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«Anna Maria Carpi: Entweder bin ich unsterblich»
Von Ingrid Isermann
Anna Maria Carpi, *1939 in Milano, schreibt vom gewöhnlichen Leben. In ihren Gedichten lauert eine heitere Verzweiflung: an Nicht-Orten wie Supermärkten oder Flughäfen, in den urbanen Landschaften von Mailand und Venedig, beim Abendessen in der eigenen Wohnung. Selbst die Liebe ist, wo «niemand niemanden genügt», nichts als ein schöner Aberglaube. Ironisch blickt Carpi auch auf jene, die an das Ewige in der Poesie glauben.
Die zwischen Alltag und Existenziellem mäandernden Texte scheinen in ihrer Melancholie treffend, doch nicht hoffnungslos. Dafür sorgt zum Beispiel das Dialogische, das Streitgespräch zwischen Christentum und Kommunismus, das die Dichterin immer mal wieder in den Texten führt. Manche der Gedichte erscheinen wie Romane, Liebes- und auch Kriegsromane. Aus dem Italienischen von Piero Salabé. Mit einem Nachwort von Durs Grünbein.
Es kommt von einem fernen Klang
Aus dem Haus, vom hinteren Zimmer,
oder ist es ein inneres Zucken
oder der junge Götterbaum
da draussen schwankend, wo der Park beginnt,
wildgewachsen, überall Wurzeln schlagend,
rücksichtslos.
Woher kommt sie, von mir ungesehen,
diese Hoffnung
ich weiss nicht worauf,
diese plötzliche Freude,
ausserhalb des Herzens,
fremd
singend
ihr endloses Recht zu sein?
Venedig war ihr Name,
doch von Campo zu Campo,
niemand ist mehr geblieben.
Nebel vom Wasser und Rauch,
letzter Saum des Kleides
eines weder guten noch bösen Gottes.
Gott ist gleichgültig und treibt gesichtslos
mit dem Wind aufs Festland,
wo auch ich herkomme.
Auch von den Plänen gegen das Meer
hatten sie genug.
Jetzt ist das Meer gekommen.
Ihr Name war Venedig.
Wer ist hier nicht gewesen, wer hat es nicht erobert?
Sie kamen sogar von den Steppen.
Und es gab nichts als Tavernen,
Geldwechsler und Tand.
Wie Kuba, Haiti zur Zeit der Piraten.
Doch wen kümmerte das?
Das Schlimmste waren nicht die Durchreisenden,
die Bewohner
waren das dunkle Übel.
Dorsoduro um die Salute herum,
eine Hochburg der Harlekine.
Die letzten Freunde
sind aufs Festland gezogen.
Unten auf dem Campo sehe ich,
wie im leeren Haus der Wind ein- und auszieht.
Auch mein Kätzchen ist fort,
auf dem Festland.
Keine Giudecca vor mir,
die spärlichen
schwachen Lichter
sind von Wegziehenden.
Wer sind wir, wo sind wir, Kontinent,
Stadt, Wohnung, auf welchem Stock und welchem Handy:
einen nach dem anderen werden sie uns wiederfinden,
verstreute Fäden, in der Nacht der Zusammenkunft,
wirre, verfranste Fäden,
werden wir uns hindurchzwängen durch das Nadelöhr,
zu weben die Teppiche des Ewigen.
Wollust habe ich erfahren, auch Leidenschaft,
im Verschlossenen, in einem Zimmer,
zwischen Decke und Atem.
Wie spät? Und schon wurde es dunkel.
Ich weiss, es war schön:
Jetzt macht es mir Angst.
Was war die körperliche Liebe? Nichts. Nichts war passiert.
Allein das Wort Frau bestürzte mich:
das bin nicht ich,
lass mich gehen.
Vermeintliche Liebhaberin, lauschend,
auf die Geräusche von draussen,
du Herz, hellhöriges
für die Spiele der
Freunde im Freien.
Die Freude ist mehr als jede Wollust,
ich will sie alle – das Auge
fliesst über
in sich selbst, wenn es sie sieht.
Darin vielleicht
bin ich ein Kind meiner Zeit,
in der niemand niemandem genügt.
Anna Maria Carpi
Entweder bin ich unsterblich
Gedichte
Aus dem Italienischen von Piero Salabè
mit einem Nachwort von Durs Grünbein
Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, 2015
CHF 22.90
ISBN 978-3-446-24738-3
Anna Maria Carpi wurde 1939 in Mailand geboren, wo sie auch heute lebt. Sie stuiderte Germanistik und Slawistik in Mailand, Bonn, Mainz und Tübingen und unterrichtete deutsche Literatur an der Universität Venedig. Carpi ist u.a. Autorin von drei Romanen, einem Erzählungsband, einer Kleist-Biographie und mehreren Gedichtbänden. Sie übersetzte u.a. Gottfried Benn sowie die Lyrik von Friedrich Nietzsche und Hans M. Enzensberger. Anna Maria Carpi wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2013 wurde sie in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gewählt. www.annamariacarpi.org