George Saunders, Foto: PD
«Begonnen hat alles mit Hemingway»
Von Sacha Verna
George Saunders ist der unbestrittene König der Kurzgeschichte. In seinem neuen Band «Zehnter Dezember» überzeugt der amerikanische Autor einmal mehr mit Humor, Abgründigkeit und schiefen Realitätsebenen. Eine Begegnung in New York.
Wäre George Saunders ein Typ, der sich Zitate über den Schreibtisch hängt, würden drei Sätze da in Grossbuchstaben stehen:
1. «Wenn du vorhast, ein Gedicht über zwei fickende Hunde zu schreiben, und ein Gedicht über zwei fickende Hunde schreibst, hast du ein Gedicht über zwei fickende Hunde geschrieben». (Gerald Stern)
2. «Jeder glückliche Mensch sollte einen Toten im Schrank haben». (Anton Tschechow)
3. «Der Kapitalismus beraubt den Menschen seines Empfindungsvermögens». (Terry Eagleton)
George Saunders braucht diese Sentenzen nirgendwo hinzuhängen. Wie sehr er sie verinnerlicht hat, demonstriert der 55-jährige Schriftsteller seit zwei Jahrzehnten in seinen Kurzgeschichten. «Zehnter Dezember» ist Saunders’ vierter Band mit Erzählungen und laut dem New York Times Magazine «Das beste Buch, das Sie in diesem Jahr lesen werden».
George Saunders gehört zu den originellsten amerikanischen Gegenwartsautoren. Als unbestrittener König der kurzen Form wird er von Berufsgenossen wie Thomas Pynchon ebenso bewundert wie von der Kritik. Das Publikum liebt seine unverkennbare Mischung aus Komik und Abgründigkeit, aus Surrealismus, Science-Fiction und hundertprozentiger Wirklichkeitsnähe.
Die zehn Geschichten in «Zehnter Dezember» handeln von kryptischer Unternehmenskommunikation, den Mutationen einer Vogelscheuche und einem Kriegsveteranen mit posttraumatischen Belastungsstörungen. So könnte man sagen. Man könnte aber auch sagen: Die Geschichten handeln von nichts ausser der Sprache, aus der sie gemacht sind. George Saunders erklärt: «Ich versuche mir das Thema, den Plot einer Geschichte beim Schreiben so lange wie möglich vom Leib zu halten». Anders ausgedrückt: Solange er nicht vorhat, über zwei fickende Hunde zu schreiben und nicht über zwei fickende Hunde schreibt, wird er nie bloss eine Geschichte über zwei fickende Hunde geschrieben haben.
Saunders sitzt im New Yorker Ableger der Syracuse University, an der er seit 1997 kreatives Schreiben unterrichtet. Er fährt fort: «Eine Geschichte über etwas ist immer eine reaktionäre Geschichte. Sie signalisiert: Alles, was wir sehen, ist so, wie es scheint, und unsere Sprache reicht, um das zu beschreiben. Dabei wissen wir ganz genau, dass das nicht stimmt». Saunders verteilt Kaffee in Plastikbechern und schliesst die Tür des verglasten Konferenzzimmers, das wie die meisten Aquarien dieser Art jeglicher Atmosphäre entbehrt. Am nächsten Tag wird Saunders zur Buchmesse nach London fliegen und danach mit seiner Frau nach Paris, worauf er sich zu freuen scheint wie ein Kind auf Weihnachten: «Wir werden zum ersten Mal den Eiffelturm sehen, in unserem Alter!».
Glaspalast des Lebens
Begonnen hat für George Saunders alles mit Ernest Hemingway. Auch die Russen waren wichtig, Isaac Babel, Nikolai Gogol und natürlich Tschechow. Aber während er als Geophysiker auf Sumatra für einen Ölkonzern arbeitete und später als technischer Redakteur in Rochester, New York, feilte er an Hemingway-Imitationen herum. Erfolglos, bis er sich eingestand, dass es eben nur Imitationen waren, die nichts mit Hemingway und noch weniger mit Saunders zu tun hatten.
Die Erlösung kam mit einem Themenpark. Statt zum hundertsten Mal auf der Couch eines beziehungsgestörten Ehepaares oder in der biografischen Einöde eines depressiven Babyboomers siedelte er eine Erzählung in einer Spasslandschaft an und verspürte plötzlich selber welchen. Durch die Alltagsferne des Schauplatzes kippte die Realitätsebene darin um, gerade so viel Grad, dass sich Saunders seiner literarischen Bedeutungsschwangerschaft entbunden fühlte: «Es war, als würde jemand einen ausgestopften Pinguin neben uns auf den Tisch stellen. Wir könnten uns zwar weiterhin ernsthaft unterhalten, aber etwas in diesem Raum hätte sich verändert». Hemingway ist prima. Bei Saunders feiert Hemingway Halloween.
Mit Tiefsinn im Mäntelchen erfundener Plausibilität schlägt sich George Saunders nicht mehr herum. Er nimmt die Stimmen auf, die er hört, und die klingen in jeder Erzählung anders:
«Sie hegte Hoffnungen, dass {Herzbube} aus der Ferne kam. Die Jungs von hier hatten ein gewisses je ne sais quoi, auf das sie, um ehrlich zu sein, nicht beaucoup stand, beispielsweise: Die gaben echt ihren eigenen Nüssen Vornamen. Hatte sie selber gehört! Und wollten unbedingt für ihren Stromversorger arbeiten, weil die Arbeitshemden von CountyPower so cool waren und ausserdem gratis». – So sinniert Alison Pope in «Sprung zum Sieg» vor sich hin, kurz bevor sie von einem Fremden unter vorgehaltenem Messer zu einem Lieferwagen geschleppt wird.
In «Flucht aus dem Spinnenkopf» werden den Insassen eines Gefängnisses Mittel mit Namen wie «Dunkelfloxx™» und «Vivisteif™» verabreicht, um deren Wirksamkeit zur Steigerung menschlicher Leidens- und Liebesfähigkeit zu testen, oder im Fall von «Verbaluce™» der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit:
«Während ich Heather leiden sah, erfüllte eine grosse Zärtlichkeit meinen Körper, eine Zärtlichkeit, die schwer von einer Art weitreichendem existentiellen Brechreiz zu unterscheiden war; mit anderen Worten, warum werden solch wunderschöne geliebte Hüllen zu Sklaven so vieler Schmerzen gemacht? (…) Heather dargeboten als ein Bündel Schmerzrezeptoren. Heathers Geist war im Fluss und in Gefahr, ruiniert zu werden (durch Schmerz, durch Kummer). Warum? Warum war sie so gemacht? Warum so zerbrechlich?».
Ja: Warum? In George Saunders’ Erzählungen ist das Beben immer schon spürbar, das den Glaspalast des Lebens früher oder später in einen Scherbenhaufen verwandeln wird. Durchs Fenster des Konferenzzimmers deutet Saunders auf den Flur: «Stellen Sie sich vor, da draussen würden hungrige Wölfe herumspazieren. Wie kommen wir hier raus?». Er zuckt mit den Schultern. «Sollen wir die Wölfe ignorieren?». Er schüttelt den Kopf. «Wir schauen ihnen direkt in die Augen und sagen: Okay, ihr Wölfe, wir nehmen euch zur Kenntnis, aber im Augenblick seid ihr noch da draussen, und wir sind hier drinnen, und wir haben nicht vor, uns von euch die Party verderben zu lassen». So spricht ein glücklicher Mensch mit einem Toten im Schrank und Anton Tschechow im Kopf.
In «Die Semplica-Girl-Tagebücher» dekorieren Gutbetuchte ihre Gärten mit Wäschespinnen, an denen anstelle von Betttüchern und Unterhosen in weissen Gewändern Immigrantinnen flattern, denen man ein Kabel durch den Kopf gezogen hat. Ein solches «SG-Arrangement» beschliesst der Protagonist seiner Tochter zum Geburtstag zu schenken, obwohl oder weil die Familie selber alles andere als gutbetucht ist und er mit dem Klassenunterschieden gewisse Probleme hat:
«Mag eigentlich keine reichen Leute, weil sie uns armen Leuten Gefühl geben, doof und unzulänglich zu sein. Dabei sind wir gar nicht arm. Ich würde sagen, wir sind so mittel. Wir haben unheimlich viel Glück. Das weiss ich. Aber es ist trotzdem nicht recht, dass reiche Leute uns mittleren Leuten Gefühl geben, doof und unzulänglich zu sein».
Das Projekt Wir-pflanzen-uns-ein-Statussymbol geht erwartungsgemäss schief.
George Saunders’ Geschichten werden oft als satirische Kommentare zur Konsumkultur gelesen. Ganz einverstanden ist Saunders damit allerdings nicht: «Ich sehe den Kapitalismus einfach als geeignete Metapher für die menschliche Natur. Sie haben sechs Kokosnüsse, ich habe eine». Er wiegt die imaginären Kokosnüsse in den Händen. «Sofort fängt der Wettbewerb an. Selbst wenn wir beide sechs Kokosnüsse hätten, hätten wir nicht gleich viel, weil Sie noch länger zu leben haben als ich oder ich mir vielleicht schon morgen eine ganze Kokosnussplantage kaufen werde». Er glaube wie Terry Eagleton, dass der Kapitalismus den Menschen seines Empfindungsvermögens beraube: «Aber ich glaube auch, dass das Leben an sich den Menschen seines Empfindungsvermögens beraubt».
Anleitungen zum Gutsein
Gegen diese emotionale Taubheit kämpfen George Saunders’ Figuren an. Sie wursteln sich durchs Gutsein als Daseinsprojekt. Da ist die Mutter aus besseren Kreisen, die mit ihrem Nachwuchs zu einer Mutter aus schlechteren Kreisen fährt, um einen Welpen zu begutachten, und der plötzlich bewusst wird, wie sehr ihr familiäres Glück einer Kaugummiblase vorm Platzen gleicht. Sie kauft den Welpen nicht. In der Titelgeschichte «Zehnter Dezember» plant ein todkranker Mann, Selbstmord zu begehen, und rettet stattdessen einen Jungen vor dem Ertrinken. Der Hirntumor bleibt. George Saunders’ Erzählungen sind Anleitungen zum Gutsein, die das Scheitern immer schon miteinbeziehen. Gut sein ist schwierig. Umso leichter fällt es, George Saunders und seine humanistischen Dramolette zu schätzen.
(Erstveröffentlichung in der NZZ am Sonntag, 13. April 2014, mit freundlicher Genehmigung der Autorin).
George Saunders
Zehnter Dezember
Stories.
Aus dem Amerikanischen
von Frank Heibert.
Luchterhand Verlag, München 2014.
272 S., CHF 28.50 Franken. € 19.99.
ISBN 978-3-630-87427-2
(Ausgezeichnet mit dem Folio Prize 2014)