Alberto Giacometti, zusammen mit seiner Mutter Annetta vor dem Haus der Familie, 1960, Foto Ernst Scheidegger @ Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv 2012
Alberto bei der Arbeit an der Figurengruppe für den Platz vor der Chase Manhatten Bank, NY, Foto Ernst Scheidegger @ Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv 2012
Annette sitzt im Atelier in Stampa Modell, um 1960/61, Foto Ernst Scheidegger @ Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv 2012
Diego Giacometti in seinem Atelier, 1952, Foto Ernst Scheidegger @ Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv 2012
Das Bergell, in dem die Brüder aufwuchsen und wohin sie immer wieder zurückkehrten, erstreckt sich vom Schweizer Malojapass bis zur italienischen Stadt Chiavenna, Foto Ernst Scheidegger @ Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv 2012
Die Familie anlässlich des 40. Geburtstags von Annetta, 1911. Von rechts nach links: Annetta, Ottilia, Giovanni, Bruno, Diego, Alberto, Foto Andrea Garbald @ Stiftung Garbald, 2012
«Alberto und Diego Giacometti». Die verborgene Geschichte
Von Claude Delay
«Alles hängt nur an einem seidenen Faden.
Man ist ständig in Gefahr».
Alberto Giacometti
Nichts auf der Welt liebe ich so sehr wie diese von Hieben und Verletzungen verwüsteten und doch so seltsam unversehrten Frauen Alberto Giacomettis. Aufrecht stehen sie im Raum, wie Göttinnen, aber gleichzeitig uns sehr verwandt; oder sie erscheinen als graue Porträts aus einem labyrinthisch wirkenden Linienknäuel.
Annette, Caroline, auf wundersame Art wiedererkennbar. Seine Frauen schreiten nicht, bis auf eine, die zwischen zwei Kästen geht: Kleine Figur in einer Schachtel zwischen zwei Schachteln, die Häuser sind. Durch gewaltige Sockel oder monströse Füße sind sie mit dem Erdboden verwurzelt und durchdringen mit ihrer Präsenz den ganzen Raum. Die Männer dagegen schreiten am Rande des Abgrunds, in strömendem Regen.
Ein Regen, bei dem Alberto unerschrocken seinen Regenmantel über die dichten Haare zieht. Sein wirrer Schopf erinnert noch an die kindlichen Locken, ganz das Gegenstück zu seinem Bruder Diego. Der nicht von ihm wegzudenkende Diego, der schütteres Haar hatte und wenig sprach oder nur vor sich hin murmelte. Diego konnte wunderbar schreiben und verfasste Briefe in einer aristokratischen Handschrift, die mich faszinierte.
Diego, der Seltsame. Er wusste bei weitem mehr, als er zu sagen bereit war.
Alberto redete viel und gern. Er besaß eine überschäumende Formulierlust, und mit rauer Stimme sprach er von den Wundern des Lebens. Der Künstler Raymond Mason beschrieb er nie mehr verlassen. Eine schicksalhafte Straße, sofern es so etwas gibt: Rodins Eltern hatten Étienne Hippolyte-Maindron, einen akademischen Bildhauer des 19. Jahrhunderts, gefragt, ob ihr Sohn genug Talent für eine Künstlerlaufbahn habe… Der gute Mann hatte ja gesagt! Gleich daneben, in der Rue du Moulin Vert, lag Diegos Unterkunft. Dort befand sich zu Beginn des Jahrhunderts durch einen seltsamen Zufall das Atelier Lebornés, der Vergrößerungen und Verkleinerungen von Rodins Werken erstellte. Diego sprach oft über Alberto, sie arbeiteten schon so lange miteinander. Interessanterweise würde ich Albertos Namen bis zum Tag seines Todes nie aussprechen. Das Unbewusste hat seine eigenen Geheimnisse.
An besagtem Tag ahnte ich, dass Diego verstört sein würde und kam zu ihm ins Atelier. Der gewöhnlich so ruhige Mann schien völlig aufgelöst. Es war das einzige Mal, dass er mit mir über Geld sprach: »Alberto ist ohne irgendein Testament gestorben, Annette bekommt alles.« Annette, die Ehefrau. »Sogar den alten Hof der Mutter …« Das Familienhaus in Stampa oder das Sommerhaus in Maloja? Ich fragte nicht weiter. Er hatte plötzlich seine Arbeit verloren, die er Tag für Tag, Jahr für Jahr ausgeübt hatte. Ich nahm ihn mit ins Kino, er liebte Filme – sonntags im Vorführsaal bei Raoul Lévy war er überglücklich.
Erleichtert nahm ich sein Schnarchen wahr. Leider störten wir die anderen und mussten den Saal verlassen.
Am 11. Januar 1966, als Alberto einen Herzstillstand erlitt und starb, fielen Schneeflocken auf das Krankenhaus in Chur. Er hatte zu Pierre Matisse, seinem langjährigen Freund und Kunsthändler, gesagt: »Ich will nicht, dass Annette irgendetwas in die Hände bekommt.« Aber Pierre Matisse kam zu spät. Er fand nur noch die Leiche vor.
Diego kehrte allein in sein eiskaltes Atelier zurück. Die Tücher um die letzte Büste von Lotar, dem Fotografen und Freund Albertos, waren gefroren. Vorsichtig machte er Feuer im Ofen, um sie abzulösen.
Der Ton war nicht gesprungen: Er hatte die Figur gerettet. ihn als »existentialistischen Künstler mit zerzaustem Haar auf der ewigen Suche nach der Quintessenz des Menschen. Viele Fotografen, die auch Freunde waren, hielten seine Person in entsprechend einsamer Umgebung fest, allein im Atelier, in verlassenen Straßen, in der nächtlichen Leere eines Cafés.« Ein »vorsintflutliches« Gesicht, sagte Sartre. Nichts ist treffender für diesen zeitlosen Menschen. Niemand konnte seine künstlerische Vision gänzlich erfassen, und nur sie war ihm wichtig, wenn er von Angst getrieben an seinem gigantischen Werk arbeitete.
Unter dem Blätterdach seiner geliebten Akazienbäume in der Rue d’Alésia verarbeitete er, verwandelte sich die eigene Zerbrechlichkeit: Beginnen und immer wieder beginnen, begleitet von ununterbrochenen Wortsalven, »Mist«, »Das schaffe ich nie«, »Das geht schief«, »Das gibt’s doch nicht«, »Es bricht alles zusammen«, »Ich muss alles kaputtmachen«. Flüsterndes Bitten und tobendes Flehen entrangen sich seiner von Rebellion und Obsession verzehrten Brust.
Ich war noch sehr jung, als ich dem bereits betagten und noch so gut aussehenden Diego bei Produzent und Regisseur Raoul Lévy begegnete, der Diego ein unvergesslicher Freund war. Sie gingen miteinander ins Bistro im Gare de Lyon, und sonntagmittags aß Diego bei Raoul in dessen Haus in Orsay am großen runden Tisch mit rotkarierter Tischdecke. Mit seinem intuitiven Gespür hatte er das einzigartige Talent des Bildhauers erkannt:
Diego wurde mit allem Möglichen beauftragt. Türgriffe, Treppe, Rampe, Lampen, Sessel. Der Anfang vom katastrophalen Ende waren Drei Zimmer in Manhattan von Simenon – die Filmrechte daran hatte Lévy für Jeanne Moreau gekauft. Nachdem ihre Freundschaft zerbrochen war, stürzte er sich in ein ehrgeiziges Projekt über Marco Polo, das ihn ruinierte. Diego wurde von Sorgen zerfressen. Er liebte seine Freunde.
Ich ging oft in Diegos armseliges Atelier, wo er und sein berühmter Bruder arbeiteten.
Das Heranreifen und Erwachen
Die Brüder Giacometti bearbeiteten so vieles mit ihren Händen – einer vor dem anderen, einer für den anderen –, dass dieser permanente Austausch sie zu einem Paar machte, von den Schneebällen ihrer Kindheit an bis zum Schluss. Unentrinnbar spinnt das Schicksal seine Fäden.
Diegos Welt waren die Armaturen, die Abgüsse, die Patina, das Behauen der Steine, das er in Chiasso bei einem Steinmetz für Grabsteine gelernt hatte; Albertos Welt waren die korrosive Dynamik der Köpfe, die Hiebe, die er seinen Skulpturen mit Daumen und Modelliermesser versetzte. Ihr gemeinsamer Nenner war die Nostalgie ihrer glücklichen Kindheit, die heilig verehrte Mutter, die pures Glück und Engadiner Nusstorte verteilte.
Mütterliche Urkraft und Gebirgsheimat: In beiden schwingt die Unendlichkeit der Berge mit.
»Genie ist nichts anderes als die beliebig wiedergefundene Kindheit«, schreibt Baudelaire. Alberto ist umgeben von einem Geheimnis, in das er sich immer wieder versenken muss. Wie oft reist er zurück nach Stampa, zu Annetta, seiner Mutter, seine einzige große Reise, die er unaufhörlich bis ans Ende seines Lebens wiederholt. Noch mit über sechzig Jahren, wenn er im schwarzen Hemd vom Kaufhaus Soldat Laboureur bei Montparnasse zu seiner Mutter heimkehrt, badet sie ihn und trocknet ihn ab. Er stößt kleine Schreie aus vor Vergnügen. Als sie stirbt und ihr Zuruf »Alberto, komm essen! Alberto, komm essen« nicht mehr erklingt, überlebt er sie nur für kurze Zeit. Im furchenreichen Gesicht dieses Graubündners erlischt sein sanft kannibalisches Lächeln für immer. Nie wieder ein mütterliches Festessen. Das schönste aller Wunder der Kindheit, genährt zu werden, war wie Schnee bei Tauwetter verschwunden.
Der Berg Sainte-Victoire ist für immer mit Cézanne verbunden, über den Kandinsky sagte: »In seinen Stillleben hat er das Abgebildete aufgewertet und gab äußerlich toten Gegenständen ein Innenleben.« Der von Giacometti verehrte Cézanne sagte es selbst: »Die Natur ist innen.« Nur durch die Treue gegenüber der eigenen Wahrnehmung der Dinge, gegenüber der geheimsten und innersten Empfindung kann das Verborgene zutage treten.
Ich erinnere mich an die großen Hände Diegos, die kuppelartigen Wölbungen über jedem Fingerglied. Erst später nahm ich die Verstümmelung seiner rechten Hand wahr. Es war, als wolle er sie bannen, dem Blick entziehen, so geschickt fügte er zarteste Gipsfasern und Flachsfäden zusammen.
Diego ist der Jüngere und das Alter Ego Albertos. Annetta bekam sie kurz nacheinander, Alberto 1901 und Diego 1902.Sie folgen aufeinander im Bauch ihrer Mutter, sie werden einander im Leben, das sie gemeinsam führen, folgen: Das gemeinsame Atelier, die gemeinsame Arbeit. Der ungezwungene Dandy Diego sollte für Alberto der »Mann für alles« werden.
Diegos wohltuende Aura rettet Alberto buchstäblich vor seinen eigenen Dämonen und davor, unaufhörlich und fast zwanghaft sein Werk zu zerstören. »Das reicht, Alberto«, sagte er mit seiner rauen Stimme nach der soundsovielten Neuerschaffung einer Skulptur, »ich bringe sie in die Gießerei.«
Diego war gut aussehend. Er gefiel den Frauen, denen er misstraute, deren Anmut er jedoch bewunderte. Sein Erfolg bei Frauen war für Alberto, der seine Frauenbeziehungen oft verhunzte und der sich bewusst für die Gesellschaft der Huren entschieden hatte, eine Erlösung. Doch allen beiden ging die Mutter über alles. Die unbezähmbare Annetta … Bei den Bienen spricht man von einer Königin. Eine Königin sollte Annetta stets bleiben. Diego wird nie heiraten. Von tiefen Zweifeln erfüllt tritt Alberto mit Annette – dem jungen Genfer Mädchen, das ihm nach Paris folgte und quasi denselben Vornamen trägt wie die Mutter – vor den Traualtar. Diego beschwor sie immer wieder, »die Mutter«. Nichts würde sie je von ihr trennen. Ihre Herrschaft reichte weit über die glückliche Kindheit im Bergell hinaus.
Am 10. Oktober 1901 kommt Giovanni Alberto auf die Welt, der sofort nur Alberto genannt wird. Annetta vergöttert ihren Ältesten, was sie nicht davon abhält, ihn mit sechs Monaten zu entwöhnen, als sie erneut schwanger ist. Inspiriert durch seine Verehrung für Velázquez wählt der Vater den Vornamen für das zweite Kind: Diego, geboren am 15. November 1902.
Der Ältere spielte im Atelier des Vaters, wo er einmal ein fertiges Gemälde mit Farbe und seinen eigenen Exkrementen beschmierte, und Diego war nicht einmal ein Jahr alt, als die Mutter erneut mit der Schwester Ottilia schwanger wird. Die wiederkehrenden Vornamen prägen das Familienleben. Gegenüber dem Piz Duan wird ein rosafarbenes Haus gebaut, dessen Stall zum Atelier wird. Die Familie Giacometti wird es nie verlassen.
An dem Tag, an dem sie nach Stampa umziehen, rannte Diego, noch keine zwei Jahre alt allein zur Tür hinaus. Es war gerade Almabtrieb, und die Straße war voller durcheinanderlaufender Schafe. Diego war in der Masse der Schafe verschwunden, wurde umgestoßen und schrie panisch vor Angst.
Annetta, Stärke und Liebe in einer Person, stand jedoch am Fenster und lachte. Ein Mädchen rettete das weinende Kind. Seine Panik als Zweijähriger wird auf immer mit der Weichheit der Schurwolle und dem Lachen seiner Mutter verbunden sein.
Eine enge Felsspalte in der Tiefe einer Höhle wird Albertos Zufluchtsort. Zusammengekauert versteckt er dort einen aus Mutters Küche entwendeten Brotlaib. Diego verliert sein Herz an die scheuen Tiere der Gebirgspfade, Vögel, Eichhörnchen.
1907 wird ein viertes Kind geboren, Bruno.
In diesem Sommer, mitten in der Heuernte, beobachtet Diego fasziniert das Zahnradwerk der Häckselmaschine, die das Heu zerkleinerte, und welches anschließend mit Hafer vermischt wurde. Er streckt seine rechte Hand ins Räderwerk, das die entsetzten Landarbeiter aus dem Tal nur mit Mühe anhalten:
Einer der Finger war fast abgetrennt, die Kuppe des Mittelfingers fehlte. Das Messer hatte die Hälfte des Zeigefingers gekappt, die Spitze des Mittelfingers zerquetscht und den Daumen ausgerenkt. Der halb ohnmächtige Fünfjährige gab keinen Laut von sich.
Jahrzehnte später gestand Diego: Er hatte sich absichtlich verstümmelt.
Ein übermächtiges Unbewusstes hatte diese Mutprobe gefordert.
Wollte er Annettas Blicke auf sich ziehen, die so sehr in ihre Liebe zu Alberto versunken und mit nachfolgenden Geburten beschäftigt war?
Seine Tapferkeit in einer kindischen Herausforderung beweisen? Er hatte seine
Hand absichtlich ausgestreckt. Lassen wir ihm sein Geheimnis.
Abends versammelten sich die Kinder um den großen Tisch unter der Hängelampe, jeder auf dem Nussbaumstuhl mit seinem eigenen, als Medaillon geschnitzten Abbild. Seit dieser Zeit ist das Porträt der Mutter allgegenwärtig. Alberto wird sich nie mehr von seinem verehrten Modell lösen.
Gleich nach Schulschluss rannte Alberto heim ins Atelier des Vaters, der über sein Zeichentalent erfreut war. Seine erste Zeichnung, Schneewittchen in ihrem Kristallsarg, umtrauert von den sieben Zwergen, zeigte sie weiß wie Schnee, mit leuchtend roten Lippen und ebenholzschwarzen Haaren, Annettas Haaren. Alles sprudelte nur so aus ihm heraus. »Setz dich und schau her«, sagte der Vater. »Ich werde malen.«
Die umfassende Beharrlichkeit des Bildhauers und Malers Alberto Giacometti nimmt hier in Graubünden ihren Anfang:
das grobe, schroffe Werk, Linien wie Bergkämme, die spitzen Zacken seiner fieberhaft gearbeiteten Bronzestatuen. Wenn er den Ton durchknetet, erinnert er sich, wie er sagt, an die Wege seines Bergdorfes, den Schlamm an seinen Stiefeln auf dem Heimweg von der Schule, an die Berge und eisigen Wildbäche, die Schluchten, die über dem Tal kreisenden Greifvögel … Und die Sanftheit der Wiesen. Er sieht sich als »kleiner Junge frisch ausgestattet eine Wiese überquerend, in einem Raum fern aller Zeit«.
Sein Vater führte sie zum goldenen Felsen, dem Megalithen, dessen Eingang eine Höhle freigibt. Die Kinder kauern sich in ihr Versteck. Alberto liebt es, sich in diese kleine Höhle zu flüchten, in die er kaum hineinpasst, sich darin zu verkriechen, als fände er in die Höhle der Gebärmutter zurück.
Aber sehr bald entdeckt er das Böse, eine Erfahrung, die er in Gestern, Treibsand beschreibt. Ein merkwürdiger Titel für diese Kindheit in den Bergen mit dem vom Schnee hartgefrorenen Boden. Turmhoch richtet sich vor ihm ein schwarzer Felsen im Gebüsch auf, »wie ein feindliches, bedrohliches Wesen«.
Sein Unbewusstes wird aufgerührt, den anderen Kindern sagt er nichts. Er ist seinem Peiniger begegnet, dem Entsetzen. Gneisblöcke, metamorphes Gestein aus Feldspat, Quarz und Glimmer, und Felsaushöhlungen, rätselhafte Steincupula, kehren in den Klumpen seiner Skulpturen wieder. Was, wenn Medea in einer Felsspalte lauern würde?
Vor dem Ton war da der Schnee. Alberto erwartet ihn, träumt von einem Loch, gerade groß genug, dass er seinen Schlafsack ausbreiten könnte, um darin zu überwintern. Seit
seinen ersten Geographiestunden träumt er von einer Isba in Sibirien, aus der er, gemütlich warm hinter den Fensterscheiben, in die Ebene und auf die dunklen Tannenwälder, seine alltägliche Landschaft, schaut. Doch die Zufluchtsorte halten seiner Wahnvorstellung nicht stand. Seine Brüder machen sich vergeblich darüber lustig, wie er vor dem Schlafengehen zwanghaft seine Socken und Schuhe ordnen muss. Er tobt vor Wut, wenn sie auch nur einen Millimeter verrückt werden. In seinem geheimen Abendritual vor dem Einschlafen durchstreift er einen riesigen Wald und erreicht ein graues Schloss. Dort tötet er zwei Männer, vergewaltigt zwei Frauen, eine ganz in Schwarz gekleidete und ihre Tochter in weißen Schleiern, während ihre stöhnenden Klagen widerhallen. Er tötet sie langsam und brennt dann erbarmungslos das Schloss ab. Darauf flüchtet er, rettet sich, und bewahrt seinen Schlaf vor der Schlaflosigkeit.
So wie er sein schöpferisches Werk vor dem Unvermögen rettet.
Kleine Jungen waren schon immer von der Urszene gebannt.
»Von Eros und dem Kampf gegen Eros«, verkündet Freud. Wie soll man bei der älteren Frau im Traum nicht an die schwarzgekleidete, 32-jährige Annetta denken? Die andere erinnert an eine Braut. Alberto hat den Kristallsarg von Schneewittchen, der sie unerreichbar machte, zertrümmert. An wem rächt er sich?
Sein Sinn für die Herkunft aller Dinge treibt Alberto hin zur opferreichen und ekstatischen Höhlenkunst. Die Felsgravuren, die Kerben in den erotischen Graffiti faszinieren ihn. Sexualität und Reproduktion werden definitiv voneinander getrennt. Getrennt durch die sich in seinem eigenen Körper abspielenden Vorkommnisse.
Mit siebzehn Jahren erkrankt er an der Kinderkrankheit Mumps. Es gibt Komplikationen: Eine schmerzhafte Orchitis macht ihn zeugungsunfähig. Dieser dauerhafte und für einen Siebzehnjährigen traumatische Verlust trifft ihn hart und läutet gewissermaßen das Ende der Sexualität ein. Wie ein Totenglöckchen, dessen Töne zwischen den geliebten Bergen in der Unendlichkeit verklingen. Seine ganze sexuelle Energie wird dadurch gelähmt. In der Zeugungsgenealogie wird er den Weg eines anderen Abenteuers beschreiten. Sein Sperma und Blut werden in das noch ungeborene Werk einfließen. Sein tiefstes Inneres verdammt ihn zur Metamorphose. Durch seine Sehweise verwandelt er Nahes und Fernes, seine Betrachtungsweise entspringt seinem tiefsten Inneren. Seine eigene Wahrheit wird zum Nährboden, aus dem seine Werke wie Blumen sprießen werden.
Noch verdrängt er es, aber die jähe Erkenntnis der Folgen seiner Krankheit hat eine tiefe und schmerzhafte Spur gegraben.
Diese Bedrohung seiner Männlichkeit macht ihm den Alltag in Schiers unerträglich. Es gelingt ihm, vom Schulleiter eine Beurlaubung zu erwirken, um sich der Malerei und der Bildhauerei zu widmen. Diego war ihm zwei Jahre zuvor ins Internat gefolgt, aber die Schule gefällt ihm wenig. Er hat nicht das omnipotente Talent seines älteren Bruders und ist unmotiviert.
Sie verlassen alle beide die Schule.
In Stampa herrscht Frühling. Der Fingerhut blüht, die Margeriten werden mit »ich lieb dich, ich lieb dich nicht« abgezupft, von Apollinaire besungene bläulichviolette Herbstzeitlosen knospen, und der nicht wegzudenkende Apfel wartet zu Hause in der Obstschale. Die Jungen kauen auf Enzianwurzeln, Diego klettert, die Berge sind sein Element, und die Gipfel ziehen ihn magisch an. Er ist zum Vorsteiger prädestiniert … Alberto ist nicht schwindelfrei und eilt ins väterliche Atelier.
Winzige Birnen, Birnen der Angst
Vater und Sohn erleben ihre erste maltechnische Unstimmigkeit. Sie kündigt eine lange und angsterfüllte Suche bei Alberto an, die keiner von beiden vorhersehen konnte. Alberto will Birnen zeichnen, die direkt vor ihm liegen. Die Birne als bloßer Gegenstand hält ihn in Bann: Er kann es nicht überwinden. Seine Birnen werden immer kleiner. Als Giovanni ihn tadelt, was in ihrer Beziehung selten vorgekommen ist, radiert Alberto alles weg und beginnt unermüdlich von vorn: Die Birnen geraten ihm beim Zeichnen so winzig klein, dass sein Vater wütend wird. Und weil er seine Begabung kennt, beschwört er ihn, sie »lebensgroß« zu zeichnen. Aber keine Bearbeitung hilft. Albertos Versuche sind vergebens, und er zeichnet die Birnen fast millimetergenau so klein wie beim ersten Versuch.
Alberto war gesprächig und hat immer wieder diese Szene, die das Ende seiner Kindheit markiert, geschildert: Auf den unberührten Schnee als Symbol für kindliche Unschuld folgt der Treibsand im Sinne unkontrollierbarer Triebe. Die reine Kraft, die er aus dem Atelier des Vaters schöpfte, kehrt sich gegen ihn.
Ein Abgrund tut sich vor ihm auf. Die Szene ist Ausdruck seiner subjektiven Undankbarkeit dem Vater gegenüber, seine Birnen als Sinnbild für seine Kunst müssen von Albertos Ängsten begleitet reifen. Das Paradies der gemeinsamen Kunstauffassung weicht und wird entweiht. Sein Vater und er sind eins. Giovannis Güte ihm gegenüber, sein Stolz, ihn als Sohn und Schüler zu haben, die lange Zeit der Intimität im Atelier hinter und vor der Staffelei kündigen das Massaker an. Welches obskure Objekt der Begierde kann sie trennen?
Der Drang ist übermächtig; Alberto muss reproduzieren, was er sieht, wie er es sieht, unabhängig davon, was er gelernt hat. Bereits jetzt setzt er sich mit dem Thema Distanz auseinander,seiner ganz persönlichen Erinnye. Sie wird ihn zeit seines Lebens verfolgen. Er steht am Anfang seiner eigenen großen Herausforderung, weitere Abgründe tun sich auf. Die winzigen Birnen sind Vorzeichen: Ihn erwartet die Durchquerung der Wüste.
»Ich beherrschte meine Sehweise, es war paradiesisch. Das hielt an, bis ich achtzehn, neunzehn Jahre alt war. Bis ich den Eindruck hatte, dass ich überhaupt nichts mehr zustande brachte.« Die Kunstauffassung des Vaters, die er geteilt hat, setzte sich zwangsläufig in seiner Suche nach der eigenen schwindelerregenden Wahrnehmung fort. »Ich muss genau so malen, wie ich die Dinge sehe.«
Die in den Gemälden seines Vaters abgebildeten oder vor ihm auf dem Tisch liegenden Früchte leisten ihm zwar keinen Widerstand. Davon zeugen das Porträt Ottilias, seine nähende Schwester, sein Ölgemälde Bruno mit der Haselnussflöte, das Stillleben mit Apfel, das er nur mit seinem Vornamen Alberto signiert.
Es folgt sein erwartungsvolles Selbstporträt, in dem er verklärt, fast hypnotisch wirkt. Doch der Kampf mit der Dimension hat begonnen.
Im Sommerhaus in Maloja tanzt er nicht. Mit geballten Fäusten starrt er auf die anderen, lässt seine Brüder mit dem Mädchen seiner Wahl tanzen. Er betrachtet sie in Gedanken versunken.
»Von Kindheit an ließ uns unser Vater alles machen, was wir wollten. Er gab uns einen Rat, wenn wir ihn darum baten, aber nie mehr … – Willst du Maler werden?, fragte mich mein Vater. – Maler oder Bildhauer, antwortete ich.«
Der unerschütterliche und sanftmütige Giovanni schickt ihn auf die Kunstschule in Genf. Alberto hält es dort nicht lange aus. Der konventionelle Unterricht stößt ihn ab. Den nackten menschlichen Körper auf die Leinwand zu übertragen ist für ihn pure Routine. Loulou steht Modell, dick und aufgedunsen. Der Lehrer ist irritiert, weil Alberto sich darauf versteift, nur einen der Füße des Modells – und zwar riesenhaft groß – zu zeichnen. Er kann nicht gleichzeitig das Ganze und das Detail wiedergeben.
Was sich wiederholt, hat immer eine Bedeutung. Hier beginnen die Mechanismen, durch die sich Alberto zunehmend vom maßstabsgetreuen Abbilden entfernt. Die Ereignisse mit den Birnen und Loulous Fuß offenbaren den obsessiven Charakter seiner Vision, die den anerkannten Techniken der Malkunst trotzt. Er, der so begabt ist, lehnt sie ab. Ein trotziger Mut hat von ihm Besitz ergriffen: In der Bildhauerei-Stunde stößt er an seine Staffelei, und der schwere Metallhammer fällt ihm auf den Fuß. Er hebt ihn auf und arbeitet mit schmerzverzerrtem Gesicht weiter. Albertos Unduldsamkeit sich selbst gegenüber ist grenzenlos und kontert die große Nachsicht seines Vaters.
Giovanni ist tolerant und übt einen positiven Einfluss auf Alberto aus. Er schlägt dem Widerspenstigen die Handwerkerschule École des arts et métiers vor, wo es Alberto besser gefällt.
Giovanni wird als renommierter und anerkannter Maler von der eidgenössischen Kunstkommission im Mai 1920 zur Biennale nach Venedig gesandt. Er war noch nie in Venedig gewesen.
Sein dringlichster Wunsch ist es, Alberto mitzunehmen.
Vater und Sohn reisen gemeinsam ab. Der Mann, durch den Alberto den goldenen Felsen entdeckte, enthüllte ihm den Eingang der Höhle; der Mann, der ihn im heimischen Atelier in die Zeichenkunst einführte, offenbart ihm jetzt Venedig.
Venedig
»Ich erinnere mich noch an ein beeindruckendes Erlebnis während der Reise, wie ich in einem kleinen Bahnhof zwischen den Hügeln der Brianza die Sonne als riesigen, roten Ball knapp über dem Horizont im grauen Dunst verschwinden sah, und wie ich bei meiner Ankunft in Venedig staunte über das blasse, durchschimmernde Grau, die graugrüne Kuppel der Kirche gegenüber dem Bahnhof – alles sah zerbrechlich und leicht verwittert aus.
« Zwischen den sanften Hügeln entdeckt er, ein Sohn Graubündens, das Grau, das zum wesentlichen Element seiner Malerei werden wird. Auch Zerbrechlichkeit und Verfall werden seine treuen Begleiter bleiben. Giovanni führt ihn nach Italien, ins Mutterland aller Künste, in der chiara lingua de la mamma.
Der Vater eilt zu den erhabenen, von Blutrot dominierten Gemälden Tizians. Alberto fühlt sich weder von Tizian noch von Veronese angezogen, aber Tintoretto beeindruckt ihn zutiefst:
Sein wildes Ungestüm, seine dämonische Düsterheit, seine in Halbschatten getauchten Massen neben dem hektischen Toben der Welt und dem Gewirr der Lanzen, der Engel, der zu dem am Boden zwischen den Folterinstrumenten liegenden Sklaven herabsteigt, enthüllen ihm seine eigene Weltsicht:
»das wahrhaftige Abbild der mich umgebenden Wirklichkeit.
Ich liebte ihn mit einer ausschließlichen und parteiischen Liebe.
« Wie ein Feuer brennt sich diese Malerei in sein Bewusstsein ein, in sein Leben, genauso unerbittlich wie dieses Abbild. Jedes seiner Bilder muss Alberto gesehen haben, selbst wenn sie in der hintersten Kirchenecke hängen. Noch am letzten Tag rennt er zur Kirche San Giorgio Maggiore und in die Schule von Sankt Rochus, »als ob ich mich von ihm verabschiedete, so wie man sich von seinem allerbesten Freund verabschiedet«.
Alberto ist von dieser Malerei leidenschaftlich erfüllt. Seiner bedingungslosen Hingabe wird ein herber Schlag versetzt, als er die Arenakapelle in Padua betritt. Zu seinem eigenen Entsetzen ist er von Giottos Werken derart überwältigt, dass er es als Verrat an seinem geliebten Tintoretto empfindet. »Ich wurde von Giottos Kraft unwiderstehlich in Bann gezogen, ich war von diesen statuarischen Figuren, die die Dichte von Basaltgestein hatten, mit ihren präzisen, absolut wahrhaftigen, bedeutungsvollen und oft unendlich zärtlichen Gesten wie am Boden zerschmettert.« Die Hand Marias, die die Wange ihres toten Sohnes berührt, erregt ihn leidenschaftlich: Die Erscheinung ist für ihn das Spiegelbild der Hand seiner Mutter, seiner vielgeliebten Annetta. »Mir kam es so vor, als ob es nie eine Hand geben könne, die in einer vergleichbaren Situation eine andere Geste vollführe.« Seinen Tintoretto will er aber nicht verlieren.
Sein innerstes Sehnen weist ihm seinen Lebenszweck.
Die Wolke
Biancas Ungeduld wächst, und in Alberto wächst das Gefühl einer unerträglichen Ohnmacht: »Der Kopf des Modells vor mir wurde wie eine schemenhafte Wolkenmasse.« Die Wolke hüllt ihn in eine unheilvolle, diabolische Zwangsjacke.
Er holt sich eine Hure nach Hause, um sie zu zeichnen, dann schläft er mit ihr. Es ist das erste Mal. »Der Höhepunkt der Begeisterung ließ mich buchstäblich explodieren. Ich fing an zu schreien: Das ist kalt, mechanisch.« Aber er hat nichts zu befürchten.
Dieser Mechanismus wird sich zeit seines Lebens wiederholen.
Alberto wird ein unzertrennlicher Freund der Prostituierten.
Bianca kommt ihrem gebieterischen Cousin nicht bei. Frech und brutal versetzt sie der Gipsfigur einen Schlag, sie fällt um.
Vom Gefühl getrieben, wird er zum ewigen Spaziergänger, zu einem Voyeur, der den Mädchen auf der Straße nachschaut. Wie könnte er es ahnen? Er sollte es sein, der ihre Doppelgänger ins Leben rufen wird. Aus dem geheimnisvollen Rätsel und der Unendlichkeit des Weiblichen entstehen die Skulpturen der Frauen von Venedig, die jenseits aller Proportionen liegen. Auf der Leinwand seiner späteren Porträts kontrastiert der immense Raum dieser mysteriösen Stille, der aus dem Gemisch der Grautöne entsteht, mit dem Getümmel der harten Linien, seinem Bezug zu den Lebenden durch die Prostituierten.
Er kehrt zurück auf die Schulbank der Kunstschule in Genf, aber er hat nur einen Traum: wieder nach Italien zu gehen. Und das tut er. Alberto will sich in Florenz einschreiben, aber in keinem Institut ist ein Platz frei. Es herrscht klirrende Kälte. Seine Verwandten aus Rom nehmen ihn in ihrem Haus in Monteverde auf. Der große Garten mit seiner Zeder aus dem Libanon tut es ihm sofort an, und vor allem seine fünfzehnjährige Cousine Bianca.
Er ist neunzehn und überschwänglich. Er legt seine abgetragene Kleidung ab, und besorgt sich, nachdem er aus Respekt vor möglichen Einwänden der Familie nach Hause geschrieben hat, einen eleganten Herrenanzug mit Gehrock sowie Schal und Handschuhe, Zigaretten und einen Spazierstock, den er durch die Luft wirbelt, macht davon eine Zeichnung und schickt sie den Eltern. Atelierstunden sind teuer, die Einschreibefrist ist abgelaufen, aber er wird Mitglied des Circulo Artistico und darf zwei Stunden lang zeichnen, während jemand Modell steht.
Der junge Mann, dem alles gelingt, macht sich an eine Büste von Bianca. Die junge Wilde wird ungeduldig und bewegt sich ständig. In Wirklichkeit steht er vor einer unmöglichen Aufgabe: »Mir entschwand die Realität.«
Alberto zerschmettert sie vollkommen entnervt in tausend Stücke und wirft sie weg. Die erste Zerstörung eines seiner Werke, die tausend weitere ankündigt: Wenn seine Arbeit schlecht läuft, handelt Alberto klarsichtig und rigoros. Lieber ein karges Leben, als dass er Blendwerk erschafft.
Alberto verlässt Rom und reist in Begleitung eines jungen Engländers nach Süden. Von Neapel ist er begeistert, aber noch mehr von der Besichtigung von Paestum Anfang April 1921.
Dessen dorischer Tempel zwischen Pinien- und Oleanderbäumen offenbart ihm den menschlichen Riesen: Er steht zwischen den Säulen, »die metrische Größe wird unwichtig«. Was er intuitiv sucht, was später »seine eigene« Dimension werden sollte, das trifft er hier, zwischen den Göttern.
Im Morgenzug nach Pompeji beginnen die beiden Freunde eine Unterhaltung mit einem vornehmen Herrn mit weißem Haar, der nach Neapel reist. »Alles kommt von außen«, prophezeit Cioran. Diese kurze Reise hat etwas Altertümlich-Augurenhaftes.
Der Herr ist von Albertos Redegewandtheit und seiner Leidenschaft fasziniert. Alberto fährt mit seinem Freund weiter nach Pompeji. Die Mysterienvilla verkörpert für ihn, was der geliebte Gauguin seinem Vater war. In Pompeji hat sein Vater mühsam mit der Malerei begonnen, und Alberto begibt sich unbewusst auf dessen Spuren.
Die Schauplätze. »Alles, was ich bis heute gemacht habe,
war nur Masturbation.«
Es gibt immer mehrere Schauplätze: Der sichtbare, lebendige Schauplatz entfacht Albertos Rebellion gegen Breton und führt zu seinem endgültigen Bruch mit der Gruppe. Und dann der andere, so intensiv erlebte, verborgene Schauplatz, der die große Wende bewirkt.
Der römische Gott Janus, Dämon der Pforten und Gott des Neubeginns, bleibt alleiniger Wärter der Türen und Tore: Er öffnet und schließt die Pforten dieses Jahres 1934, in dem der Monat Dezember von kapitaler Bedeutung sein wird.
Im Sommer geht Alberto in Begleitung von Max Ernst zurück nach Maloja, um gemeinsam Moränensteine des nahegelegenen Gletschers für ihre Skulpturen auszuwählen. »Steine sind voller Eingeweide«, sagt Arp. Wer weiß das besser als Alberto?
Granitblöcke, Monolithen, vom Monolith des wohlwollenden Vaters in der Vergangenheit bis zum väterlichen Grabstein, der endlich mit einer Inschrift versehen wurde.
Im Herbst 1934 kommt Albertos Unsichtbarer Gegenstand nach New York, mit weiteren zehn Skulpturen, darunter Blickender Kopf von 1927. Es ist die Entscheidung Julien Lévys, eines amerikanischen Kunsthändlers, der auf den Surrealismus spezialisiert ist. Die Ausstellung wird im Dezember eröffnet.
Nichts wird verkauft.
Alberto hat begonnen, an einzelnen Köpfen in Lebensgröße zu arbeiten. Er will Herr seiner Besessenheit werden und ihr endlich Ausdruck verleihen. Er müht sich ab, ungeachtet des Unverständnisses seiner surrealistischen Freunde. Tanguy glaubt, dass er verrückt geworden sei. Breton sieht in seinem Bedürfnis nur Überreste aus der Vergangenheit und tut einen berühmten Ausspruch: »Jedermann weiß, was ein Kopf ist.« Genau das weiß Alberto nicht. Er sucht.
Es geht darum, an die Arbeit seines Vaters vor dem Modell anzuknüpfen. Von nun an hat er kein anderes Ziel, als zu versuchen, einen menschlichen Kopf darzustellen.
Die Surrealisten sind verrückt nach seinem Unsichtbaren Gegenstand, seine Königin Karomama mit toten Augen und leeren Händen. Bei Alberto bleibt ein Unbehagen zurück: »Diese Lieblingsstatue von Breton hat wieder alles in meinem Leben durcheinandergebracht. Ich war mit den Händen und dem Kopf dieser Skulptur zufrieden, weil sie genau meiner Vorstellung entsprachen. Aber die Beine, der Oberkörper und die Brüste, damit war ich überhaupt nicht glücklich. Sie waren mir
zu akademisch, zu konventionell. Und ich bekam wieder Lust, nach der Natur zu arbeiten.«
In zwei Teile zerteilt: einerseits die Hände und der Kopf, andererseits … Kann er es noch deutlicher sagen? Vor ihm liegt das Rätsel, und er kann den Versuch, es zu lösen, nicht noch einmal aufschieben.
Es langweilt ihn, surrealistische Werke hervorzubringen, er hat das Gefühl, dass es mit ihm bergab geht, und gesteht unumwunden seine Angst ein, »sich auf die falsche Sache eingelassen zu haben«. Breton sieht rot. Der Sohn eines Polizeibeamten findet Gefallen daran, unter seinen Anhängern für Ordnung zu sorgen, und Albertos Bemerkungen missfallen ihm zutiefst. Als Aragon, auch der – uneheliche – Sohn eines Polizeipräfekten,1932 von den Surrealisten ausgeschlossen wird, tritt Alberto für seinen Freund ein, und übergibt ihm unter dem Pseudonym Ferrache wilde antikapitalistische Zeichnungen mit Karikaturen von Prälaten und Bankiers, dargestellt als Wucherer. In dem Moment, in dem Breton sich intensiv mit dem Unsichtbaren Gegenstand befasst und darin die Kristallisation seiner poetischen Bemühungen erkennen will, schreibt Alberto: »Ich betrachte mich nicht mehr als Mitglied dieses Vereins … Mit der A.E.A.R. verbinde ich nur noch die Vorstellung einer morschen Leiter, die aus einem Tümpel herausführt.«
»Und tatsächlich«, schreibt Rilke »liegt ja künstlerisches Erleben so unglaublich nahe am geschlechtlichen, an seinem Weh und seiner Lust.« Vom tosenden Gebirgsbach bei Alberto bis zur windgebeutelten Insel bei Sam kann nur die künftige Geburt ihres Werkes verhindern, dass sich ihre Lust in Wut verwandelt.
»In einem Schöpfergedanken leben tausend vergessene Liebesnächte auf.«
Man Ray, der amerikanische Surrealist aus Chicago, Brassaï, der Ungar, Eli Lotar, der uneheliche Sohn eines berühmten rumänischen Dichters, Cartier-Bresson, der normannische Bourgeois, sie alle halten mit ihren Fotografien dieser unverbesserlichen Spaziergänger im nächtlichen Montparnasse-Viertel, ihre Stadtstreicher-Uniform und das gierige Leuchten in ihren Gesichtern fest.
Aus Becketts Wohnung blickt man auf das Gefängnis Prison de la Santé, und er beobachtet die Sträflinge, die sich Nachrichten zuschicken, indem sie an Bindfäden befestigte Dosen entlang der Mauer schwenken. Becketts Tanz der Sträflinge beginnt hier …
Nichts dergleichen im Atelier von Picasso in der Rue des Grands-Augustins, wo der Meister den wortgewandten Alberto gern ein- und ausgehen sieht. Er weiß mit Sicherheit, dass dieser Besucher ihm nichts schönreden oder irgendwelche Zugeständnisse machen wird. Sie sind beide Künstler und Söhne von Künstlern; sie wissen, wovon sie sprechen. Der Oger kann seinen Rachen nie voll genug bekommen. Picasso malt seit sechs Monaten nichts mehr; ihn plagen die unglücklichen Scheidungsverhandlungen mit seiner russischen Ehefrau Olga – seine Geliebte Marie-Thérèse hatte kurz zuvor ihre gemeinsame uneheliche Tochter Maya bekommen. Mit seinen 53 Jahren entflammt sein Herz für die junge und talentierte Fotografin Henriette Markovitch, die 28-jährige Tochter eines kroatischen Architekten. Sie ist besser unter dem Namen Dora Maar bekannt und hat sich gerade erst von Georges Bataille getrennt. Es entsteht eine stürmische Beziehung, deren lohnendes Ergebnis Picassos leidenschaftliche Rückkehr zur Malerei ist.
Im Herbst 1935 findet im Café Les Deux Magots seine legendäre Begegnung mit Dora Maar statt. Sie ist im Milieu der Surrealisten, der Mode und der Werbung berühmt und steht Brassaï, Man Ray, Cartier-Bresson und Jacques Prévert nahe, die von ihren Fotos begeistert sind. Sie fotografiert das Elend in den Straßen von Barcelona, Paris und London, arme Kinder, Humpelnde, Blinde und Bedürftige; die Blindheit der Menschen
lässt der Rebellin keine Ruhe. Aber ebenso ist sie von allem Schönen angezogen, wie zum Beispiel von Nusch, der Ehefrau von Paul Éluard mit ihrem schlanken Körper, ihrem ätherischen, zarten Gesicht, das in Doras Fotografie mit Doppelbelichtung von einem Spinnennetz bedroht wird … »Die Jahre zerrinnen.« Es ist so dunkel ohne Liebe.
Ihre enge Freundin, die blonde Jacqueline Lamba, eine ehemalige Mitschülerin in der Kunstgewerbeschule und Unterwassertänzerin im Pariser Revuetheater Coliséum in der Rue Rochechouart, hat Breton geheiratet. Dora setzt sie auf einer Fotografie in einem Türrahmen in Szene, wie eine Madonna inmitten von dichtem Blattwerk.
Paul Éluard stellt Dora Picasso vor. Sie trägt ihre schwarzen mit rosa Blümchen verzierten Handschuhe, zieht sie aus, nimmt ein langes Messer, das sie in den Tisch zwischen ihre auseinandergestreckten Finger sticht, ihre berühmten Hände mit perfekt manikürten Fingern und purpurrotem Nagellack … Ab und zu verschätzt sie sich um einen Millimeter, und Blut tropft auf den Tisch. Picasso ist fasziniert von ihrem Spiel voller erotischer Spannung, das einem Opferritual gleicht, und er wird ihre Handschuhe in einer Vitrine aufbewahren.
Er schreibt in der Kunstzeitschrift Cahiers d’art: »Junges Mädchen, ein schöner Schreiner, der Bretter mit Rosendornen nagelt, weint keine Träne, wenn das Holz blutet.«
Ihr ovales Gesicht, ihre raue Stimme, ihre hellen, undefinierbar grün-bronzefarbenen Augen, zwischen Lichtreflexen des Himmels und dunklen Spiegelungen, ihre transparente Haut blenden den kohleschwarzen Blick Pablo Picassos. Er fängt Feuer, spricht sie auf Französisch an, und Dora antwortet in ihrer Muttersprache … Die stolze Liebe Doras, in stetem Konflikt zwischen dem zur Schau Getragenen und dem Verborgenen, keimt auf.
Die waghalsige, linksradikale Aktivistin entzündet Picassos politisches Engagement neu und regt seine Rückkehr zur Fotografie an, die er seit den Fotogrammen aufgegeben hatte. Die rätselhafte Dora steht nicht Modell: Picasso hat sie verinnerlicht, er kennt sie in- und auswendig, und ihre Beziehung inspiriert ihn zu einer beeindruckenden Reihe von Frauenporträts, sitzend, mit Hut und grünlackierten Fingernägeln. Chimären, Sphingen und andere mythologische Figuren ziehen vorüber.
Ekstase und Orkane spielen sich tobend vor Albertos Augen ab.
Er dagegen kämpft mit sich selbst.
Dora Maar verführte den Meister mit ihrem Messerspiel.
Er nimmt sie mit nach Südfrankreich, wo die Sommergäste, die ihren ersten bezahlten Urlaub genossen, über dieses famose Paar in Entzückung geraten, wie sie beide am Strand den afghanischen Windhund Kazbek spazieren führen und Pastis schlürfen. Sie lässt sich die Haare im spanischen Stil wachsen, so wie er es mag, und er malt sie im Tupfenkleid und mit traditioneller andalusischer Frisur samt Mantilla und Blumenkrone.
Picasso sieht sich als Minotauros, und Dora wird seine Flehende:
Er überträgt ihr seine Tränen. Seine Geburtsstadt Malaga wird besetzt. Im April 1937 vereinen sich deutsche und italienische Fliegergeschwader mit faschistischen Truppen unter General Franco bei der brutalen Zerstörung der Baskenstadt Guernica, mitten in der Marktzeit. Picasso stürzt sich schäumend vor Wut in die Arbeit an seinem enormen Gemälde, das von der republikanischen Regierung in Auftrag gegeben worden ist und nach fünf Wochen fertiggestellt ist. Mal Modell, mal Spiegel, so teilt Dora Maar seine Gefühlswallungen im Spanischen Bürgerkrieg.
In Paris hat Dora ein herrliches Atelier in der Rue des Grands-Augustins Nummer 7 entdeckt, das sie bei ihrer Rückkehr von Südfrankreich für ihn mietet. Darin fotografiert sie ihren Helden. Die politische Barbarei verwandelt seinen künstlerischen Exorzismus und seine sexuelle Lust, und löst einen Bruch in seinem Werk aus. »Mittags war es so finster, dass man die Sterne sehen konnte …« Picasso malt seine Tränen, die er
einst als Anarchist in Barcelona vergossen hatte, in dem Bild Weinende Frau, das wie im Liebesrausch Gestalt annimmt. Die gezähmte Dora fotografiert jede Etappe des Schöpfungsvorgangs.
Ihr Minotauros verschlingt die Zeit, und sie dienen sich gegenseitig als Medium.
Alberto kommt oft in das riesige Atelier, in dem sich Porträts stapeln, auf denen Dora mit verzerrten Gesichtszügen zu sehen ist. Er klettert die steile, dunkle Treppe aus der berühmten Balzac-Novelle Das unbekannte Meisterwerk empor, die dieser Ort einst inspiriert hatte: Der Maler Frenhofer, der davon besessen ist, auf seiner Leinwand das Absolute wiederzugeben, zerstört das Gemälde und bringt sich dann selbst um … Dora ist ihm ergeben, aber sie hat, mit ihren stets lackierten Fingernägeln, diese Dreistigkeit im Blick, die mirada fuerte, wie Picasso es nennt. »Verachtungsvoll atmet ihr Körper seinen Ruhm in vollen Zügen ein«, schreibt Paul Éluard in dem ihr gewidmeten Gedicht; ihre körperliche Präsenz kann die lauernde Gefahr, »die Axt am Rande der Verletzung« nicht auslöschen.
Wenn Alberto das siegreiche Paar verlässt, führt ihn sein Weg dann zurück zur Tyrannei des Versagens? In seinem Schlupfloch wartet niemand auf ihn. Sie dagegen werden bald ins Hotel Vaste Horizon in Mougins zurückkehren und mit Paul Éluard, Nusch und den Bretons im Schatten des Schilfzauns in der Weinlaube zu Mittag essen. Alberto waren solche Ferienunbekannt, und sie werden es bleiben. Er kommt aus dem Land der Berggipfel und Tannenwipfel, Picasso aus dem Land der Feigen und Gitarren.
Picassos Grausamkeit gegenüber seinen Frauen verfolgt Alberto mit prüfendem Blick. Nach der Russin Olga und der sanften Marie-Thérèse, vor Françoise, die 40 Jahre jünger war als er, und vor seiner letzten Liebe Jacqueline spielt Picasso mit dem Messer. Er schreibt sein Theaterstück Wie man Wünsche beim Schwanz packt und weist Dora eine Rolle zu, die der Figur Magere Angst. Er macht aus seiner braunhaarigen Lebensgefährtin sein leidenschaftliches, williges Opfer, bevor Dora Adora – so nannte sie Paul Éluard (»adorer«: für jemanden schwärmen, jemanden anbeten oder verehren für immer die Zurückgezogene wird. Jeder wählt seinen eigenen Henker.
Raymond Mason scherzte eines Abends an einem Tisch im Café Les Deux Magots mit Alberto: »Alberto, ich verstehe jetzt, warum Sie immer Lobreden auf Matisse, Braque und Derain halten. Weil Sie eifersüchtig auf Picasso sind.«
Claude Delay
Alberto und Diego Giacometti
Die verborgene Geschichte
Aus dem Französischen von Tatjana Burr-Tilden
Römerhof-Verlag 2012
Hardcover 288 S.
CHF 38.00 | EUR 32.80
ISBN 978-3-905894-18-9
Ausgezeichnet mit dem Prix de l’Essai de l’Académie française und dem Prix Cazes (Brasserie Lipp Paris)