Liebe Leserinnen, liebe Leser, liebe Kunstinteressierte
Herzlich willkommen,
dies wird ein ausführliches Editorial, denn der Juni ist der Glanzmonat der Literatur und Kunst…
Die 54. Biennale di Venezia schlägt vom 4. Juni – 27. November ihre Zelte in der Lagunenstadt auf. Kommen Sie mit auf Entdeckungsreise in die poetischen Gefilde der Biennale di Venezia, die Direktorin, die Schweizerin Bice Curiger, beantwortet im Interview für LITERATUR & KUNST fünf Fragen zur Biennale unter dem Motto ILLUMI nazioni, auf welche Imaginationen und Highlights Sie sich freuen können.
Die ART, Basel findet vom 15. – 19. Juni statt und expandiert nicht nur nach Miami, auch Hongkong ist im Visier. Die erfolgreiche Schweizer Kunstmesse gilt als Trendsetter der internationalen Kunstszene.
An den Literaturtagen in Solothurn vom 3. – 5. Juni sind neue AutorInnen zu entdecken, der LITERATUR & KUNST-Tipp: Stefanie Sourlier, geboren 1979 in Zürich (Das weisse Meer, Erzählungen, FVA, 2011), Monica Cantieni, geboren 1965 (Grünschnabel, Roman, Schöffling, 2011) oder Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Rumänien, lebt in Zürich (Jacob beschliesst zu lieben, Roman, C.H. Beck, 2011).
Wir stellen Ihnen die neue Erzählung von Peter Handke als Spaziergänger durch Sinnwelten vor: ‚Der Grosse Fall’,
den Dichter Paul Celan, der zum aktuellen Klassiker geworden ist, mit einer Neuauflage der Gedichte aus seinem Gesamtwerk.
Das Fotomuseum Winterthur stellt Fotografien von Ai Weiwei, des in China inhaftierten Künstlers aus sowie Fotografien des russischen Avantgarde-Fotografen Alexander Rodtschenko.
Wir präsentieren Ihnen einen neuen Band über die Schweizer Architekten agps: ‚Blickwechsel’. Dazu ferner einen Beitrag von Robert Kaltenbrunner zur nachhaltigen Architektur: ‚Die Zukunft ist grün’.
Die unerschrockene Weltenbummlerin durch Asien, Afghanistan und Indien, Ella Maillart lernen Sie in einem fesselnden Porträt kennen, das im August 2011 auch als Publikation ‚Grosse Schweizer Frauen, die Geschichte schrieben’ von Daniele Muscionico im Limmat-Verlag erscheinen wird.
CARTE BLANCHE
Der Schweizer Botschafter Tim Guldimann in Berlin hat in der ZEIT eine klarsichtige, beeindruckende Analyse über das Verhältnis der Schweiz zu Deutschland geschrieben: Unser Deutschland. Wir bringen diesen Bericht in der Rubrik ESSAY mit freundlicher Genehmigung der ZEIT.
Buchtipp: Der berückende Fotoband ‚Mythos Saint Tropez’ von Helge Sobik zeigt die schillernde Côte d’Azur,Stars und Sternchen, Celebrities von Gestern und Heute. In der Reportage von Ingrid Schindler besuchen Sie die Dordogne und leben wie Gott in Frankreich…
Max Frisch lässt uns nicht los, zum 100. Geburtstag hat auch das Museo Onsernone in Loco, direkt neben Berzona, eine Sonderausstellung eröffnet: ‚Max Frisch Berzona’, bis zum 30. Oktober (www.onsernone.ch).
Und im vom Architekten Max Frisch erbauten und berühmten Freibad Letzigraben sind Fotografien von Niklaus Stauss und Pia Zanetti von Max Frisch bis zum 12. September 2011 ausgestellt.
Homo Frisch
Zum 100. Geburtstag von Max Frisch
‚Homo Faber’ war das erste Buch, das mich als Jugendliche auf Max Frisch aufmerksam machte, die Geschichte des rationalen Ingenieurs Walter Faber, der von Zufällen apokalyptischen Ausmasses überwältigt wird und sich unwissentlich in die eigene Tochter verliebt. Mein erstes Exemplar der Ausgabe von 1957 hat seither manche Umzüge überstanden.
Die in den fünfziger Jahren brisante und irritierende Story ‚Ein Bericht’, wie sie Max Frisch mit unverhohlenem Understatement bezeichnete, erschien 1957. Und wurde erst 1991 von Volker Schlöndorff verfilmt, mit Sam Shepard, Julie Delpy und Barbara Sukowa in den Hauptrollen. Kurz vor seinem Tod im April 1991 konnte Frisch den Film in einer Privatvorstellung ansehen. Vom symbolhaft technikgläubigen ‚Homo Faber’ wurden bisher weltweit 4,8 Mio. Exemplare, am meisten von Frischs Büchern neben ‚Stiller’ und ‚Mein Name sei Gantenbein’, den berühmten Tagebüchern oder ‚Montauk’, verkauft. Eine Parabel auf die Sicherheitsgläubigkeit einer störanfälligen Technik auch in heutigen Tagen?
Frisch hatte schon früh in Deutschland einen Namen.
Im Schauspielhaus Hamburg dann 1962 Frischs ‚Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie’: ein kühn konstruiertes Theaterstück, – das in New York anfangs der 50er Jahre während eines Stipendien-Aufenthaltes entstanden war -, die Linien der Geometrie mit der Liebe verbindend, oder anders gesagt, Frischs Don Juan liebt die Klarheit der Geometrie mehr als die Frauen…
Frisch als unermüdlicher Erforscher der Frauen? In der Schweiz wurde das Stück heftigst verrissen, in Hamburg von der Kritik in einer Neubearbeitung freundlich aufgenommen. Die Rolle des Don Juan spielte Ullrich Haupt. Es wurde nach ‚Biedermann und die Brandstifter’ und ‚Andorra’ zum dritterfolgreichsten Drama mit über 1000 Aufführungen an deutschsprachigen Bühnen.
In Vergessenheit geriet der streitbare und umstrittene Autor nie, – stets im Bild mit der Pfeife wie der investigative Kommissar Maigret – , aus den Feuilletons ebenfalls nicht, insbesondere wenn der noch bis Ende 2011 gesperrte Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann veröffentlicht werden wird; mit ihr lebte Frisch in Zürich und Rom 1958 bis 1962 fünf Jahre zusammen. Eine Dichterehe sei nicht zu empfehlen, bekannte der Schriftsteller später, der in seinem Schaffen zielgerichtet und pragmatisch zu Werke ging, während seine Dichterfreundin Bachmann sich schwer tat, sein stakkatomässiges Hämmern auf der Schreibmaschine mit Ein-Finger-System im vordigitalen Zeitalter zu ertragen, sie, die für ihre Dichtkunst viel Zeit und Musse brauchte. Seine Statements zum Verhältnis von Mann und Frau klingen aktuell, obschon Frisch in späteren Jahren, als Frauen und Freundinnen immer jünger wurden, nicht als Intellektueller, aber im Auftritt eher bieder wirkte. Doch es war letztlich Schriftstellerkollege und Antipode Friedrich Dürrenmatt (1921-1900), der sich an Frischs Frauengeschichten stiess.
Der jüngeren Generation ist er oft meist kein Begriff mehr, so konnte man kürzlich auf facebook lesen:
‚who the fuck is Max Frisch’? Vielleicht hätte das ihn, der die Wandlung so liebte und sich jeder Routine entzog, gefreut. Geschont hat Max Frisch niemanden, seine Lieben nicht, und vor allem auch nicht sich selbst.
Die Fragen an sich, die lakonische Selbstironie, die Suche nach Erkenntnis und eigener Identität bewahren ihre Gültigkeit. Da hat er uns noch etwas zu sagen.
Da war er seinen und auch manch heutigen Zeitgenossen voraus. Das ist noch nicht ausgelotet mitsamt seiner Widersprüche.
So wählte der bekennende Agnostiker und Atheist Frisch das Bibelzitat: ‚…du sollst dir kein Bildnis machen’
als Lebensmotto; Frisch wollte in der Kirche St. Peter in Zürich verabschiedet werden, aber ohne Pfarrer. Angekommen ist er in der Rezeption, die den unbequemen Frisch für sich entdeckt und beansprucht hat, wo sich jetzt erstaunlich viele Biografen um sein Leben kümmern (siehe Max Frisch, LITERATUR & KUNST, April 2011, ‚Der Architekt der Biografien’).
Ob es auch wichtige Fragen zur Schweiz auslöst und damit etwas bewegt wird, wie es sich Frisch wünschte?
Der sicher nicht mumifiziert und auf ein Podest gestellt werden wollte und sollte. Der Nachhall seiner Kritik an einer statischen Schweiz bleibt abzuwarten. Werden neue und politische Fragen gestellt? Ausschaffung? (Was hätte Max Frisch zu diesem Ausdruck gesagt, fragte die Schweizer Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji in einer Sendung des SF ‚Sternstunde Philosophie’, die für ihre Einwanderungs-geschichte aus Serbien ‚Tauben fliegen auf’ den Deutschen und den Schweizer Buchpreis erhielt). Asylanten? Atomkraft? (Immerhin haben am 22. Mai 2011 25 000 Personen an der grössten Anti-AKW-Demo seit 25 Jahren im Aargau teilgenommen). Löst es eine breite Gesellschaftskritik und -diskussion aus, in einer Zeit, in der die Schweiz gefordert ist, Position zu beziehen und sich wieder zu isolieren gedenkt? Wo die Pole im Land auseinanderdriften wie kaum je zuvor? Gerade Max Frisch hätte sich vehement gegen Repetitionen ausgesprochen. Ihn nur zu zitieren und seinen Lebensweg nachzuzeichnen, ist gefahrlos und bequem. Das darf nicht alles sein, was von ihm bleibt. Es geht darum, zu lernen und sich offen weiter zu entwickeln. Und immer wieder: infrage zu stellen… ‚Der Mensch erscheint im Holozän’…
Es gab noch einen anderen Schweizer in Hamburg, den ich verehrte: Rolf Liebermann (Zürich 1910 – Paris 1999), Komponist und langjähriger Intendant der Staatsoper Hamburg, und seine Opera buffa ‚Die Schule der Frauen’.
New York und Basel: Speziell hinweisen möchten wir auf die neue Ausstellung in der Fondation Beyeler, Basel mit Constantin Brancusi & Richard Serra. Der Zufall will es, dass gleichzeitig eine Ausstellung von Richard Serra mit Zeichnungen im Metropolitan Museum of Art, New York stattfindet, über die Ausstellung hat Sacha Verna einen Beitrag geschrieben, den Sie in dieser Ausgabe von LITERATUR & KUNST lesen können.
Ferner sind im Kunsthaus Zürich Joseph Beuys (1921-1986) ‚Difesa della Natura’, der Schenkung der Baronin Lucrezia De Domizio Durini, zu sehen sowie Franz Gertsch, geboren 1930 in Mörigen, mit neuer Ausstellung (www.kunsthaus.ch). An den Berner Troubadour Mani Matter (1936-1972) erinnert das Landesmuseum Zürich (www.musee-suisse.ch) mit einer Gedenkausstellung.
Es gibt einen neuen Kunst-Hot Spot in Zürich: die Galerien Eva Presenhuber und Peter Kilchmann sind ins Diagonal gezogen, next to Prime Tower auf dem Maag-Areal ins Zürcher Westend. Galeristin Eva Presenhuber eröffnete die Galerie im April mit Franz West, der an der 54. Biennale di Venezia ausgezeichnet wurde.
Was alle und alle Medien im Mai umtrieb: der meist gesuchte Terrorist wurde in seinem schwer bewachten Villen-Versteck in Pakistan getötet. Die grosse Erleichterung ist angemessen.
Ist es auch das Ende des islamistischen Terrorismus? Der ‚arabische Frühling’ mit Bestrebungen der Menschen zu Freiheit und Demokratie hat dem brutalen Terrorismus mehr als die jahrelange Jagd einen wirksamen Schlag versetzt. Diese Kräfte verdienen unsere moralische Unterstützung.
Es gibt nichts, was nicht mit Energie zu erklären wäre, Einsteins Formel E = mc2, Energie mal Lichtgeschwindig-keit kann man auch auf Umwälzungen übertragen, Magnetismen der Freiheit…
Das DU, unser geschätzter Kulturpartner, wurde mehrfach prämiert, mit dem Fotopreis des Henri-Nannen-Preises, an den Belgier Stephan Vanfleteren, der den Künstler Tomi Ungerer fürs DU porträtierte, ferner vom ADC Deutschland für Editorial/Print/Jahrgang 2010. Und der DU-Fotograf Christian Lutz erhielt den Swiss Press Photo Award – wir gratulieren herzlich!
Andiamo!
Wir danken Ihnen für Ihr Interesse, die erste Mai-Woche verzeichnete bereits mehr als 40 000 Zugriffe auf Literatur & Kunst, wir freuen uns weiterhin auf Sie, Ihr Echo und Ihr Abo!
Sehr herzlich, mit den besten Grüssen für einen wunderbaren Sommer!
Ingrid Isermann, Herausgeberin