FRONTPAGE

«Bruce Nauman: Disappearing Acts im Schaulager Basel»

Von Simon Baur

 

Wo die Kunst und die Betrachtenden an eigene Grenzen stossen: Das Schaulager in Münchenstein bei Basel zeigt mit «Disappearing Acts» die wohl grösste Retrospektive zum Werk des amerikanischen Künstlers Bruce Nauman.

Die Ausstellung, die bereits 2012 angedacht wurde, übertrifft die kühnsten Erwartungen, über 170 Arbeiten von den Anfängen in den 1960er-Jahren sind im Schaulager zu sehen. Wie bereits bei der Ausstellung mit den Arbeiten Steve McQueens haben der Künstler, zusammen mit der Kuratorin Kathy Halbreich und mit Maja Oeri, der das Architekten-Gen ganz offensichtlich im Blut liegt, ein Raumlabyrinth konstruiert, das dem des Minos in Nichts nachsteht und zahlreiche Überraschungsmomente in sich birgt.

 

 

Corridor  Installation

So geschieht es beispielsweise nach «Corridor Installation» in Raum 9. Am Ende eines schmalen, hohen Ganges steht ein Monitor, auf den man sich zubewegt. Die Kamera befindet sich im Rücken der Betrachter und je mehr man sich von ihr entfernt, desto kleiner wird die Figur auf dem Monitor. Fragen, ob die Installation auf Überwachung und Sicherheit anspielt oder ein Modell ist, um Anwesenheit in Frage zu stellen, stellen sich erst nachträglich, zuerst wird das eigene Körperempfinden in Frage gestellt. Der schmale Gang kann klaustrophobische Gefühle wecken, die Figur auf dem Monitor wird kleiner, während die Projektionsfläche immer näher kommt und vor allem gibt es vor dem bewegten Bild kein Entrinnen, es sei denn, man entzieht sich der Installation, in dem man sich aus dem Gang entfernt, dann wiederum hat man den Monitor nicht mehr im Blick.

 

 

Aspekte des Verschwindens

Verlässt man den schmalen Gang, um sich weiteren Arbeiten zuzuwenden, steht man plötzlich in einem riesigen Raum, Roger Federer könnte darin locker ein Match spielen. Und mittendrin mehrere, vor allem aber zwei grosse Arbeiten: «Model for Trench and Four Buried Passages» und «Square, Triangle, Circle». Zwei grosse Arbeiten, die als Modelle gedacht sind, in denen Aspekte des Verschwindens der eigenen Identität, aber auch der Modellcharakter für gedankliche Möglichkeiten thematisiert werden. Man ist als Besucher bei diesen unterschiedlichen Raumqualitäten ganz schön gefordert, stellt aber zumindest fest, dass es immer auch um das eigene Befinden geht, dass hier an seine Grenzen stösst. Ob das was mit der Ausstellungskonzeption zu tun hat? Sicherlich, doch lassen wir zuerst die Kuratorin der Ausstellung ihre Sicht der Dinge präsentieren.

 

 

Die Idee hinter der Ausstellung
Im Ausstellungsheft, dass übrigens nicht einfach ein Saalblatt, sondern ein rund 60 Seiten starkes Heft mit ausführlichen Texten ist und kostenlos abgegeben wird, schreibt Kathy Halbreich:
« ‹Bruce Nauman: Disappearing Acts› bietet die Möglichkeit, Naumanns einzigartige Beherrschung eines in sich stetig erweiternden medialen Spektrums zu erleben. Dazu gehören Video, Film, Performance, Skulpturen aus vergänglichen und dauerhaften Materialien, Environments in architektonischem Massstab, Fotografie, Zeichnung, Neon- und Soundarbeiten sowie technisch anspruchsvolle Installationen, in die das Publikum förmlich eintaucht. Diese Vielfalt wurde von manchen als Mangel an Kohärenz gedeutet, als Indiz dafür, dass Naumans vermeintlich disparaten Vorgehensweisen kein einheitliches stilistisches oder konzeptuelles Prinzip zugrunde liege.

 

Im Lauf der Vorbereitung dieser Ausstellung (…) entdeckte ich ein Muster, das eine in sich leicht widersprüchliche Alternative zum gängigen Narrativ darstellt: Tatsächlich bilden die vielfältigen Erscheinungsweisen des Verschwindens einen durchgehenden roten Faden in Naumans Schaffen; sie weckten und fesselten seine emotionale, intellektuelle und formale Aufmerksamkeit von seinen letzten Studienjahren bis heute. Das Verschwinden als Handlung, Konzept, Wahrnehmungstest, magischer Trick, Arbeitsmethode und Metapher war für Naumans Kunst stets ein nützliches Stichwort von bleibender Gültigkeit. Auch enge Verwandte des Verschwindens – das Abwesende, die Leere und damit einhergehenden Gefühle der Nichtexistenz, des Beraubt- oder Ausgeschlossen-Seins – treten in zahlreichen Formen auf. Sie werden beispielsweise in Leerstellen sichtbar, die der Grösse von Körperteilen entsprechen, im Raum unter einem Stuhl, im Selbst, das gerade um eine Ecke entschwindet, in den nächtlichen Vorgängen im leeren Atelier oder in den geistigen Blockaden, welche die Fähigkeit zu kreativem Schaffen unterminieren. Das Verschwinden ist also ein reales Phänomen und zugleich eine wunderbar weit gefasste Metapher für den Kampf gegen die mit dem kreativen Prozess, aber auch mit unserer Orientierung im Alltagsleben verbundenen Ängste. Nauman lässt die Dinge für vielfältige, oftmals widersprüchliche Auffassungen offen und stellt so die Bereitschaft des Publikums, die Sicherheit des Gewohnten aufzugeben, wiederholt auf die Probe».

 

 

Existent – abwesend
Gerade das Beispiel des Stuhls «A Cast of the Space under My Chair», oder die Arbeit «Wax Impressions of the Knees of Five Famous Artists» illustrieren den Aspekt des Verschwindens besonders deutlich. Doch was ist eigentlich zu sehen? Jene Form unter einem Stuhl, die man sich vorstellen muss, da sie eigentlich gar nicht da ist, wenn ein Stuhl präsent ist. Auch die Knie sind verschwunden, die fünf Künstler in den Wachs drückten oder geht es vielleicht gar nicht nur um das Verschwinden? Zieht man etwas weg, da muss es mal hier gewesen sein, wirft man etwas fort, dann muss man es in der Hand gehabt haben, zerstört man ein Kunst, muss sie mal existiert haben, der Ikonoklasmus, also die Bildzerstörung funktioniert nur, wenn er sich auf etwas Reales beziehen kann. Eine Höhle, ein Mausloch, eine Bodenfalle, ein Keller, ein Gang, sie alle sind nur möglich, durch ein Etwas das mal hier war und das entfernt wurde.

 

Damit etwas verschwinden kann, bedarf es seiner realen Gegenwart. Das kennen wir auch von der Abstraktion. Da wird, nimmt man den lateinischen Wortlaut, etwas weggezogen, doch damit dies geschehen kann, muss etwas dagewesen sein, das Nichts lässt sich nur schwerlich entfernen. Nicht, dass Kathy Halbreichs Erfahrungen nicht zutreffen würden, nur bedarf es für eine Negation zuerst einer Affirmation. Oder anders ausgedrückt, die Abwesenheit provoziert dazu den anwesenden Gegenstand oder Körper jeweils mitzudenken. Er ist nicht real vorhanden, er muss von unserer Fantasie assoziativ hinzugefügt werden, ein Aspekt den wir im Alltag laufend tun.

 

 

Körperlichkeit
Und noch was anderes fällt auf, wenn man die Ausstellung im Schaulager besucht – die Dominanz des Physischen beziehungsweise des Körperlichen. Ob mit der Form unter dem Stuhl, den Leerstellen der Knie, den grossen Skulpturen, den Neons wie «Sex and Death by Murder and Suicide», der Videoarbeit «Wall-Floor Positions» oder den «Contrapposto Studies», bei denen er, wie in seiner 1968 entstandenen Videoperformance «Walk with Contrapposto» auf die Bildhauerpose des Kontrapost zurückgreift und mit der Verwendung von Stand- und Spielbein eine unentwegte Gewichtsverlagerung vollzieht, immer steht das Thema des Körperlichen, des Plastischen im Zentrum. Das zeichnet bereits seine frühen Skulpturen aus wie «Untitled (Eye-Level Piece», eine Art Winkel, der an der Wand montiert ist und eine wellenförmige Grundfläche aufweist, oder «Model for Room with My Soul Left Out, Room That Does Not Care» eine Kreuzform aus eckigen Röhren in deren Zentrum sich eine Figur aus Draht zu bewegen scheint, oder «Plaster Steps», zwei aufeinanderfolgende Treppenpyramiden. Man könnte dabei zurecht von der Körperlichkeit des Blicks sprechen, während andere Objekte die Körperlichkeit des Denkens, der Bewegung oder des Stillstands thematisieren. Dass auch diese Themen mit dem Weglassen und Entfernen kombiniert werden, wird beispielsweise an der Installation «Carousel» deutlich, bei der angeschnittene Tierkörper aus Kunststoff in einem Karussell ihre Runden drehen, vielleicht auch die Metapher auf einen modernen Totentanz. Doch auch das Thema der Grenze, der roten Linie, die es einzuhalten gilt oder bewusst und unbewusst übertreten wird, ist für sein Schaffen zentral.

 

Wichtige Ausstellung der Gegenwartskunst

Es konnten hier nur wenige Werke erwähnt werden, man könnte über diese Ausstellung ohne Weiteres eine halbe Zeitung füllen, die Ausstellung ist derart umfassend und in sich geschlossen, dass man sie sehen muss. Überhaupt, und ich meine dies in keiner Weise arrogant, wer als Kunstinteressierter diese Ausstellung nicht besucht, hat eine der wichtigsten Ausstellungen der Gegenwartskunst verpasst, die je in diesem Land zu sehen war, vergleichbar vielleicht mit der Ausstellung zu den Arbeiten von Steve McQueen, die 2013 im Schaulager oder der legendären Andy-Warhol-Ausstellung, die 1978 im Kunsthaus Zürich stattfand. Zögern Sie also nicht, ergreifen Sie die Chance, die Ausstellung zu besuchen, wenn möglich auch mehrmals. Eine solche Chance kommt in einem Menschenleben nicht oft.

 

 

Unter dem gleichen Titel wie die Ausstellung erscheint zum Kaufpreis von CHF 75.- ein reich illustrierter Katalog. Begleitet wird «Bruce Nauman: Disappearing Acts» von Veranstaltungen und einem vielseitigen Kunstvermittlungsprogramm. Um den Besuchern eine vertiefte Beschäftigung mit dem Werk Bruce Naumans zu ermöglichen, berechtigt das Ausstellungsticket (CHF 22.-, regulärer Eintritt) zum dreimaligen Eintritt in die Ausstellung im Schaulager sowie zum einmaligen Besuch der beiden Installationen im Kunstmuseum Basel.

 

Bruce Nauman: Disappearing Acts

17. März bis zum 26. August 2018 Schaulager, Basel.

Anschliessend wird die Retrospektive vom 21. Oktober 2018 bis zum 17. März 2019 im Museum of Modern Art und im MoMA PS1 gezeigt. Weitere Informationen unter www.schaulager.org

 

 

 

 

«HARALD SZEEMANN – Museum der Obsessionen»

 

Das lang erwartete Buch über Schaffen und Archiv des richtungsweisenden Kurators Harald Szeemann

 

I.I. Der Kurator Harald Szeemann (1933–2005) war eine Schlüsselfigur der Kunstszene des 20. Jahrhunderts. Anarchisch, visionär und Grenzen sprengend leitete er Institutionen wie die Kunsthalle Bern (1961–1969) und stellte freie Ausstellungen zusammen; Szeemann definierte die Rolle des Kurators neu.

 

Er kuratierte mehr als 150 Ausstellungen, darunter die documenta 5 (1972), die Biennale von Venedig (1999, 2001) und kultur- und kunstgeschichtliche Schauen wie Junggesellenmaschinen (1975), Monte Verità – Berg der Wahrheit (1978) oder Der Hang zum Gesamtkunstwerk (1983). Sein Selbstverständnis und Schaffen prägen die zeitgenössische Kunstlandschaft bis heute.
Nach dem Tod Harald Szeemanns 2005 wurde sein Nachlass – ein gigantisches persönliches Archiv voller Dokumente, Geistesblitze und nichtrealisierter Ideen – vom Getty Research Institute erworben, nach Los Angeles verbracht, katalogisiert und erforscht. Zu Szeemanns 85. Geburtstag erscheinen nun die Ergebnisse dieser Forschungen. Mit über 350 Fotografien, Briefen und weiteren Dokumenten sowie Essays und Interviews mit Zeitzeugen zeichnet diese umfangreiche Publikation Leben, Denken und Wirken dieser zentralen Figur der Kunstszene nach.
Mit Beiträgen von Beatrice von Bismarck, Doris Chon, Carolyn Christov-Bakargiev, Philipp Kaiser, Megan R. Luke, Glenn Phillips, Pietro Rigolo und Mariana Roquette Teixeira sowie Interviews mit Tobia Bezzola, Tania Bruguera, Christo, Klaus Honnef, Anda Rottenberg und Gilberto Zorio.
Die Ausstellung von Teilen des in dem Buch versammelten Materials wird im Getty Research Institute in Los Angeles (6. Februar bis 6. Mai 2018), in der Kunsthalle Bern (8. Juni bis September 2018), der Kunsthalle Düsseldorf (Oktober 2018 bis Januar 2019) sowie im und im Castello di Rivoli in Torino (Februar bis Mai 2019) gezeigt.

 

 

Autoren und Herausgeber
BEATRICE VON BISMARCK (*1959), Kunsthistorikerin, Kuratorin und Professorin für Kunstgeschichte und Bildwissenschaft. 2003–2011 Prorektorin der Hochschule für Gestaltung und Buchkunst Leipzig.

DORIS CHON Kunsthistorikerin, Kuratorin und Forschungsspezialistin am Getty Research Institute in Los Angeles.
CAROLYN CHRISTOV-BAKARGIEV, Kunsthistorikerin und Kuratorin. Künstlerische Leiterin der documenta 13 in Kassel.

PHILIPP KAISER, Kurator. 2012–2014 Direktor des Museums Ludwig in Köln. 2017 Kurator des Schweizer Pavillons der 57. Biennale von Venedig. Er lebt in Los Angeles.

MEGAN R. LUKE, Kunsthistorikerin und Dozentin an der University of Southern California. 2015 arbeitete sie u.a. am Nationalfondsprojekt eikones / Bildkritik an der Universität Basel mit.

GLENN PHILLIPS, Kurator und Leiter der Modern and Contemporary Collections am Getty Research Institute in Los Angeles.

PIETRO RIGOLO, Kunsthistoriker, spezialisiert auf zeitgenössische Kunst und Ausstellungsgeschichte. Archivar am Getty Research Institute in Los Angeles.

MARIANA ROQUETTE TEIXEIRA, Kunsthistorikerin. In ihrer Dissertation beschäftigte sie sich mit Harald Szeemann.

 

 

HARALD SZEEMANN
Museum der Obsessionen
Herausgegeben von Glenn Phillips und Phillip Kaiser mit Doris Chon und Pietro Rigolo
Scheidegger & Spiess, 2018
416 Seiten, gebunden
211 farbige und 150 sw Abbildungen
24 x 30.5 cm
CHF 75. € 68.

ISBN 978-3-85881-592-7
In Zusammenarbeit mit dem Getty Research Institute, Los Angeles

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