«Bauen an der Peripherie – eine Monographie über das Zürcher Architekturbüro Galli Rudolf»
Von Fabrizio Brentini
Wer lediglich Wohnsiedlungen baut, hat wenig Chancen, in den Fokus von renommierten Architekturzeitschriften zu geraten. Diese sind auf auffällige und formal aufgeladene Artefakte angewiesen, und solche werden meistens im Bereich von Vorzeigeprojekten in Auftrag gegeben. Das sind Theater- und Museumsbauten, Bibliotheken, Einkaufszentren und Sportanlagen. Ferner Architekturtipp L&K: Kiew, Metropole der Ukraine.
Das Wohnen wird in solchen Publikationen auf innovative Einfamilienhäuser oder extravagante Wolkenkratzer beschränkt. Die Luft für solche Manifestationen ist in der Schweiz dünn geworden. Ambitionierte Baumeister strecken ihre Fühler nach Ländern aus, die hierfür noch unerschöpfliche Spielwiesen anbieten, wie etwa China. Es geht dabei vergessen, dass die Hauptaktivität der Bauindustrie den «simplen» Wohnbau betrifft. Jedes Jahr wächst die Schweiz um die Grösse der Stadt Luzern. Man rechne, wieviele Einheiten für die Unterbringung der Zuwanderer benötigt werden. Dieses Feld wird Generalunternehmern überlassen, bei denen baukünstlerische Anliegen nicht prioritär sind. Doch die Landschaft wird nicht von auffälligen Findlingen geprägt, sondern von den Fläche raubenden Siedlungen, die erst noch etlichen Sachzwängen ausgesetzt sind. Es ist ein Planen auf Restparzellen, auf Industriebrachen, in der Nähe von ge-schützten Denkmälern und meistens ausserhalb der Zentren, an Unorten sozusagen.
Die Zürcher Architekten Yvonne Rudolf und Andreas Galli, die sich erst nach dem Studium kennengelernt haben und seit 1998 eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft führen, widmeten sich von Anbeginn dem Wohnungsbau. Sie dokumentieren ihre insgesamt erfolgreiche Arbeit mit einer aufwändigen Publikation, die im Werkkatalog zwar nicht weniger als 220 Projekte enthält, im Hauptteil aber lediglich deren neun detaillierter auslegt. Zwei längere Texte von Sabine von Fischer und Caspar Schärer ermöglichen gleichsam eine doppelte Lektüre der ausgewählten Werke.
In einem von Inge Beckel geführten Interview erinnert sich Galli an seine Anfänge als Architekt, als es nicht gerade als schick galt, etwas umzubauen. «Ziel war stets der Neubau, möglichst auf der grünen Wiese. Unsere Haltung war aber schon damals, dass der Bestand grundsätzlich und seit jeher einen wesentlichen Anteil an der Stadt ausmacht. Wenn man die Stadt liebt und gewillt ist, an dieser weiter-zubauen, kommt man nicht darum herum, sich auch für Erneuerungen, Umbauten und Instandsetzungen zu interessieren. Wir müssen mit den Mitteln, die wir haben, möglichst an der verdichteten Besiedlung des Landes weiterbauen».
Diesem Bekenntnis blieben Galli und Rudolf seit 1998 treu, als sie mit dem Neubau der Zurich International School in Wädenswil erstmals national auf sich aufmerksam machen konnten. Seither realisierten sie über 800 Wohnungen, von denen etliche in der Monografie mit Grundrissen präsentiert werden. Sie gehören zu grösseren Überbauungen, etwa auf der Fehlmannmatte in Windisch, auf dem ehemaligen Färbe-Areal in Schlieren, im Quartier Luegisland in Zürich, auf dem Gelände einer ehemaligen Giesserei in Winterthur, im Sihlgarten in Zürich Leimbach.
Dabei fällt auf, dass die Architekten Grundrissplanung und Fassadengestaltung voneinander unabhängig erarbeiteten, da diese beiden Aspekte unterschiedlichen Ansprüchen genügen müssen. Sind es die Bedürfnisse der zu-künftigen Bewohner, welche die verschiedenen Wohnungstypen bestimmen, müssen die Zeilen in eine schon belegte Umgebung eingepasst werden. Exemplarisch soll hier das Mehrgenerationenhaus «Giesserei» in Winterthur genannt werden. Zwei sechsgeschossige Längsbauten werden mit zwei niedrigen Querriegeln derart verbunden, dass ein intimer Innenhof geschaffen werden konnte. Für die 155 Wohnungen zeichneten Galli und Rudolf nicht weniger als 43 Typen, von der Eineinhalb- bis zur Zehnzimmerwohnung. Die im Buch gezeigte Kollektion kann durchaus als eine Mustersammlung analysiert werden. Das Thema der Durchmischung von Generationen ist höchst aktuell und dürfte für Architekten eine interessante Herausforderung für weiter zu entwickelnde Modelle sein. Dieser Vielfalt der Grundrisseinteilung stehen klar strukturierte Fassaden gegenüber, bei denen dank der reinen Holz-konstruktion die Latten einerseits durch den Wechsel von horizontaler und vertikaler Schichtung, andererseits durch eine spezielle Farbgebung das Grossvolumen verortet wird.
Der Respekt vor dem Bestehenden wird in der Werkauswahl auf unterschiedliche Weise bezeugt: Im Quartier Luegisland mussten die Neubauten mit den bestehenden Punkthäusern von Albert Heinrich Steiner in Einklang gebracht werden, ohne dass dabei auf Alt gemacht wurde. Die Hochhäuser der Wohnsiedlung Glanzenberg in Dietikon setzen die roten Fassaden und die spiegelnden Bänder in Orange die sprichwörtlichen Farbtupfer in einer eher grauen Umgebung. Und bei der Sanierung der Schulanlage Bühl in Zürich sind es zwei bescheidene Eingriffe, welche die Handschrift von Galli und Rudolf tragen, eine Gusseisensäule im Erdgeschoss und ein grosser gerahmter Unterstand in Sichtbe-ton auf dem Pausenplatz.
Die Monografie wird zweifelsohne helfen, das Wohnen für die Massen, die umfassendste Bauaufgabe schlechthin, auch aus einer baukünstlerischen Perspektive zu betrachten. Galli und Rudolf haben mit ihren Realisierungen bewiesen, dass eine solche Aufgabe für ambitionierte Architekten alles andere als eine Verlegenheitslösung ist.
Sabine von Fischer (Hrsg.)
Galli Rudolf Architekten
Raumfassungen/Spatial Adaptations 1998–2014
d/e, 318 S., Park Books Zürich, 2015
CHF 69
978-3-906027-50-0
L&K-Buchtipp
«Kiew – europäische Metropole der Ukraine»
Kiew ist seit dem Euromajdan der Ort, an dem sich Europas Zukunft zwischen Ost und West entscheidet. Aber schon vor den revolutionären Ereignissen im Winter 2013/14 war die ukrainische Metropole eine «Stadt der Kuppeln und Dämonen», untrennbar mit Europa verbunden und ihr zentraler Platz ein politischer Brennpunkt. Der Majdan, der Platz der Unabhängigkeit, wird von den Kiewern sehr verehrt.
Der Architekturführer Kiew nähert sich von der baukulturellen Seite an die von Russland, Polen und Litauen geprägte ukrainische Metropole. Vor über 1.500 Jahren gegründet, gilt Kiew als «Mutter aller russischen Städte»- Doch ebenso ist die Stadt seit Jahrhunderten bestrebt, selbständig zu werden.
Der Architekturführer Kiew präsentiert über 150 sehenswerte Bauten aus der jahrhundertealten Stadtgeschichte, von den als UNESCO-Weltkulturerbe firmierenden Sakralgebäuden über klassizistische Solitäre bis hin zu einzigartigen Jugendstilhäusern, am berühmtesten wohl ist das «Haus der Chimären» von Wladyslaw Horodetzki, des «Gaudi von Kiew». Auch die typischen Wohnanlagen der Avantgarde-Architektur, die imposanten Paläste der Stalinzeit, die ikonischen Entwürfe der Sowjetmoderne sowie die bedeutendsten seit Erlangung der Unabhängigkeit entstandenen Bauprojekte werden sachkundig dargestellt.
Ein Sonderkapitel führt zudem in einem Spaziergang durch die letzte «sozialistische Idealstadt» der UdSSR: Slawutytsch, die 1986 infolge der Atomkatastrophe von Tschornobyl gegründete Planstadt.
DOM publishers richtet mit dieser Publikation den Fokus auf die erstarkende Zivilgesellschaft in der Ukraine.
Kiew
Architekturführer
Peter Knoch / Heike Maria Johenning
Mit weiteren Beiträgen von Oleksandr Burlaka, Ievgeniia Gubkina
und Bohdan Tscherkes
134 × 245 mm, 308 Seiten,
440 Abbildungen, Softcover
CHF 46.40. € 38.
ISBN 978-3-86922-287-5 (deutsch)