«Arno Camenisch: Wetterbericht als Metapher»
Von Ingrid Isermann
«Der letzte Schnee», das ist eine melancholische Story wie von Samuel Becketts «Warten auf Godot», die in einem kleinen Schweizer Bergdorf an einem Skilift spielt.
Arno Camenisch schafft das Kunststück, dass ihn alle mögen. Sein neuer Titel feiert das Schweizerische schlechthin. Begeistert sind alle, im CH-Literaturclub und in den Rezensionen, «ein Juwel» wird gejubelt. Was ist dran?
«Orapronobis, der Alte hoch oben im Himmel lässt sich dieses Jahr aber Zeit, Cofferteckel, wenn denn etwas Schnee fallen würde, wäre das nicht verkehrt, sagt der Paul und schaut in den Himmel, aber Petrus, der Esel, hält uns hin, und sein Boss hat anderes zu tun. Er hält seine flache Hand vor die Stirn, auf dem Kopf hat er eine Wollmütze, und er steht vor dem Hüttli vom Skilift hin. Der Himmel ist stahlblau, die Sonne geht auf. Was willst du da machen, ein bisschen was hat’s ja gegeben, halt das nehmen, was kommt, sagt der Georg und richtet sein Käppi, da kommt schon noch was, aber grad zaubern können wir halt auch nicht».
«Der letzte Schnee» erschliesst eine metaphysische Ebene, von der Nichtigkeit des Daseins, vom Nicht-Verstehen, von der Natur und vom Existenziellen. Zwei Männer, Paul und Georg, räsonnieren etwas altväterlich über das Leben, während der Skilift läuft und läuft und mangels Kundschaft nicht benutzt wird. Eine Art Wetterbericht als Metapher. Von wo droht die Gefahr? Eben vom Wetter, von Petrus, der nicht mitspielt und es nicht schneien lässt, der den Tourismus in den Bergen, in Graubünden, kaputt macht.
Das ist höchst aktuell. Und die Geschichte tiefgründiger als es den ersten Anschein macht. Vom Leben in den Bergen, von Vorfahren und Vorbildern, Liebe und Ohnmacht, vom Tod und vom Verschwinden. Gewürzt mit deftigen Helvetismen, bündnerisch-ladinisch gefärbt. Das Rätoromanische ist eine Sache für sich, als Sprache vom Aussterben bedroht, wie vielleicht bald der Wintertourismus. Das Buch ist unterhaltsam, heimelig-schweizerisch, doch im Text sind Widerhaken wirksam platziert. Gerade deshalb empfehlenswert. Dem eleganten, handlichen Band wünscht man viele aufmerksame Leserinnen und Leser (siehe auch Literatur & Kunst Archiv 09/2015).
Arno Camenisch, * 1978 in Tavanasa im Kanton Graubünden, lebt und arbeitet in Biel. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Eidgenössischer Literaturpreis und Hölderlin-Förderpreis. Seine Bücher erscheinen im Schweizer Engeler-Verlag.
Arno Camenisch
Der letzte Schnee
Verlag Urs Engeler, 2018
Gebunden, Schutzumschlag
18,5 x 12 cm, 100 Seiten
CHF 25. € 19.
ISBN 978-3-906050-35-5
«Anna Felder: Circolare»
Grand Prix Literatur 2018
Mit ihrem Prosaband «Circolare» nimmt uns Anna Felder mit auf Reisen an ferne und nahe Orte. Feinsinnige Betrachtungen, Miniaturen der inneren Befindlichkeiten, die das Trennende überwinden. Wir reisen mit ihr nach Lugano, Sizilien, Olten, Bern und Spanien und weitere Orte, und begegnen den unterschiedlichsten Menschen.
Etwa einem Barmann in Italien, der die Worte rund und rein hervorbringt, einem pensionierten Versicherungsagenten beim Hundespaziergang, einer Frau, die sich beim Streichen eines Butterbrotes nicht stören lässt, oder Teresa, die barfuss in die Erzählung eintritt.
«Wenn ihr sie zur Stosszeit durch die Fussgängerzone laufen seht, ein wenig unzeitgemäss gekleidet wie jemand, der von ausserhalb kommt, ohne Tourist zu sein, wenn ihr seht, wie sie im Hin und Her der Menschen stehen bleibt wie jemand, der jemanden sucht, niemanden sucht da im Staub, dann ist es sie, ganz bestimmt. Marisa».
«Circolare» ist eine ganz eigene, innere, Geografie europäischer Orte und Unorte. Feinsinnige Betrachtungen, Miniaturen der inneren Befindlichkeiten, die das Trennende überwinden und den Blick zwischen den Kulturräumen schärfen. Prägend ist Anna Felders Gespür für das Besondere im Alltäglichen. Sie beschreibt in ihren kurzen Texten das Leben zwischen Bewegung und Innehalten, zwischen Beobachten und Weitergehen in einer musikalischen, zerbrechlichen Sprache. Dabei entdeckt sie immer wieder im Fremden das Bekannte und im Bekannten das Fremde. Ihre genauen Beobachtungen oszillieren zwischen Nähe und Distanz und lassen den Menschen respektvoll ihre Würde. «Quasi Heimweh» erschien in der Übersetzung ihres Ehemannes, des Lyrikers Federico Hindermann. Vor dem Hintergrund der Schwarzenbach-Inititive und der drohenden Ausweisung von Hunderttausenden italienischer Fremdarbeiter behandelte sie in den 60er Jahren die heiss umstrittene Thematik Arbeitsmigration und Überfremdungsangst, die keineswegs überholt ist. Die Initiativen gegen die «Masseneinwandung» und die «Durchsetzungsinitiative» der SVP, der Schwarzenbach-Nachfolgepartei, setzen hier ähnliche Signale. Als junge Italienischlehrerin gab Anna Felder den Gastarbeiterkindern Unterricht in ihrer Muttersprache und erhielt gleichzeitig den Auftrag vom Kanton Aargau, als Sonderinspektorin über den Stand der Integration zu berichten. Sie habe sich gut einfühlen können in das Dilemma der Fremdarbeiter, sagt Felder, auch in die Mentalität der Süditaliener, die anfangs auf Ablehnung stiessen und inzwischen gut integriert sind.
Anna Felder, 1937 in Lugano geboren, studierte als Tochter einer Tessinerin mit italienischen Wurzeln und einem Deutschschweizer nach der Matura Romanistik in Zürich. Sie unterrichtete über dreissig Jahre als Italienischlehrerin an der Alten Kantonsschule in Aarau. Jetzt wurde Anna Felder mit dem Grand Prix Literatur des Bundesamtes für Kultur ausgezeichnet, der sie einem grösseren Publikum bekannt machen wird. Sie verfügt über ein schmales und dennoch gewichtiges Werk mit ihrem Debütroman «Quasi Heimweh» (1970), «Umzug durch die Katzentür» (1978) oder «Die Adelaiden» (2010) sowie Erzählbände wie «No Grazie» (1999). Ihre Werke sind auf Deutsch im Limmat-Verlag Zürich erschienen.
Anna Felder
Circolare
Prosa
Limmat Verlag Zürich, 2018
Übersetzt von Maja Pflug, Barbara Sauser,
Clà Riatsch, Ruth Gantert
144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
CHF 28.50, € 28.50. eBook CHF 25.80
Titel der Originalausgabe: «Liquida», Editioni Opera Nuova, Lugano
ISBN 978-3-85791-842-1