FRONTPAGE

«Auf der Flucht»

Von Rolf Breiner

Friedrich Glauser geistert durch die Schweizer Literaturgeschichte wie ein auf die literarische Figur Wachtmeister Studer reduzierter Geist. Der Zuger Filmer Christoph Kühn hat den unangepassten Schriftsteller aus der Klischeecke geholt und einen spannenden Dokumentarfilm geschaffen: «Glauser. Das bewegte Leben des grossen Schriftstellers».

Ein dunkles Zimmer. Ein Knabe und eine Frau. Erinnerungen an die Kindheit des Friedrich Glauser. Eine Zelle, vergittert. Die psychiatrische Klinik Münsingen. Hier war der 1896 in Wien geborene Friedrich Glauser ein Jahr (1919) lang interniert und wurde von Max Müller behandelt. Sein Sohn Max erinnert sich an jenen Glauser, der hier Schutz und später seine Partnerin, die Pflegerin Berthe Bendel, fand.

«Und der Fahnderwachtmeister fröstelte. Diese Zelle war kalt. Kam denn der Doktor nicht bald? Wollte der Schlumpf eigentlich gar nicht aufwachen?… Ein tiefer Atemzug hob die Brust des Liegenden, die verdrehten Augen kamen in die richtige Stellung und Schlumpf sah den Wachtmeister an. Studer fuhr zurück. Ein unangenehmer Blick. Und jetzt öffnete Schlumpf den Mund und schrie. Ein heiserer Schrei – Schrecken, Abwehr, Furcht, Entsetzen… Viel lag in diesem Schrei. Er wollte nicht enden.» So beschrieb Glauser die Situation als sein Wachtmeister Studer den Verdächtigen Schlumpf nach einem Selbstmordversuch in der Zelle fand. Der Roman wurde vorweg in Fortsetzungen ab 24. Juli 1936 in der«Zürcher Illustrierten» veröffentlicht. Mit dem Kriminalroman «Wachtmeister Studer»setzte Friedrich Glauser eine Marke. Die Romanfigur Schlumpf hatte sich eines Vergehens verdächtig gemacht: Er war geflohen und dann inhaftiert worden. Und eben solche Situation prägte Glausers Leben: die Flucht schon als Kind, das sich dem gnadenlosen Vater entziehen wollte.

 

 

« Die Literatur wurde zum Asyl»

 

 

Mit 13 Jahren brannte er nach Pressburg durch, wurde gefasst und in eine Kollektivzelle gesteckt. Sein Vater wollte ihn abholen.

Glauser schreibt: «Der Wärter sollte mich wieder mitnehmen – ich, als Direktorensohn, sollte doch nicht mit Vaganten zu Nacht essen – aber ich wollte bleiben… Ich fühlte eine Zugehörigkeit zu den Leuten, hier war man nicht allein. Noch merkwürdiger vielleicht ist es, dass die Leute mich als einen der ihrer ansahen. Sie waren freundlich, gar nicht untertänig… Vom ersten Augenblick an hab ich gefühlt: Beim Gesindel ist deine Heimat. Dort gehörst du hin.»

Glauser blieb ein Aussenseiter, ein Unangepasster, ein Flüchtender. Er verkroch sich, brach aus und auf und war doch in sich gefangen. Die Episode in der Kollektivzelle und die Begegnung mit «Vaganten» war ein Schlüsselerlebnis. Hugo Loetscher schrieb in seinem Eassay über Glauser «Der arme Hund, der jeder von uns ist». « Das war Solidarität mit jenen Randfiguren, denen er sich eines Tages selber zuzählte, die er überall auf seinen Lebensstationen antraf und denen er in seinen Romanen und Erzählungen Unterkunft gewähren sollte. Die Literatur wurde zum Asyl.»

 

 

Die Fluchten vor dem Vater, vor der Bürgerlichkeit, die Flucht in Drogen, die quasi medizinisch eingeleitet wurde, und in den Tod – als Gymnasiast machte er seinen ersten Selbstmordversuch – sind verzweifelte Versuche, trotz allem ein guter Bürger zu sein, seine Leben und seine Heimat zu finden. In der Pflegerin Berthe Bendel fand er Rückhalt, sah eine verständige Gefährtin. Sein Vater starb, jetzt fiel Ballast von Glauser ab. Er wollte heiraten, reiste 1938 mit Berthe nach Nervi bei Genua, brach am Abend vor der Hochzeit zusammen und starb zwei Tage später – im jungen Alter von 42 Jahren.

 

 

Die Zelle von Münsingen 1934 und die finale Reise 1938 nach Nervi bilden die Klammer in der Filmdokumentation «Glauser» von Christoph Kühn.

Der Filmer aus Zug, im Onsernonetal ansässig, hat verschiedene Filmporträts realisiert, über den Filmer Franz Schnyder («FRS – das Kino der Nation») beispielsweise oder die Künstlerin Sophie Taeuber-Arp.

 

Ihn interessierte bei seiner neuen Spurensuche und Entdeckungsreise weniger das literarische Werk Glausers, mehr der Mensch, der «verwundete Gejagte», der an sich selber scheiterte. Produzent Andres Pfaeffli hatte den Filmer animiert, sich mit dem Schriftsteller auseinanderzusetzen. Als Kühn dann die Briefe und Aufzeichnungen Glausers studierte, war er fasziniert und entwickelte sein Filmprojekt.

Von Glauser existieren keine bewegten Bilder (nur Fotos), nur schriftliche Zeugnisse. Und so kombinierte Kühn verschiedene Stilmittel – Spielszenen mit Mutter und Kind, Zelle und Totenwagen, ein Fernsehinterview mit Berthe Bendel aus dem Jahr 1985, Aufnahmen von Originalplätzen und Aussagen Glauser-Kennern wie dem Biografen Frank Goehre, dem Kritiker Hardy Ruoss, der die erste Doktorarbeit über Glauser verfasst hatte, den Psychologen Max Müller, dessen Vater Glauser behandelt hatte, und Martin Borner sowie dem Schriftsteller Hansjörg Schneider. Markante visuelle Zeichen setzen im Film die Comicbilder von Hannes Binder, der verschiedene Bücher in Comicform herausbrachte. Der Zürcher Zeichner schuf eine ganze Glauser-Kollektion, die freilich weitgehend vergriffen ist. Neuauflagen wurden angekündigt. Der Comicband «Glauser. Sieben gezeichnete Geschichten»

sollen 2012 im Limmat Verlag erscheinen.

«Bei meinem Glauser», meint Filmer Kühn, «muss ich unwillkürlich an die fiebrigen Charaktere des Film noir denken, jener Filmgattung, in der sich die verzweifelten Protagonisten tief in die Seele blicken lassen.»

 

Ich traf Christoph Kühn im Cabaret Voltaire, mitten im Zürcher Niederdorf. Der Ort fürs Interview wurde nicht zufällig von Nadine Adler (Filmcoopi) gewählt. Hier hatte der Dadaismus eine Bühne und hier trat auch Dada-Anhänger Glauser einmal auf.

 

 

Einen Menschen emotional rüberbringen

 

Im Fokus des Films steht der Mensch Glauser. Was hat den Filmer Kühn an daran fasziniert?

«Durch diese Arbeit habe einen Menschen kennengelernt, der mich getroffen hat, und zwar einen, der ein Gejagter war – auf der Flucht vor sich selber. Rein dieses Bild hat mich fasziniert, dass hinter diesen doch etwas biederen Schweizer Kriminalromanen eine derartig faszinierende Figur steckt, an der nichts bieder ist.»

 

Bücher wie «Matto regiert» oder «Der Chinese», mit Heinrich Gretler und Hans Heinz Moser verfilmt, sind bekannt, doch der Mensch Glauser blieb für viele unbekannt, meint Kühn, der seinen Film auf den Texten des Schriftstellers, seinen Briefen und einer unvollendeten Biografie aufbaut:

«Die Texte, die gesprochen werden, ist alles er.»

Die Romane bleiben peripher, spielen eine beiläufige Rolle.

Kühn: «Mein Fokus war der Mensch Glauser. Man erlebt im Film, dass er schreiben muss, um herauszukommen. In der Psychiatrie Münsingen beginnt er die Figur vom Wachtmeister Studer zu erfinden, schreibt 1934/35 den ersten Roman, hat Erfolg und kommt raus. Das Schreiben war eine Brücke zu der Welt, aus der er kam. »

Glauser fühlte sich eingesperrt und doch geschützt in den diversen Anstalten. Er war ein Junkie, würde man heute sagen, aber Kühn weist auch daraufhin, wieso es dazu kam:

«In Zürich machte er bei Dada mit, bekam eine Lungenentzündung und wurde im Spital mit Morphium behandelt. Das hatte ihn abhängig gemacht.»

Im Pressedossier ist von Entdeckungsreise die Rede. Was haben Sie, Christoph Kühn, für sich entdeckt?

«Vom Literarischen her habe ich nebst Robert Walser den wichtigsten Autor deutscher Sprache in der Zwischenkriegszeit kennen gelernt.»

Sie benutzen wiederholt szenische Rückblenden als Stilmittel. Mit welcher Absicht?

«Mit diesen Rückblenden, diesen Erinnerungen an Wien, seiner Heimatstadt, komme ich an die Wurzeln seines Übels, seines Getriebenseins – sein Elternhaus, sein Vater.»

Um das Inneren, den Seelenzustand Glausers zu zeigen, haben Sie auf die Bilder Binders zurückgegriffen?

«Wir hatten einen gewissen Bildernotstand. Die Zeichnungen des Hannes Binder sind nie nur Illustrierungen, sondern Interpretationen vom Geiste Glausers. Sie zeigen seine Obsessionen. Ich glaube, ich konnte so mit den Rückblenden und Zeichnungen einen Menschen emotional rüberbringen. »

 

 

 

Der Dokumentarfilm «Glauser» startet am 5. Januar in Schweizer Kinos. Parallel dazu zeigt das Filmpodium Zürich Verfilmungen der Glauser-Romane:

«Matto regiert» (1947), «Wachtmeister Studer» (1939) und «Der Chinese» (1979) ab 15. Januar 2012.

 

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Sieben gezeichnete Geschichten von, zu, mit und um Friedrich Glauser
Mit einem Vorwort von Peter Zeindler zu «Wachtmeister Studer im Tessin», einem Nachwort von Kurt Gloor zu «Knarrende Schuhe» und einem Werkstattgespräch von Frank Göhre in «Der Chinese»
Um die Geschichte «Glauser im Kopf» erweiterte Neuauflage von
«Nüüd appartigs …»
566 Seiten, Pappband ca. sFr. 68.–, € 57.–
ISBN 978-3-85791-652-6
Kinostart «Glauser» in Basel/Bern/Zürich: 5. Januar

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