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«Aargauer Kunsthaus: Back to Paradise – Meisterwerke des Expressionismus»

 

 

In der Ausstellung «Back to Paradise. Meisterwerke des Expressionismus aus dem Aargauer Kunsthaus und dem Osthaus Museum Hagen» werden zum ersten Mal zwei Sammlungen zusammengeführt, die beiderseits über hochkarätige Werke aus allen Phasen des expressionistischen Schaffens in Deutschland von 1905 bis 1938 verfügen.

 

I.I. Die erstklassigen Gemälde, Zeichnungen und Grafiken stammen von so namhaften Künstlern wie Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Max Pechstein, Otto Mueller oder Emil Nolde. Eine besondere Ergänzung zu den deutschen Arbeiten bilden Werke von Schweizer Expressionisten aus der Sammlung des Aargauer Kunsthauses.

 

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts brechen einige deutsche Künstler mit den traditionellen Bildformen und bemühen sich um eine direkte und expressive Bildsprache. Die künstlerischen Neuerungen beziehen sich nicht nur auf formale Aspekte, sondern konzentrieren sich auch stark auf den individuellen Ausdruck, auf die Wiedergabe der subjektiven Empfindungen ihrer Schöpfer. Gefragt wurde nach dem Wesen der Dinge und nicht nach deren äusserem Erscheinungsbild. Die subjektive Schilderung individueller Erfahrungen war ein Bruch mit den vorangegangenen, rein darstellenden Künsten. Durch das Propagieren eines neuen Kunstverständnisses wurde dem Naturalismus und der Bürgerlichkeit der Kampf angesagt. Im Spannungsfeld zwischen Industrialisierung und sozialem Wandel suchen die Expressionisten nach neuen Lebensmodellen und werden in der Harmonie mit der Natur und in der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen fündig. Der Titel der Ausstellung «Back to Paradise» verbalisiert diese Sehnsucht nach dem Ursprünglichen und Individuellen, die für den Aufbruch in die künstlerische Moderne so bedeutend war.

Für dieses völlig neue Kunstverständnis begeisterte sich auch das Ehepaar Valerie und Dr. Othmar Häuptli, dessen Sammlung 1983 als Schenkung ins Aargauer Kunsthaus gelangte. Neben einem grossen Konvolut wichtiger Werke von Französischen und Schweizer Künstlern, unter anderen auch Aargauer Kunstschaffender, fanden rund 100 Werke des deutschen Expressionismus den Weg in ihre Sammlung. Häuptlis waren Laiensammler im besten Sinne des Wortes. Sie sammelten, was Ihnen gefiel und wozu sie eine persönliche Beziehung aufbauen konnten. Vielleicht ist es gerade dieser unmittelbare Bezug zu den Werken, welcher der Sammlung und den Bildern eine grosse Kraft verleiht.

 

Sammlung Osthaus Museum Hagen

 

Über eine ähnliche Sammlung verfügt das Osthaus Museum Hagen. 1921 vermachte deren Begründer, der Kunstsammler und Mäzen Karl Ernst Osthaus, seine Sammlung an das Museum Folkwang in Essen. 1945 wurde die Sammlung in Hagen gänzlich neu aufgebaut. Den Kern bilden herausragende Werke deutscher Expressionisten, worunter die bereits oben erwähnten Brücke-Künstler wie Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel oder Karl Schmidt-Rottluff fallen sowie Vertreter der Neuen Künstlervereinigung München und des Blauen Reiters, darunter Gabriele Münter, Alexej von Jawlensky oder Franz Marc.

Die Gegenüberstellung von ausgewählten Meisterwerken aus beiden Sammlungen soll die verschiedenen Ausrichtungen innerhalb der expressionistischen Strömung sichtbar machen und gleichzeitig die malerischen Höhepunkte verdeutlichen und hervorheben. Ein weiteres Anliegen der Ausstellung ist es, dem interessierten Publikum die Möglichkeit zu bieten, die Schwerpunkte und Strategien der beiden Sammlungen miteinander vergleichen zu können. Zu sehen sein werden Gemälde, Papierarbeiten und Holzschnitte aus allen Phasen des Expressionismus. Werke, die einst in denselben Ateliers entstanden sind, mögen nun – Jahre später – im Museum wieder aufeinander treffen.

 

 

Schweizer Werke aus der Sammlung des Aargauer Kunsthauses

Eine besondere Ergänzung zu den deutschen Arbeiten bilden die Schweizer Werke aus der Sammlung des Aargauer Kunsthauses. Eine der wichtigen Figuren des Expressionismus ist auch der Schweizer Cuno Amiet. Selbst wurde er von den Brücke-Malern aufgefordert, ihrer Gruppe beizutreten. Amiet blieb Mitglied bis zu deren Auflösung 1913. Anfang des 20. Jahrhunderts kam ihm eine Vermittlerrolle zwischen der neuen französischen Auffassung und dem revolutionären deutschen Kunstwollen zu. Umgekehrt übte der deutsche Ernst Ludwig Kirchner Anfang der 1920er-Jahren einen wichtigen Einfluss auf die Basler Expressionisten der Gruppe Rot-Blau aus, wozu Hermann Scherer, Paul Camenisch oder Albert Müller gehörten. Von Scherer kamen einige bedeutende Werke aus der Stiftung Werner Coninx 2016 als Dauerleihgabe in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses.

 

Konzipiert wurde das Ausstellungsprojekt als Kooperation zwischen dem Aargauer Kunsthaus, dem Osthaus Museum Hagen, dem Museum Georg Schäfer in Schweinfurt und dem Institut für Kulturaustausch in Tübingen.

26. August – 3. Dezember 2017 Aargauer Kunsthaus, Aarau

 

Künstler und Künstlerinnen

Cuno Amiet (1868 – 1961); Max Beckmann (1884 – 1950); Paul Camenisch (1893 – 1970); Lyonel Feininger (1871 – 1956); Conrad Felixmüller (1897 – 1977); Erich Heckel (1883 – 1970); Ernst Ludwig Kirchner (1880 – 1938); August Macke (1887 – 1914); Franz Marc (1880 – 1916); Albert Müller (1897 – 1926); Otto Mueller (1874 – 1930); Gabriele Münter (1877 – 1962); Emil Nolde (1867 – 1956); Max Pechstein (1881 – 1955); Hermann Scherer (1893 – 1927); Karl Schmidt-Rottluff (1884 – 1976); Alexej von Jawlensky (1864 – 1941)

 

Kurator: Thomas Schmutz, Sammlungskurator / Stv. Direktor

Kuratorische Assistenz: Bettina Mühlebach, Wissenschaftliche Mitarbeiterin

Die Ausstellung «Back to Paradise. Meisterwerke des Expressionismus aus dem Aargauer Kunsthaus und dem Osthaus Museum Hagen» reist nach der Schau im Aargauer Kunsthaus weiter nach Deutschland und ist vom 16. Dezember 2017 bis zum 8. April 2018 im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt zu sehen.

 

 

Publikation

Es erscheint ein die Ausstellungstournee begleitender Katalog. Die reich bebilderte, deutschsprachige Publikation enthält Essays von Tayfun Belgin, Wolf Eiermann, Otto Letze und Thomas Schmutz. Der Katalog umfasst ca. 210 Seiten und wurde von Neeser & Müller, Basel gestaltet.

 

Back to Paradise.

Meisterwerke des Expressionismus aus dem Aargauer Kunsthaus

und dem Osthaus Museum Hagen

Hrsg. Thomas Schmutz und Aargauer Kunsthaus, Aarau

Hirmer Verlag München, 2017

 

 

Begleitveranstaltungen:

Rundgang und Gespräch
Donnerstag, 7.9., 18.30 Uhr
Mit Thomas Schmutz, Sammlungskurator / Stv. Direktor.

Anschliessend Apéro
Eintritt + CHF 8.-

 

Literarische Entdeckungsreise
Mit Lyrik und Prosa in den Expressionismus
Donnerstag, 19.10., 18.30 Uhr
Walter Küng, Schauspieler, liest Texte von Max Pulver,

Robert Faesi oder Karl Stamm u. a.

Beratung der Textauswahl Walter Labhart.
Anschliessend Apéro
Eintritt + CHF 15.

 

 

Im Taumel des Komponierens
Klaviermusik des Expressionismus
Donnerstag, 2.11., 18.30 Uhr
Der Pianist Tomas Dratva spielt expressionistische Stücke,

u. a. von Ernest Bloch, Arnold Schönberg, Wladimir Vogel oder Stefan Wolpe

und vermittelt damit einen hörbaren Einblick in die Welt der Musik

zur Zeit des Expressionismus. 

Anschliessend Apéro Eintritt + CHF 15.

 

Führungen, jeweils Donnerstag, 18.30 Uhr, 

21.9., 5.10., 26.10., 9.11., 16.11., 23.11., 30.11.2017

 

 

«Not Vital im Bündner Kunstmuseum in Chur»

Von Niklaus Oberholzer

 

Erstmals ist im Bündner Kunstmuseum in Chur eine grosse Retrospektive des 1948 geborenen Unterengadiners Not Vital zu sehen, der in seinem Werk den Bezug zum Einheimischen mit Weitläufigkeit und weltweiten Aktivitäten verbindet: «univers privat».

 

Wurzel im Eigenen und Weitläufigkeit

700 Schneebälle, gefertigt mit enormem materiellem und zeitlichem Aufwand aus mundgeblasenem Murano-Glas, jeder Ball ein kostbares Unikat, verzaubern einen Raum im Untergeschoss des Bündner Kunstmuseums in Chur – ein monumentales Werk. Monumental und mit unglaublicher Präzision gefertigt, eine eigentliche Kostbarkeit, ist auch «Selbstporträt», eine Kopf-ähnliche Skulptur aus beschichtetem Edelstahl, 190 cm hoch und so spiegelglatt, dass die Skulptur ihre ganze Umgebung in sich einsaugt: Das sind zwei Arbeiten Not Vitals in der ersten Retrospektive, die Stefan Kunz im Bündner Kunstmuseum Not Vital, dem bald 70jährigen Engadiner Künstlers mit weltweitem Aktionsradius, ausgerichtet hat.

 

Gigantomanie? Materialschlacht?
Weitere, in Chur allerdings nicht präsente Beispiele: 2008 schuf er eine beinahe vier Meter hohe spiegelglatte Stahl-Skulptur: Die elegante Form wird zum Monument einer Ochsenzunge. 2012 legte Not Vital im Kunstraum Dornbirn hundert riesige handgetriebene Lotosknospen aus poliertem Edelstahl aus. In Niger errichtete er im Lauf der Jahre mehrere Haus-Skulpturen als Schutz gegen Naturkräfte, aber auch als Orte der Meditation oder des stillen Betrachtens des Sonnenunterganges oder des Mondscheins über der Landschaft. Grosse Bauprojekte realisierte er auch in Patagonien oder auf der indonesischen Insel Flores. Und in seiner Heimat Sent gibt es einen ganzen Park, eine Art Traumlandschaft, mit sorgfältig auf die natürliche Umgebung hin präsentierten Gross-Skulpturen Not Vitals.

 

Die Sprache des armen Materials
Dieser Hang zum Monumentalen, verbunden auch mit einem Hang zur Selbstdarstellung, ist ein Aspekt im Schaffen des Künstlers, der in seiner Arbeit keinen Aufwand scheut und sich stets auch höchstmögliche Perfektion zum Ziel setzt. Aber das Aufwändig-Grosse ist nur ein Aspekt. In den autodidaktischen Anfängen sprach sein Werk eine ganz andere Sprache der Bescheidenheit und des Beiläufigen – jene Sprache des armen Materials, die auch die Arte Povera der frühen 1970er Jahre prägte. Schon als 16-Jähriger nahm er eine Dachrinne des väterlichen Hauses, strich das Rohr weiss und lehnte das Objet trouvé als hochragendes skulpturales Element an die Wand. Das schlichte Tun ergibt mehrfachen Sinn: Das Aufragende wird lange Zeit Kennzeichen vieler Arbeiten Vitals bleiben, ebenso das Isolieren des Objekts durch den Anstrich, der Verweis auf Häuslichkeit und Heimat oder die Verankerung des Gedankens im konkreten autochthonen Ort des Geschehens.
Zwei Jahre später hielt er Spuren seines Weges im Schnee fotografisch fest, und bald dokumentierte er in Fotos, wie er sich im während des Tagesverlaufs verändernden Schatten von Bäumen bewegte. Das alles sind zeittypische Arbeiten im Geist der späten 1960er- und der frühen 1970er Jahre – eine Haltung, die sich auch in frühen ephemer wirkenden Zeichnungen des Künstlers niederschlägt oder in Skulpturen wiederfindet, die in ihrer Formgebung auf archaische Naturerfahrungen verweisen.

 

Nomadisierendes Dasein
Not Vital ist ein nomadisierender Mensch. Er lebte während Jahrzehnten und lebt auch heute hier und dort, nicht in Provisorien allerdings, aber jeweils für kurze Zeit. Im Grund ist es einerlei, ob Not Vital in Sent, in Italien, in Ägypten, in Niger, in Brasilien oder in China arbeitet. Überall findet er den anregenden sozialen und kulturellen Kontext oder gar konkretes Material, das zum Ursprung seines Tuns werden kann. Beispiele: Ziegenfelle, Hirschgeweihe, Kamelköpfe und Salzblöcke und auch einmal ein grosser Kupferteller, der zum Teil eines Musikinstrumentes wird. Und stets sucht er Kontakt zu den Menschen, die da leben und arbeiten und ihm mit ihrer Handfertigkeit auch zur Seite stehen. Not Vital ist sich bewusst und macht daraus auch keinerlei Geheimnis, dass die Steinhauer in Carrara, die Glasbläser in Murano oder die Stahlarbeiter in Peking viel besser als er selber ausführen können, was er sich vorstellt. Die Perfektion in der Umsetzung seiner Idee in die definitive Form ist nur dank dieser Begegnung mit den Menschen vor Ort möglich. Das ist wohl auch ein übergreifendes Konzept seiner Kunst.

 

Licht Räume
In den Räumen in den Untergeschossen des Bündner Kunstmuseums herrscht eine helle, leichte Atmosphäre. Not Vitals Werke – fast ausschliesslich weiss, grau oder schwarz, Farbe fehlt also fast durchwegs – haben Raum zum Atmen und Licht für ihre Entfaltung. Stefan Kunz sucht in seiner Präsentation der Werke nach sinnvollen Gegenüberstellungen und nach Entwicklungslinien. Der Titel der Ausstellung «univers privat» zeigt die Richtung seiner Interpretation auf und öffnet das Spanungsfeld zwischen der Intimität privater Empfindung und Weitläufigkeit, zwischen der Wurzel im Eigenen im Unterengadin und der Universalität Not Vitals Kunstsprache.
Schneebälle und Schneebälle.
Die Zeitspanne der gezeigten Werke reicht von der erwähnten Dachrinne aus dem Jahr 1964 und von Fotodokumenten früher Aktionen bis zur dieses Jahr entstandenen und damit aktuellsten Arbeit «Snowball Wall». Sie ist ein Sonderfall in dieser Ausstellung, denn sie ist das Resultat einer Aktion und ephemeres und der Zerstörung geweihtes Gegenbild zu «700 Snowballs» aus lauter kostbarsten Muranoglas-Kugeln von Ewigkeitswert: Not Vital setzte mit Gips eine dickliche Masse an, bildete daraus zahlreiche „Schneebälle“ und schmiss sie an eine 29 Meter breite Museumswand. Die „Schneebälle“ blieben kleben, trockneten ein und bezeugen nun als disparates und von mancherlei Zufällen geprägtes Resultat des Künstlers „Schneeballschlacht“ gegen die Museumswand. Es scheint, als lenke Not Vital sein heutiges Schaffen wieder dahin, wo es vor vielen Jahren begonnen hat, mit Fettkreide-Zeichnungen oder mit Skulpturen, in denen er sich natürlicher und amorpher Materialien wie Felle bediente oder auch Kuhfladen in Bronze goss. Da spielte oft der Zufall mit. Später ist das nicht Vorausschaubare aber nur mehr selten ein Kennzeichen von Not Vitals Arbeiten.
Die Ausstellung in Chur macht anhand von rund 50 oft grossformatigen Arbeiten erstmals die vielfach sich verzweigenden und wieder überschneidenden künstlerischen Wege deutlich, die Not Vital in beinahe 50 Jahren zurückgelegt hat.
Bis 19. November 2017.

 

Publikation (255 Seiten, Scheidegger & Spiess) mit Beiträgen von Stefan Kunz, Lynn Kost, Alma Zevi, Simon Baur, und Giorgia von Albertini.
www.buender-kunstmuseum.ch

 

Not Vital
Not Vital, geboren 1948, wuchs in Sent im Unterengadin auf. Mit 20 ging er für ein Jahr nach Paris. In der Folge unternimmt er weltweite Reisen und lebt einige Zeit in Rom. 1974 lässt er sich in New York nieder, wo er abgesehen von regelmässigen Aufenthalten in Lucca, Agadez (Niger) und Sent bis 2012 lebt. Heute lebt und arbeitet Not Vital in Sent, Peking und Rio. 2016 erwirbt er das Schloss Tarasp in der Absicht, das Schloss zu einem Kulturort mit internationaler Ausstrahlung auszubauen. Weltweit Aktivitäten und Ausstellungen in bedeutenden Museen.

 

 

 

«Neu.Sachlich.Schweiz»

 

NO. «Neu.Sachlich.Schweiz – Malerei der Neuen Sachlichkeit in der Schweiz» ist die Ausstellung im Museum Oskar Reinhart in Winterthur betitelt, die Andrea Lutz und David Schmidhauser kuratiert haben. Die Schau vereinigt Werke von 16 Künstlern, entstanden zwischen Generalstreik und Geistiger Landesverteidigung, setzt deutliche Schwerpunkte bei Niklaus Stoecklin und Johannes Robert Schürch und wartet mit einigen Überraschungen auf. 

 

Der Begriff «Neue Sachlichkeit» für eine Malerei, die sich – als Reaktion auf expressionistische Emotionsmalerei – einer kühlen und eben sachlichen Wiedergabe der sichtbaren Realität widmet, ist, wie jede Schublade, wenig präzis, wenn es darum geht, Entwicklungsphasen der Kunst zu charakterisieren. Etwas Wahres ist meist dran, aber der Begriff fasst eben nicht die ganze Wahrheit. Manch ein Werk in der Winterthurer Ausstellung liesse sich auch in anderem Kontext sehen.

Die Grenzen sind fliessend – sicher hin zu Magischem oder Surrealistischem, mitunter aber gar zum Expressionistischen. Für viele Besucherinnen und Besucher ist aber die kunsthistorische Debatte kaum zentral. Ihnen wird die Begegnung mit qualitätvollen Werken wichtiger sein. Da kann man denn tatsächlich auf seine Rechnung kommen, gerade wenn es nicht um die grossen Namen der Schweizer Kunst geht.

 

 

Entdeckungen
Nur wenigen bekannt ist sicher der Basler Fritz Paravicini (1896-1934). Er schuf 1932 ein gut 33 auf 33 cm messendes, in gedämpften Grün- und Brauntönen gehaltenes Gemälde, das nichts anderes als ein Tintenfass aus Kristallglas und mit Messingdeckel darstellt. Ein unscheinbares Sujet also, gemalt aber mit Hingabe und Liebe zur Malkultur, zur farblichen Nuance, zur Präzision in der formalen und räumlichen Wiedergabe des Objektes: Ein kleines Meisterwerk, dem der jung Verstorbene nur wenig Adäquates folgen lassen konnte. Eine andere Entdeckung für viele Besucher ist wohl Wilhelm Schmid (1892-1971), Aargauer, in Berlin Künstler geworden, 1938 nach Bré im Tessin gezogen. Einen geradezu fulminanten Auftakt bildet im Obergeschoss des Museums sein monumentales Gemälde «Luna», eine üppige nackte Halbweltdame auf Podest mit Hut und Hündchen, umgeben von ebenso üppigen Blumen links und Figuren grossstädtischer Unterhaltungswelt rechts. Da beginnt die Diskussion jedoch bereits: Ist «Luna» neusachlich? Oder doch expressionistisch? Gilt das Werk nicht jenem Tanz auf dem Vulkan, den auch Kirchner oder Dix und Grosz zum Bild werden liessen?

Deutlich die Schublade Neuer Sachlichkeit sprengt zweifellos auch Johannes Robert Schürch (1895-1941). Seine Papierarbeiten sind expressiv-einfühlende Porträts von Randfiguren der Gesellschaft oder emotional aufgeladene, an Grosz erinnernde Schilderungen von Bordell- und Wirtshaus-Szenen. Schürch vertritt in der Ausstellung den realistisch wiedergegebenen Aspekt des Sozialen und der Sozialkritik, der sonst in der Malerei dieser Zeit in der Schweiz wenig präsent ist.

 

 

Surrealistisches bei Stoecklin
An die Ränder der Schublade «Neue Sachlichkeit» rührt mitunter sogar der Basler Niklaus Stoecklin (1896-1982), Schweizer „Star“ dieser Stilrichtung. Er war 1925 in der Ausstellung «Neue Sachlichkeit – Deutsche Malerei seit dem Expressionismus» in Mannheim vertreten war, als einziger Schweizer übrigens, was seine über die Schweiz hinausreichende Pionierrolle unterstreicht. Ins Surrealistische weist etwa sein 1930 entstandenes Werk «Schuhholz»: Auf einer grauen Tischplatte steht, diagonal ins Bild gesetzt, ein Schuhspanner mit schöner Maserung und einem Knauf am Ansatz, dessen phallische Form mit der Vaginalform des Holzobjektes korrespondiert. Als soll das Rätselhafte dieser Bildfindung zusätzlich Schützenhilfe erhalten, liegen, eine absurde Kombination, drei schneeweisse Würfelzucker auf dem Tisch. Auch Stoecklins Werk „Vorstellung“, 1920/21 entstanden, ist mehr als nur „sachlich“: Das Bild ist eine detailreiche, mit mancherlei auch erotischen Anspielungen garnierte Studie über die Sehnsüchte eines Pubertierenden – bildgewordene Tiefenpsychologie, möchte man sagen.
Zeichnungen als Rätsel
Und noch eine Entdeckung: Die Zeichnungen des Zürchers Eugen Zeller (1889-1974), Freund Otto Meyer-Amdens und Paul Bodmers, sind so präzis beobachtet und so detailgenau in der Wiedergabe des Gesehenen (oder Gedachten), dass ihre Genauigkeit zum Rätsel wird, dessen Lösung einen spannenden Prozess des Sehens und Nachdenkens erfordert. Vollends enigmatisch ist sein kleines Blatt «Lautenspieler»(1916), eine Andreas-Kreuz-Komposition, in der, als von oben links nach rechts unten führende Linie, das Instrument in die Kante der Holzbank übergeht. Die Gegenlinie bilden Kante eines Hausdachs, Arm und Bein des Spielers. Über dem Kreuzungspunkt dieser Linien befindet sich das nachdenklich-introvertierte Gesicht des Spielers, als sei’s von Otto Meyer-Amden.
Weitere Künstler der Ausstellung sind Theodor Barth, Aimé und François Barraud, Otto Baumberger, Adolf Dietrich, Eduard und Max Gubler, Charles Humbert, Arthur Riedel, Théophile Robert und Fritz Schmid. Auf das Fehlen der Bündnerin Maria Bass (1897-1948) weist, ohne eine Begründung beizufügen, David Schmidhauser selber hin. Werke des allerdings etwas älteren Félix Vallotton liessen sich in dieser Auswahl vielleicht ebenfalls vorstellen. Oder von Hans Emmenegger. Die unscharfen Konturen des Begriffs «Neue Sachlichkeit» liessen mancherlei zu. Doch es galt wohl, die Ausstellung nicht allzu sehr auswuchern zulassen. zu wahren. Die Kuratoren betonen auch folgerichtig, dass sie mit «Neu.Sachlich.Schweiz» keine Vollständigkeit anstreben wollen oder können. Sie zeigen Beispiele und überlassen es den Besuchern, die Fäden weiterzuspinnen.
Bis 14. Januar 2017.

Katalog (323 Seiten, Verlag Scheidegger & Spiess) 39 Franken.
www.museumoskarreinhart.ch

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