«Ann Cotten: Die Anleitungen der Vorfahren – Von Ökoschotter und schwarzen Lavasteinen zu gangbaren Wegen»
Von Ingrid Isermann
Als Ann Cotten im März am KI-Podium im Literaturhaus Zürich teilnahm, sprach sie vom Schreiben als energetischem Antrieb und der Sprachkompetenz des Menschen aufgrund von Sprache und Gedächtnis und den Grenzen des Sprachsystems ChatGPT.
«ChatGPT weiss und versteht nichts von der realen Welt und die verfassten Gedichte wissen nicht, wo sie hinwollen, nämlich etwas auf den Punkt bringen zu können», sagt Ann Cotten auf dem Podium im Literaturhaus Zürich, zusammen mit Hannes Bajohr und Monika Rinck. ChatGPT ist ein kalter Kollaborateur ohne Gefühle, auch wenn OpenAI, das angeblich mit 10 Milliarden von Microsoft unterstützte Unternehmen im Silicon Valley, mit aller Kraft daran arbeitet, den Menschen zu überflügeln und bereits 100 Millionen User vorweisen kann.
Die ZEIT (30. März 2023, Nr. 14), gestaltet von der Künstlerin Hito Steyerl nach der Logik eines neuronalen Netzwerks, wie es für künstliche Intelligenz genutzt wird mit Input, Hidden Layers, dem Output und neuronalen Verbindungen, untersuchte die Auswirkungen auf die Gesellschaft durch die neue Technik und die Motivationen der IT-Branche und Bedingungen, unter denen Digitalspezialisten arbeiten. Die Debatte darüber, was erstrebenswerte Ziele technischer Statistiken und Anwendungen wären, findet noch kaum statt. Es brauche Vorschriften auf nationaler und internationaler Ebene, um gesellschaftliche Ziele im Allgemeinen und die Rechte der Arbeitnehmenden zu schützen.
Seltsam ist, dass die KI-Bildgeneratoren ein Problem mit menschlichen Händen haben. Soll der Computer eine Hand darstellen, fehlen Finger oder es gibt zuviele. Hände scheinen ein Hindernis zu sein, dass die KI nicht überwinden kann. Und es scheint ein Symbol dafür zu sein, dass eine Maschine nicht begreifen kann, was eine Hand greifen kann. Denn greifen und begreifen hängen zusammen. Und Schreiben ist letztlich ein Handwerk, ein solides Handwerk gemäss Kopf, Hand und Herz nach Pestalozzi.
Bisher haben politische Entscheidungsträger sich mit dieser wichtigen Thematik, auch des Urheberrechts, nicht beschäftigt. Die Sprache gehört den Menschen und nicht den Maschinen. Die Generative Pretained Transformer (GPT) der Chatbots bedeutet im Grunde nichts anderes als das in ihren Algorithmentürmen gespeicherte gigantische Datenmaterial umzuschreiben.
In ihrem neuen Gedichtband reflektiert Ann Cotten über koloniale Vorgeschichten, eigene Erfahrungen während ihres Aufenthaltes auf Hawaii und die Anleitungen der Vorfahren: «Was sagen sie, was – wohin fallen sie, dahin fallen wir auch – und dann sagen wirs nicht».
Ein Buch, das man nicht so schnell aus der Hand legt und das die Erlebniswelt mit Empathie austestet, wie Einfühlsamkeit in andere Kulturen und wie das Fremde zum Eigenen werden kann, wenngleich Aneignungen in Gender-Stereotypien schnell unter Verdacht stehen. Ann Cotten begegnet diesen Sprachfallen assoziativ und doppeldeutig.
Die künstlerische Intelligenz und die neuronalen Strukturen und Potentiale des menschlichen Hirns sind der künstlichen Intelligenz der Algorithmen auch wertemässig weit überlegen, nicht aber den kommerziellen Potentialen der künstlichen Chat-Intelligenz, die letztlich einem politischen und kulturellen Konformismus dient.
Der Blackbox der Chatbots steht die Schwarmintelligenz der Lyrik entgegen, die die wahren Überraschungen vorprogrammiert.
Schweigen
Was sie sagen,
die Vorfahren,
geht uns vielleicht gar nichts an.
Wir sehen, was sie tun, was sie taten,
aber ob sie es waren?
Ich könnte in die Bibliothek gehen
und lesen, was eigentlich gemeint war,
und schreien.
Ich könnte die Blödheit im Schnitt der Steine,
vermergelt mit Weisheit, erkennen
und schreien,
eingemauert in diese Geschichte.
Es muss Geschwister geben (alle so Schwesta, Bruda, Cousin)
unterschiedlich reagierend auf den gleichen Schas,
gleich (gemeinsam) im Unterschiedlichen,
und ich bin blöde zu meinem Glück
wie ein Götterbaum ein, zwei Meter wachsend im Jahr,
das kann ich,
mit dem ganzen Körper in die Bewegung lehnen.
Die Anleitungen: Was sagen sie, was – wohin fallen sie,
dahin fallen wir auch – und dann sagen wirs nicht.
Schau mich an,
wir sind die Ruinen
für alle Idyllen
wir sind die Minen
für Ironie
Ökoschotter
Über diese Trümmer zu gehen, macht Mühe,
werfen sie doch die Beine dahin, dorthin,
somit den Körper, der die Beine zusammenhalten muss.
(…)
Gangbare Wege zu bauen implizierte nämlich
lauter – notwendig schotterhafte – Ausnahmen über
Annahmen über die, die den Weg benützen sollen.
Benützen sollen, obwohl man nichts vorschreiben soll.
Ein Schritt nach dem anderen ist ungefähr das Äusserste,
was man einem anderen an Gedanken zumuten soll.
Ein Weg ist ein Weg, und ein breiter Weg ist ein breiter Weg.
Er behindert den klassischen Guerillakampf und befördert
– befördert im wörtlichen Sinn –
Massenaufstände ebenso wie die Bewegungen von Truppen.
So entstehen die tastenden Beziehungen,
wo das Nonplusultra ein unendliches Abtasten des Anderen,
des Körpers des Anderen und auch des Geistes des Anderen ist.
Ökoschotter heisst es von aussen, von innen Nonplusultra
oder Spiritualität, also heisse auch dieser Text
von nun an nicht mehr Ökoschotter, sondern Nonplusultra.
(…)
Delirium oder Gerontophilie
Die Willkür alter Männer ist wie ein Schaf im Schafspelz
in einem Gabelstapler.
Die Willkür alter Männer ist wie ein alter Freund, der auf der Ferse
umwendet,
um dich nicht zu treffen.
Die Subjektivität dieser alten Männer
ist wie die alten Frauen
nur ohne Gefahr für sich selbst
und mit einem Urinbeutel für die Würde.
Die Willkür und Subjektivität alter Männer
nutzt Vorteil automatisch
wie ein selbstgesteurter Gabelstapler,
auf dem jemand sitzt und labert.
Die Willkür und Subjektivität alter Frauen sitzt in Löchern,
neben denen je ein Hase mit einer Eisenstange wartet.
Sobald die Frau den Kopf herausstreckt: Bang.
Dieses uralte Wissen tragen die Frauen mit sich,
auch wenn sie in Etagenbüros wüten.
Die Willkür alter Männer sitzt auf Panzern und Maschinengewehren,
und man weiss nicht, ob sie damit umgehen können,
oder nur jedne erschiessen, dier daran zweifelt.
(…)
Wie schnell die Zeit vergeht – ich treib sie an mit Peitschenhieben.
Wie eine Kreisel eiert sie durch Gegend.
Da stehen Häuser, fallen Menschen, fallen auf und zu.
Wir werden fallen, doch wir fallen bitte redend.
(Auszug)
Aloha ‚Aina
Von den Pflanzen hier sind die meisten nicht einheimisch. Von den Menschen ist ein guter Teil nicht einheimisch. Die meisten
tragen Gene von Vorfahren aus aller Welt. Was zählt, ist die Haltung, was böd aussieht, Unbelecktheit. Ob sich die nun in Grobheit oder in Überkandideltheit ausdrückt. Blässe, behütete Haut. Verwitterte Haut über kindlichen Ideen, das geht. Der Bus, mit dem sier jeden Tag über den Pali pendelt, ist wie ein Labor für gegenseitige Wahrnehmungen von Stilen, deklarierten und undeklarierten Zugehörigkeiten, Bluffs und Understatements. Wut oder Sanftmut, unter der eine eiserne Kraft liegt.
(Auszug)
Ann Cotten wurde 1982 in Iowa/USA geboren und wuchs in Wien auf. Ihre literarische Arbeit wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hugo-Ball-Preis 2017 und dem Gert-Jonke-Preis 2021. Sie lebt in Wien und Berlin.
Ann Cotten
Die Anleitungen der Vorfahren
edition suhrkamp SV, Berlin 2023
Paperback, div. s/w-Fotos, 157 S., CHF 26.90
ISBN 978-3-518-02981-7