FRONTPAGE

«Bouletten, Berlinale, Berliner»

Von Rolf Breiner

Wer in Deutschlands Hauptstadt landet, demnächst in der Pampas Schönefeld, dem Hauptstadt-Flughafen im Osten, hat entweder einen Koffer dort, Sehnsüchte nach pulsierender Kultur oder ist einfach neugierig. Berlin bereichert von der Berlinale bis zur Boulette.

Ich bin zwar nicht unisono von Kopf bis Fuss auf Liebe eingestellt, eines der nachhaltigen Chansons der grössten deutschen Diseuse Marlene Dietrich, wohl aber auf Berlin, jederzeit und immer wieder. Und das mit dem berühmten Koffer stimmt auch. Berlin – das ist Geschichte, heisst Geschichten von Alfred Döblins expressionistischem Roman «Berlin Alexanderplatz» aus dem Jahr 1929 bis zu den Erkenntnissen des Ostwestfalen Hans-Ulrich Treichel: «Endlich Berliner» (2011). Der liess sich 1993 über Robert Walser, den «alpenländischen Spaziergänger», in Berlin oder Ernst Jünger (1994) aus. Vor allem schreibt Treichel über seine Süchte und Sehnsüchte nach Berlin, über Glück und Melancholie der Berliner und einem Zugereisten wie ihm selbst (Insel Verlag, Berlin 2011). Eine lesenswerte Einstimmung.

 

 

«Der geteilte Himmel»
Was passiert einem, wenn man zur Berlinale alljährlich im Februar die Hauptstadt besucht, besichtigt, berührt. Man steht an – vor Türen, Kinos und Kassen. Egal, ob in der Festivalzentrale am Potsdamer Platz, der Neuen Nationalgalerie oder in der Galleria (Kaufhof) am Alexanderplatz. Berlin ist hipp, braucht Nerven und Geduld. Nee, der Taxi- oder Busfahrer macht einen nicht blöd an, hält seine Berliner Schnauze im Zaun, wenn er denn eine hat, und beantwortet ganz manierlich stupide Touristenfragen . Das kleine Schlangestehen an den Solothurner Filmtagen wird in Berlin zum Marathon. Ein Festival-Kinoticket kostet zwischen einer halben bis zu einer Stunde Warten, wenn man nicht online unterwegs ist.
Das kann auch für die Neue Nationalgalerie (nahe Potsdamer Platz) zutreffen. Mein Pech war einfach, dass die Ausstellung Gerhard Richter zu seinem 80. Geburtstag, in allen Medien breit berichtet und gefeiert, just an diesem Sonntag eröffnet wurde. Das hiess: Schlangestehen, zuerst draussen vor der Tür, dann drinnen vor der Kasse. Doch dann wundert man sich. Die Besuchermassen verblieben im Erdgeschoss beim «Gerhard  Richter  Panorama», einem Sammelsurium von 140 Gemälden und fünf Skulpturen (bis 13. Mai 2012). In den unteren Ausstellungsräumen verloren und begaben sich wenige. Dabei ist die Ausstellung «Der geteilte Himmel» über die Kunst des 20. Jahrhundert, über moderne Zeiten 1945 – 1968 (bis Ende März 2013), weitaus reichhaltiger und interessanter. Dieses unterirdische Panorama, bestückt aus der Sammlung der Nationalgalerie, bildet den zweiten Teil dieser «Selbstschau» eines Jahrhunderts. Zu sehen sind unter anderem auch eine Arbeit Bernhard Luginbühls und Alberto Giacomettis «Frau ohne Arme». Mehr als sehenswert.

 

 

Promoten und posieren
Wie gesagt, Berlin ist für rund elf Februar-Tage fest in Filmhand. Da tippeln Stars und Filmer über den Roten Teppich, promoten ihre Filme und posieren vor Kameras und Publikum. Die 62. Internationalen Filmfestspiele (9. bis 19. Februar 2012) zogen wieder Tausende in den Bann, nicht nur im Wettbewerb oder Panorama, sondern auch beim Festival im Festival «Generation».

Der Schweizer Dokumentarfilm «Die Kinder vom Napf» von Alice Schmid eröffnete vor über Tausend jungen und älteren Besuchern. Vier der jungen Akteure vom Napf hatten ihren Auftritt und begeisterten mit sympathischer Performance. Laura, die Geschwister Julia und Carolin sowie Thomas sangen das Romoos-Lied und stellten sich selbstbewusst den Fragen aus dem Publikum.

Gibt es Unterschiede zwischen der Napf-Heimat und Berlin? «Hier gibt es viel mehr Beton, bei uns dafür mehr Gras», meinte Thomas cool. Die Innerschweizer Kids erwiesen sich als natürliche ehrliche Botschafter der Schweiz.

Regisseurin Alice Schmid hatte in 365 Tagen über 400 Stunden Filmmaterial gesammelt und war überglücklich. Das freute auch den Gemeindepräsidenten von Romoos, Franz Koch, der mit dem Gemeinderat angereist war. Da könnten sich manche Politiker eine Scheibe abschneiden. Koch & Co waren bei den Leuten, ihren Leuten.

 

 

Apropos Kids. Im Rahmen der Berlinale heisst eine Mini-Sektion Kiez «Berlinale Goes Kiez», nun zum dritten Mal. Doch das hat nichts mit Kindern zu tun, sondern mit Berliner Quartieren. So war auch das Kino Filmkunst 66 an der Bleibtreustrasse involviert. Ich lernte das Quartierkino an der Bleibtreustrasse (Nähe Kurfürstendamm) anlässlich einer Privatvorstellung kennen.

Der engagierte Tier- und Walschützer Jürgen Schau, ehemals Topmanager bei Universal Films, und seine Frau Elfie hatten eine Familienvorstellung für den Spielfilm «Ruf der Wale» (nach einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1988) organisiert. Beide sind Wal-Liebhaber seit 20 Jahren.  Jürgen Schau, engagiert und begeisternd, erzählte von seiner ersten persönlichen Begegnung mit einem Wal: «Der sah mich an, sagte mir: Schütze mich. Tu etwas für mich.»

Und das tat er, der Hobby-Meeresbiologe und ehemalige Universal-Geschäftsführer. An diesem Sonntag den Kids zur Freude und den dazumal im Alaska-Eis eingeschlossenen Grauwalen zur Hilfe – hoffentlich. Das Quartierkino Filmkunst 66, das der Produzentin Tanja Ziegler gehört und von Jasper Jacobs geleitet wird, umfasst zwei Säle.

Ein Arthouse-Kino mit aktuellen Filmen wie dem 3D-Dokfilm «Pina» von Wim Wenders oder dem Spielfilm «Der Junge mit dem Fahrrad» von Jean-Pierre Dardenne.

 

 

Vom Kleinen zum Grossen, vom Kellerkino zur grossen Bühne: Der Friedrichstadt Palast, gewöhnlich Stätte für grosse Revuen mit 1900 Plätzen, wird zum Grosskino während der Berlinale. Man glaubt es kaum, wenn man nicht dabei gewesen wäre.

An einem Montagabend (23.15 Uhr) wurde das New Yorker Drama «Extremely Loud and Incredibly Close», Wettbewerbsfilm, aufgeführt. Das Publikum in dieser Nacht (rund 1500 Personen) verfolgte gebannt die Suche des Jungen nach Spuren seines Vaters, der dem Anschlag 2001 aufs World Trade Center zum Opfer fiel. Im entscheidenden Filmmoment nach Mitternacht war’s mucksmäuschenstill im grossen Saal. Spannung pur. Kein Knistern, kein Hüsteln, kein Popcorn – das wünschte man sich auch hierzulande vom Kinopublikum.

 

 

In Berlin wurde sie gefeiert, die grosse Mimin Meryl Streep, mit einem Goldenen Ehren-Bären. Als «Iron Lady» Maggie Thatcher im Kino bietet sie schauspielerisch eine grandiose Leistung und dürfte auch einen Oscar einheimsen. Sie war eine, die der Berlinale 2012 Glanzlichter aufsetzte.

Ein kleines Glanzlicht setzte auch die Schweizerin Ursula Meier mit ihrem Film «Sister», sie gewann einen Silbernen Bären. Das hat es seit Markus Imhoofs «Das Boot ist voll» nicht mehr gegeben. Und das ist mehr als 30 Jahre her.
Die Schweiz ist in Berlin angekommen. Und man hört es phonetisch zwischen Reichtagsgebäude, Brandenburger Tor und Ku’damm, Pergamon-Altar, Schaubühne und KadeWe (Kaufhaus des Westens) – die Schweizer sind schon da.
Ein kleiner Rat für Hungrige auf Berliner Pirsch: Hamburger heissen in Berlin Bouletten, das beste Kölsch findet man in der Ständigen Vertretung (bei der S-Bahnstation Friedrichsstrasse), den verheissungsvollsten frischesten Salat bekommt man im Neuen Kranzler Eck (Kurfürstendamm) und die variantesten Kartoffelgerichte im Kartoffelkeller nahe beim Deutschen Theater. Übrigens, die beste Curry-Wurst (mit hausgemachter Sauce) gibt’s nicht in Berlin, sondern in Zürich, im ShopVille oder Niederdorf!

 

 

Momentaufnahmen – Bewegte Bilder des Kinos

Abgesehen vom Hauptstadtnimbus und den Sehenswürdigkeiten – wer Berlin sagt, muss an Preussen denken (von dem dank des Friedrich-Jubiläums Magazine und der Bildschirm voll ist), aber auch ans Kino. Die Bärenjagd (Berlinale) ist zu Ende, wobei die Gebrüder Paolo und Vittorio Taviani überraschend einen Goldene Bären heimtrugen für ihren semidokumentarischen Knaststreifen «Cesare deve morire» (Caesar Must Die), in dem das Shakespeare-Drama in eine Strafanstalt verpflanzte wurde.

 

 

In einer Nebensektion gedachte die Berlinale übrigens auch einem Jubiläum: Anlässlich des 100. Geburtstags der Babelsberger Studios sind Filme wie «Der letzte Mann» (1924) von Friedrich Murnau, «Die Mörder sind unter uns» (1946) von Wolfgang Staudte oder «The Pianist» (2002) von Roman Polanski wiederaufgeführt worden.

Das älteste Grossstudio der Welt war nicht nur die Wiege des deutschen Films, sondern ist heute wieder ein Schauplatz internationaler Produktionen wie beispielsweise Quentin Tarantinos «Inglourious Basterds». Der Film wurde in Babelsberg teilweise gedreht. Ebenso ist «Der Blaue Engel» mit Marlene Dietrich hier 1930 entstanden wie auch «Der Vorleser» 2008 mit Kate Winslet.

 

 

In unmittelbarer Nähe des Potsdamer Platzes ist das Museum für Film und Fernsehen zuhause, verbunden natürlich mit einem Kino im Untergeschoss.
Wer das Kino, seine Kulissen und Geschichte liebt, sollte eine Stunde oder mehr einplanen. Natürlich begegnet man in der ständigen Ausstellung Stars wie Marlene Dietrich, grossen deutschen Filmern von Murnau, Fassbinder, Wenders oder Tykwer.

Interessant sind obendrein die Sonderausstellungen, zurzeit – Hollywood 1910 «Am Set. Paris – Babelsberg bis 1939». Zusammen mit der Cinématèque française wurden Bilder von Filmproduktionen aus der Frühzeit des Kinos zusammengestellt. Fotografen dokumentieren Aufnahmen und Posieren der Dietrich, der Bergman, der Garbo, dem Astaire oder Chaplin.

Dabei erzählen die Bilder nicht nur von den Akteuren und Regisseuren, sondern auch von den Kulissen und Apparaten. In einer zweiten Bilderschau stehen Berlin und Babelsberg im Zentrum. Die Deutsche Kinemathek präsentiert Filmproduktionen, die in den letzten zehn Jahren in Babelsberg entstanden sind (bis 29. April 2012).
Filmmuseum Berlin
10785 Berlin, Potsdamer Strasse 2
www.deutsche-Kinemathek.de
www.filmmuseum-berlin.de

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