über das Elend der Berber in der Kabylei geschrieben. Aber in seinen Romanen und Erzählungen haben die Araber keine Namen und kein Gesicht. Sie werden erschossen, verhaftet oder stehen zusammengeballt und bedrohlich auf der Straße. Ein Algerien ohne Franzosen konnte er sich sein Leben lang nicht vorstellen.
Als der Algerienkrieg ausbrach, war das die schlimmste politische Katastrophe seines Lebens. Camus kämpfte für eine arabisch-französische Konföderation, für ein Europa der vielen Nationen, das nicht von Tag zu Tag trauriger und hässlicher wird, in dem niemand mehr „die Freude aus der Welt wegwischt und auf später verschiebt“. Er warb für sein sonniges mittelmeerisches Denken – eine Art Gegengift für die Wachstumsideologien und die Masslosigkeiten Europas. Dieses Sonnendenken, das seine Wurzeln in der Mittelmeerutopie der mediterranen Intellektuellen von Paul Valéry über Gabriel Audisio bis Alexandre Kojève hat, sollte dem alten, kriegsmüden Kontinent die natürliche Schönheit, die Bescheidenheit und Brüderlichkeit zurückbringen, die für Camus nur im Licht des Mittelmeeres gedeihen. Das Mittelmeer, an dessen Küsten diese Utopie vom Glück der Einfachheit entstanden ist, sollte das Modell für ganz Europa werden. Deutschland, das Camus nur flüchtig und kurz bereist hat, hielt er immer für das Land des tiefsten Unglücks. Östlich von Paris, da war er sich sicher, gebe es nichts mehr, was ein Menschenherz erfreuen könne.
Ein Leben als Tochter in der Rue Albert Camus in der Nähe der Kirche
Catherine Camus wohnt in der Rue Albert Camus hinter einem großen Holztor in der Nähe der Dorfkirche. Der Termin wurde von ihrem jungen Sekretär telefonisch bestätigt, im Camus-Gedenkjahr hat Madame Camus sehr viele Termine. Einen Internetanschluss hat sie nicht. Sie trägt Jeans und Turnschuhe und empfängt mich im alten Arbeitszimmer ihres Vaters mit dem atemberaubenden weiten Blick über den Luberon. Als das Gespräch auf ihren Zwillingsbruder Jean kommt, rollt sie auf dem Schreibtischstuhl bis in die letzte Ecke des Zimmers und zieht sich an diesem sonnigen Tag eine warme Daunenjacke an. Über Jean möchte sie nicht sprechen. Sie sagt: «Das Leben ist kompliziert. Jeder sucht sich seinen eigenen Weg durch den Dschungel».
Catherine Camus hat vier Kinder großgezogen, hat in Aix, in Grasse, in Cabris und Marokko gelebt, war wie ihr Bruder im Justizwesen beschäftigt und lebt seit 1992 in dem großen Haus in Lourmarin, «ein Geschenk, das uns Papa hinterlassen hat». Sie sei dankbar für das, was sie habe, und wolle nichts anderes. Das Büro des Vaters sieht aus wie ein junges Start-up-Unternehmen, in dem ein gigantisches Weltliteraturerbe emsig verwaltet wird. Catherine vergibt Rechte, gewährt und verweigert Manuskripteinsicht, überwacht Camus-Ausstellungen, gerade erscheint wieder ein neuer Camus-Bildband von ihr bei Gallimard. Wenn sie überhaupt ein Problem mit ihrem Vater habe, sagt sie, dann liege es darin, dass sie ihren Vater unter den zahllosen Camus-Bildern, die weltweit von ihm im Umlauf seien, kaum noch finde. Sie glaubt, sich an einen lebendigen Mann zu erinnern, der das Leben leicht nahm. Wie oft habe sie vor Lachen auf dem Boden gelegen, wenn ihr Vater wieder mit dem ganzen Körper redete.
Als Camus tot war, hat den Kindern das niemand erzählt. Deswegen konnten sie auch nicht zur Beerdigung kommen: Sie wussten schlicht nichts davon. Über derartig persönliche Dinge, wie das Sterben eines Vaters, wurde in der Familie nämlich nicht gesprochen. Wie überhaupt in der Familie Camus wenig gesprochen wurde. Intime Gespräche, sagt die Tochter, seien doch nur Psychoanalyse, was für sie offenbar ein anderes Wort für blühenden Unsinn ist. Auch den Briefwechsel der Eltern, den sie noch immer im Haus hat, habe sie nicht gelesen. Dem Biografen Emmanuel Todd habe sie ein paar der Briefe aus dem Beginn der Bekanntschaft ihrer Eltern gezeigt, was sie inzwischen bereue. Wo der Briefwechsel ihres Vaters mit seiner langjährigen Geliebten Maria Casarès eigentlich sei, will sie niemandem sagen. Catherine möchte über ihren Vater nicht urteilen, schon gar nicht über sein sogenanntes Liebesleben. Und wieder sagt sie: «Das Leben ist kompliziert». Es ginge niemanden etwas an, in wen erwachsene Leute sich verliebten. Ihre Eltern, da sei sie sicher, habe eine tiefe Freundschaft verbunden. Und dann sagt auch sie einen der wunderbaren harten Camus-Sätze: «Wir sind die Wilden Afrikas». Die Familie Camus versteht sich noch immer als ein Haufen afrikanischer Wilder, den es nach Frankreich und in die seichten Seelengebiete der Zivilisation verschlagen hat, ohne dass man hierhergehörte und die Gefühlssprachen des Kontinents verstünde. Aber nun müsse sie wirklich ihre vier Hunde füttern.
Obwohl Catherine Camus mit beiden Beinen fest im Leben steht und beide Hände noch fester auf den Nachlass ihres Vaters legt, kommt es mir vor, als könne man hinter ihrem offenen und umgänglichen Wesen auch die schroffe Unbedingtheit des Lebenskünstlers Camus herausspüren, der immer nur schrieb, was er lebte, und lebte, was er schrieb. Als Camus selbst einmal von einem der Camus-Reporter, die ihn ständig umschwirrten, interviewt wurde, hat er gesagt: «Ich glaube nicht genug an die Vernunft, um an ein System zu glauben. Was mich interessiert, ist, wie man leben soll».
Ein Abschied am mondbeschienenen, wild überwachsenen Dichtergrab
In der Nacht nach dem Besuch bei der energischen Tochter taucht der Vollmond den Dorffriedhof von Lourmarin in ein kaltes, unheimliches Licht. Ich würde dem Mann im mondbeschienenen und wild von Lavendel und Oleander überwachsenen Dichtergrab am Ende der Reise zu seinen Orten und Nachkommen gern auch noch ein paar Fragen stellen. Zum Beispiel, wie es seinen zehn Lieblingswörtern inzwischen ergehe: Welt, Schmerz, Erde, Mutter, Menschen, Wüste, Ehre, Elend, Sommer, Meer. Und seine Botschaft an die Nachgeborenen: «Lebe tief, lebe jetzt, und lebe auf Augenhöhe mit dem Tod, denn die Wahrheit, die Moral und das Leben lassen sich nicht auf irgendwann vertagen». Alles noch wie gehabt?
Camus war noch nie ein Mann der grossen Antworten. Die Rolle war bereits von Sartre und den Sartrianern besetzt, die überall das grosse Wort schwangen und über die grosse Geschichte und deren hehre Ziele lamentierten. Ziele, die viele Opfer gekostet und die sich die Grossmäuler an ihren kleinen Redaktionstischen aber einfach nur ausgedacht haben. Sartre und sein Mitarbeiter Maurice Merleau-Ponty waren damals bereit, den stalinistischen Terror zähneknirschend hinzunehmen in der Hoffnung, dass ihre geschichtsphilosophischen Fantasien in ferner Zukunft in Erfüllung gingen. Die Geschichte hat dann aber Camus recht gegeben. Sein Denken war offener und ungesicherter. Er hat das Schweigen und die unlösbaren Widersprüche des Lebens ertragen. Wer ihn heute liebt, liebt ihn noch immer nicht für seine Antworten, sondern für seine Klarheit und seine kompromisslose Haltung, mit der er es aushält, dass es keine Antworten gibt. Und für den Wind in seinen Büchern, der vom Meer kommt und den Blick auf die Welt für ein paar Sekunden vollkommen freibläst.
Am nächsten Morgen regnet es. Der Landbus fährt um 6.30 Uhr zurück in die Stadt.
(Erstveröffentlichung DIE ZEIT, Nr. 43, 17. Oktober 2013, mit freundlicher Genehmigung der Autorin).
«Antwort auf die Frage nach meinen zehn bevorzugten Wörtern: <Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer>». Albert Camus im Sommer 1951.
Iris Radisch nimmt in ihrer hinreissend eloquenten Biographie Bezug auf die zehn Lebenswörter Camus‘, die als Kapitel den zeitlichen und geographischen Rahmen definieren. Die Mittelmeerkultur und die Liebe zur Gerechtigkeit, die Camus in den Intellektuellenkreisen von Paris isolierte, beleuchtet Radisch als Kernpunkte seines Schaffens. Man springt mitten hinein in das Geschehen und versteht, warum Albert Camus, der von seiner Herkunft geprägt und imprägniert wurde, allen ideologischen zeitgeistigen Herausforderungen widerstehen konnte. Nicht zuletzt darin besteht seine grosse Leistung als Schriftsteller und Mensch. Diese Biographie ist mitreissend geschrieben und geht ans Herz, unbedingt empfehlenswert! Ingrid Isermann
Iris Radisch
CAMUS – Das Ideal der Einfachheit
Eine Biographie
Rowohlt Verlag, Hamburg 2013
352 S., mit zahlreichen s/w-Abb.,
CHF 28.50. 19,95 €
ISBN 978-3-498-05789-3
Albert Camus (1913-1960) war einer der bedeutendsten, europäischen Intellektuellen der Nachkriegszeit. Der in Algerien in Mondovi geborene Franzose wurde durch seine Romane «Der Fremde» (1942), «Die Pest» (1947) und «Der Fall» (1956) sowie seine philosophischen Essays «Der Mythos des Sisyphus» (1942) und «Der Mensch in der Revolte» (1951) berühmt. Camus erhielt 1957 den Literaturnobelpreis. Erst 1994 wurde das als Fragment nach seinem Unfalltod am 8. Januar 1960 aufgefundene Manuskript «Der erste Mensch» als autobiografischer Roman veröffentlicht. In diesem Herbst erschienen zwei weitere Monografien über den französischen Autor von Martin Meyer: «Albert Camus. Die Freiheit leben». Hanser, München und Michel Onfray: «Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus». Knaus, München.