«Antje Rávik Strubel: #MeToo, Machtmissbrauch und Sprachlosigkeit»
Von Ingrid Schindler
Die Kritik feiert Antje Rávik Strubels «Blaue Frau» euphorisch als hochliterarisches Werk von existenzieller Wucht. Der Roman wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet und macht es dem alten weissen Mann wieder sehr ungemütlich.
Antje Rávik Strubels Roman «Blaue Frau» ist vordergründig die Geschichte der Bewältigung einer Vergewaltigung. Die junge Tschechin Adina (Nina, Sala) ist «der letzte Teenager in Harrachov im Riesengebirge». Sie verlässt ihre Heimat, geht nach Berlin und landet als Praktikantin in einem Kulturprojekt in der Uckermark. Nachdem sie dort von «Kulturbotschafter» Johann Manfred Bengel missbraucht wird, bricht sie traumatisiert ihre Zelte ab und strandet auf der Flucht vor dem Geschehenen als illegale Aushilfskraft in der Abstellkammer eines Hotels in Helsinki.
Dort begegnet sie dem estnischen Professor der Politikwissenschaft und EU-Abgeordneten Leonides, der pikanterweise Beauftragter für Menschenrechtsfragen ist. Zwischen den beiden entspinnt sich eine Liebesbeziehung. Adina zieht in das komfortable Appartement des kultivierten Lebemanns, «schlief nur mit ihren Händen mit ihm» und verlässt ihn in dem Moment, als sie Bengel, einem «wichtigen Multiplikator», wie Leonides sagt, wiederbegegnet – Leonides soll ausgerechnet ihrem Vergewaltiger einen Kulturpreis verleihen. Daraufhin verkriecht sich Adina in einen düsteren Plattenbau in Helsinki und bricht den Kontakt zu Leonides ab. Sie kapselt sich ein und versucht dabei doch, das Unaussprechliche zur Sprache zu bringen. Nur Schnaps lässt sie Schmerz, Ohnmacht, Scham und Sprachlosigkeit ertragen. Mit Schnaps fühlt sie sich durchsichtig, unsichtbar. «Sie trinkt. Das ist die Nahrung.»
Die Frau, die ins Signalhorn stösst
In Rückblicken beschreibt die Autorin die Irrfahrt der jungen Frau durch Europa. Wie eine Pathologin der Gerichtsmedizin seziert sie die Seelenzustände der Protagonistin, akribisch, nüchtern, emotionslos, gnadenlos. Sie lässt den Leser an den Auswirkungen des sexuellen Übergriffs und Adinas Versuchen der Bewältigung und Verdrängung teilhaben. Soll sie den Missbrauch melden oder schweigen, das heisst unsichtbar bleiben? Um diese Frage drehen sich Adinas Gedanken und ihre Gespräche mit Kristiina, einer Freundin Leonides’.
Die attraktive Kristiina will Adina helfen, ihren Fall vor Gericht zu bringen. Rávik Strubel zeichnet sie als starke, engagierte, mutige Frau, «die ins Signalhorn stösst». Sie ist da, «wenn die Erde brennt», wenn man eine Freundin braucht. Kristiina ist «eine der wenigen, denen nicht die Lebensgeister ausgetrieben, das Wasser abgegraben, die Luft abgedrückt worden waren von Vater, Onkel, Bruder, Ehemann, Lehrer oder Vorgesetztem, gebilligt, kleingeredet oder ignoriert von der weiblichen Besatzung.» Sie hält Adinas Chancen vor Gericht für gering, denn Bengel würde mit hoher Wahrscheinlichkeit freigesprochen. Deutsche Gerichte besässen in der Bewertung von Sexualstraftätern keinerlei Glaubwürdigkeit. Sie würden nicht ihn verdächtigen, sondern das Opfer der Lüge bezichtigen.
Gegenüber Leonides formuliert es Kristiina in viriler Drastik: «Stell dir vor, ein Rotarmist hätte dir damals auf dem Lauluväljak die Eier weggeschossen. Und du müsstest jetzt dafür werben, dass er bestraft wird, und zum Beweis deine kaputten Genitalien vorführen.» Doch selbst der auf Menschenrechtsverletzung spezialisierte Feingeist ist in den Konventionen der männlichen Dominanz gefangen und zeigt wenig Subtilität gegenüber der Ungleichheit der Geschlechter.
Der kleine Mohikaner
Mit Kristiinas Worten kommt Rávik Sturbel auf des Pudels Kern: «Die heutigen Gesetze sind Ableitungen der Gesetze, die einmal von Männern gemacht wurden. Deshalb fallen nicht sie durch die Löcher, sondern du, egal, was im Grundgesetz steht. … So funktionieren Zaubertricks.» Adinas folgert für sich daraus: «Man kann keine Aussage machen, wenn man am Ende als Lügner dasteht.» Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts seien die Verhältnisse noch so, dass Frauen ihr Recht nicht einfordern zu können glauben «angesichts der allseits eingeübten Bevorteilung von Männern, in der sich jede Gesellschaftsform, jede Religion und jede Hautfarbe glichen». Sexuelle Fehltritte unterlaufen den Besten und werden als Kavaliersdelikte sanktioniert, über die man grosszügig hinwegsieht. Unser Denken basiert auf der Dominanz des Mannes, denn wir wurden «von Müttern erzogen, die in ein Jahrhundert hineingeboren wurden, das gemäss der Wünsche und Bedürfnisse von Männern benannt, geordnet und zerstört worden war.»
Wehrlos bleibt Adina letztendlich nicht. «Der Mohikaner» in ihr, ihre andere, archaische Seite, übernimmt das Kommando. Als kleiner Mohikaner hatte sie schon eingangs des Romans in einer brenzligen Situation erstaunlich wehrhaft gehandelt und einen Mann mit Hilfe von Schnaps kalten Herzens ausgeschalten. Vor ein chancenloses Gericht stellt sich der Mohikaner nicht.
Kälte versus Angst
Die «Blaue Frau» ist über die ≠MeToo-Thematik hinaus ein gesellschaftskritischer, politisch motivierter Roman. Von finnischer Sauna-Politik bis zu europäischer Erinnerungskultur in Bezug auf die Opfer von Stalinismus und Faschismus bringen die Hauptpersonen Schlag auf Schlag brisante Thesen und feministische Prämissen aufs Tapet. Die Perspektive, aus der heraus erzählt wird, ist eine osteuropäische. Die Autorin selbst kam 1974 in Potsdam, damals DDR, zur Welt, ihre Protagonisten stammen aus Tschechien, Estland, Finnland, während die Figur Benger in Westdeutschland verortet ist. Die «Kultur der Kälte» im Westen» steht der «Kultur der Angst» im Osten gegenüber. «Beides ist nicht schön. Aber es sind doch zwei völlig verschiedene Kulturen», sagt einmal mehr Leonides.
Zum Ost-West-Graben, der sich durch den Kontinent zieht, äussert sich der estnische Europapolitiker folgendermassen: «Die Duldung von Menschenrechtsverletzungen frisst Europa von innen her auf.» Leonides macht die «Ausweitung des europäischen Begriffes vom Verbrechen gegen die Menschlichkeit» zu seiner Sache und nimmt den Westen in die Verantwortung für «70 Jahre Diktatur nebenan». Das Fazit: «Erst, wenn eine Französin, wenn ein Deutscher bereit sind, zu sagen, der Gulag ist unser ureigenes Problem, so wie Auschwitz unser ureigenes Problem ist, steuern wir nicht mehr auf ein westliches, ein östliches, ein mittleres Europa, also auf den Zerfall Europas zu!»
Ost und West, Birken und Beton
Mann – Frau, Ost – West, Bäume – Beton, hell – dunkel, sichtbar – unsichtbar, gewöhnlich – ungewöhnlich, Absteige – Nobelappartement usw.: Gegensatzpaare ziehen sich inhaltlich wie stilistisch als rote Fäden durch die Geschichte. Auch die Romanstruktur besitzt eine zweite Ebene neben dem Haupthandlungsstrang, die die Lektüre um einiges komplexer macht: Nach jedem Kapitel tritt eine rätselhafte blaue Frau mit mythischen Zügen in Szene, die sich mit einer fiktiven Autorin über Wasser, Durst oder die Mühe des Schreibens unterhält. Dies in teils schwer zu entschlüsselnden Sätze wie «Ein verlorener Tag ist einer, an dem man nicht schwimmen kann». Dies lässt viel Raum für Interpretationen. Indem auf dieser zweiten Erzählebene das Schreiben selbst zum Thema wird, ist der Roman auch eine Reflexion über das Schreiben selbst.
Die Figur der blauen Frau ist der Welt der Bäume und dem Element Wasser zugeordnet und steht dem Topos der Plattenbauten gegenüber. Hier Ruhe, das «Rascheln der Blätter am Vogelbeerbaum», dort Zivilisationslärm, das «Rauschen der Autos auf den dreispurigen Strassen». Die blaue Frau erscheint bei den Birken am Ende der Bucht und meidet die andere Seite, die düstere Tristesse der Betonwelt. Sie könne nicht mehr «in Gesichter sehen, die unter der Haut mit Stahltüren verschlossen» seien, sagt sie.
Innere Gefängnisse, Ketten der Konventionen, das Gewöhnliche und Gewohnte sprengen, darum geht es in diesem Roman. Um Mut zur Befreiung, sichtbar werden und sichtbar machen. So heisst es auch gegen Ende des Romans: «Ein freier Austausch der Stoffe war unabdingbar für ein fehlerfreies Funktionieren von Zellen, Hirn und Lunge; Fertigteile aus Beton ein Kerker für Körper und Geist.» Die blaue Frau kommentiert Adinas Befreiungsschlag, die Tat des Mohikaners, wie ein griechischer Chor: «Sie liess das Gewöhnliche hinter sich.»
Schwerwiegende Sätze, starke metaphorische Bilder, ambivalente Thesen und die rätselhafte blaue Frau: Antje Rávik Strubel liefert keine leichte Kost. Ihre kühle, präzise Sprache entwickelt mit der Zeit einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Im Nebengang gelesen, erschliesst sich der Stoff kaum in seiner ganzen Fülle und Ambivalenz. Die Jury des Deutschen Buchpreises hat sich für ein unbequemes Werk entschieden und wird dafür von der Literaturkritik gelobt.
Antje Rávik Strubel, auch Antje Rávic Strubel, Schriftstellerin und Übersetzerin, wurde am 12. April 1974 in Potsdam geboren. Nach dem Abitur machte sie zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin und studierte danach an der Universität Potsdam und der New York University Literaturwissenschaften, Psychologie und Amerikanistik. In New York arbeitete sie nebenbei als Beleuchterin an einem Off-Theater. Bekannt wurde sie 2001, als sie bei den Klagenfurter Literaturtagen den Ernst-Willner-Preis erhielt. In dieser Zeit entschied sie sich für einen Autorennamen. 2003 wurde sie mit dem Roswitha-Preis und dem Deutschen Kritikerpreis ausgezeichnet. Ihr Roman «Tupolew 134» (2004) beschreibt dort die Konflikte um die Entführung einer polnischen Passagiermaschine durch DDR-Bürger im Jahr 1978. 2005 erhielt sie den Marburger Literaturpreis und den Förderpreis des Bremer Literaturpreises. Seit 2006 hat sie sich im deutschen Sprachraum auch einen Namen als literarische Übersetzerin gemacht, mit jeweils mehreren Werken von Joan Didion, Lucia Berlin und Virginia Woolf.
Ihr Roman «Kältere Schichten der Luft» (2007) handelt von einem Aufenthalt von Menschen um die 30 in Schweden, die mit ungelebtem Leben und den Tücken des Glücks konfrontiert werden, der 2007 mit dem den Hermann-Hesse-Preis und den Rheingau Literatur Preis ausgezeichnet wurde. 2021 wurde Strubels Roman «Blaue Frau» veröffentlicht, der mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Die Jury lobte den Roman für seine „existenzielle Wucht und poetische Präzision“ sowie als „Reflexion über rivalisierende Erinnerungskulturen in Ost- und Westeuropa und Machtgefälle zwischen den Geschlechtern“. 2021 wurde Strubel in die Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur aufgenommen. Antje Rávik Strubel lebt und arbeitet in Potsdam, wo sie mit einer Partnerin zusammen lebt.
Antje Rávik Strubel
Blaue Frau
S. Fischer Verlag 2021
Geb.,432 S.
CHF 36.90
ISBN 978-3-10-397101-9