«Charles Weissmann – ein abenteuerliches Leben für die Molekularbiologie»
Von Ingrid Isermann
Der weltbekannte Molekularbiologe Charles Weissmann, 1931 in Budapest geboren und in Zürich und Rio de Janeiro aufgewachsen, lässt sein vielseitiges Leben Revue passieren. Der leidenschaftliche Forscher, der sich dem Bereich der Prionenforschung widmete, erinnert sich in seiner Biografie an die Menschen, die ihn auf seinem Lebensweg begleitet, geprägt und inspiriert haben.
Das Buch liest sich spannend mit einer atemberaubenden Fülle von persönlichen und internationalen Ereignissen – eine familiäre Odyssee. Flucht vor zwei Weltkriegen, Antisemitismus, ein luxuiöses Landgut in Zürich-Witikon, verpasste Nobelpreise und einige sensationelle Entdeckungen in der medizinischen Grundlagenforschung. Aber nicht nur die berufliche Karriere von Charles Weissmann ist abenteuerlich, auch seine Amouren sorgen für Zündstoff.
Doch das Buch beginnt mit der Geschichte seines Vaters, Chiel Weissmann, der 1883 als erstes von zehn Kindern in eine Kolonialwarenhandlug hineingeboren wird. Er wächst in der Stadt Rzeszow in Österreich-Ungarn auf und heiratet 1909 seine erste Ehefrau Frieda. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, flüchtet das Paar nach Wien, wo der 31jährige Chiel ins Filmgeschäft einsteigt. Aus geschäftlichen Gründen erfolgt 1916 der Umzug nach Zürich, wo Chiel bald zum Direktor der Bayrischen Filmgesellschaft aufsteigt, die die Schweiz vertritt. Er besitzt in Zürich in dieser Funktion u.a. das Kino Radium an der Mühlegasse. In Zürich lernt Chiel seine spätere Frau Bertha kennen und kauft mit ihr in den dreissiger Jahren das Loorengut in Witikon. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, muss die Familie Weissmann abermals die Koffer packen, zusammen mit ihrem 9jährigen Sohn Charles lassen Chiel und Bertha 1940 ihr luxuriöses Anwesen in Witikon zurück. Über Genf gelangte die Familie nach Paris, wo die deutsche Wehrmacht täglich näher rückt. Chiel, Bertha und Charles fahren weiter nach Portugal, im letzten Moment gelingt ihnen die Flucht. Am 14 Juni marschieren deutsche Truppen in Paris ein. Als vermögende Gesuchsteller erhalten sie ein Visum für Brasilien und schiffen sich nach Rio de Janeiro ein. Chiel und Bertha quartieren sich mit Charles im Hotel Regina in Botafogo ein, an einem der Strände von Rio.Später ziehen sie in ein schöneres Quartier ins Hotel Copacabana Palace an der Avenida Atlantica, dem Meeresufer entlang. Brasilien war damals billig, das Zimmer kostete umgerechnet etwa 5 Franken. Danach mieteten die Eltern eine möblierte Wohnung, die während der Kriegsjahre ihr Domizil bleiben wird.
Rio, Montevideo, Buenos Aires
Im Juni 1941 erfährt Chiel in Montevideo aus der Zeitung, dass Deutschland Russland überfallen hat, von da war er überzeugt, dass sie in die Schweiz zurückkehren könnten, erzählt Charles in der Biografie. Doch an einen geregelten Schulalltag ist nicht zu denken, weil die Eltern oft nach Buenos Aires oder Montevideo reisen. Zurück in Rio muss Charles alles nachholen. Trotzdem hat er gute Noten. Der Zehnjährige spaziert oft allein durch die Strassen in Buenos Aires und verbringt viel Zeit in den Buchhandlungen, wo er eines Tages das Buch „Microbe Hunters“ des amerikanischen Mikrobiologen Paul de Kruif entdeckt. Damit ist sein Interesse an der Molekularbiologie geweckt. Auch über den französischen Chemiker und Mikrobiologen Louis Pasteur verschlingt er alles, was er dazu lesen kann.
Rückkehr in die Schweiz und weiter nach New York
In der Famiie gibt es Zuwachs, die plötzliche Anwesenheit eines Säuglings ist für den 14jährigen eine Veränderung, die nicht so einfach ist. Chiel und Bertha beschliessen, mit den Kindern zurück in die Schweiz zu ziehen. Nach dem Krieg besuchte Charles in Zürich das Gymnasium und studierte dann Medizin und Chemie. Eines Tages hörte er Severo Ochoa, den Leiter der Abteilung für Biochemie an der New York University School of Medicine, über die in der Schweiz noch unbekannte Molekularbiologie referieren. Der Vortrag veränderte sein Leben. Charles bewarb sich bei Ochoa als Postdoc und wurde später Associate Professor in New York. In dieser Zeit brachte seine Frau Sigi drei Kinder zur Welt, die ihren Vater nur selten sahen.
Wäre nicht Ernst Hadorn gewesen, Charles früherer Professor in Zürich, wäre die junge Familie wohl in den USA geblieben. Hadorn bot ihm an, die Molekularbiologie an der Universität Zürich zu etablieren. Somit führte der Weg wieder in die Schweiz. Auf dem neuen ETH-Campus Hönggerberg baute Charles das universitäre Institut für Molekularbiologie auf. Neben den Vorlesungen trieb er die Forschung voran.
London und Florida
Die Medaillen, die im Laufe seiner Karriere zusammengekommen sind, ruhen im Wandschrank seines Arbeitszimmer in Witikon. Insgesamt sind es 26 wissenschaftliche Preise und acht Ehrendoktorate. Nur den Nobelpreis hat Charles im Unterschied zu einigen Kollegen nie erhalten. Auch die Möglichkeiten und Grenzen der Gentechnologie haben Charles Weissmann nach wie vor interessiert. Er meint, die Neugier sei beim Menschen genetisch festgelegt. Jenen, denen sie fehlt, sind verschwunden, Völker ohne Ambitionen und Aggressivität.
Nach seiner Emeritierung 1999 wurde er als Visiting Professor ans Londoner Medical Research Council geholt. Vier Jahre später erhielt er ein Engagement in Florida, wo er mithalf, eine Filiale des Scripps Research Institute in La Jolla (San Diego) aufzubauen. Er übersiedelte zuerst nach London und 2004 zusammen mit seiner zweiten Frau Juliette nach Palm Beach. Kurz vor seinem 80. Geburtstag beschloss er, zurückzutreten. Doch er ist nach wie vor oft auf Reisen und hat kürzlich ein Buch für Freunde und Bekannte mit Episoden aus seinem Leben verfasst. Am 14. Oktober 2016 feierte Charles Weissmann seinen 85. Geburtstag. Vielseitig interessiert ist er immer noch, wobei die Neugier eine wesentliche Rolle spielt.
Charles Weissmann wurde 1931 in Budapest geboren und wuchs in Zürich und Rio de Janeiro auf. In den 1970er-Jahren war er als Professor für Molekularbiologie an der Universität Zürich massgeblich an der Etablierung dieser neuen Fachrichtung beteiligt. Als Mitbegründer der Biotechfirma Biogen erregte er Anfang der 1980er-Jahre mit der Klonierung von Interferon weltweit Aufsehen. Später spielte er bei der Erforschung des Rinderwahnsinns eine wichtige Rolle. Charles Weissmann lebt heute in Zürich und Florida, wo er bis 2012 am Scripps Research Institute tätig war.
Das Buch erzählt von Charles Weissmanns Stationen. Es ist die Biografie eines leidenschaftlichen Forschers, der seine wissenschaftlichen Entdeckungen im Bereich der Prionenforschung, der reversen Genetik sowie der künstlichen Herstellung von Interferon Revue passieren lässt. Er erinnert sich aber vor allem auch an die Menschen, die ihn begleiteten, an seine beruflichen und privaten Beziehungen, an das Leben mit seinen grossen und kleinen Dramen.
Mit einem Nachwort von Adriano Aguzzi und Fotografien von Helmut Wachter.
Daniela Kuhn, geboren 1969, lebt in Zürich. Als freischaffende Journalistin und Autorin schreibt sie für verschiedene Printmedien und arbeitet als Texterin für gemeinnützige Organisationen. In den letzten Jahren hat sie sich auf Lebensgeschichten und Auftragsbiografien spezialisiert.
Daniela Kuhn
Charles Weissmann –
Ein Leben für die Wissenschaft
Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2016
Geb. mit Schutzumschlag
148 Seiten, 20.0 cm x 15.0 cm
48 Illustrationen
CHF 38.
ISBN
978-3-03810-220-5
Literatur & Kunst-Sachbuchtipp
«Robert Bösch: Aus den Bündner Bergen»
«Ich wusste vor allem, was ich nicht wollte: Ich wollte mit meinen Bildern weder das Bündnerland repräsentativ wiedergeben noch die Schönheit der Bündner Berge aufzeigen. Ich war nur auf der Suche nach Bildern, die ich nicht kannte, nicht erwartete und die ich nicht bereits im Kopf hatte».
Robert Bösch: Ich suchte unbekannte Bilder in der mir bestens bekannten Bündner Landschaft. Ich lernte einen neuen Zugang zum Gebirge kennen – als Bergsteiger und als Fotograf. Ich begann zu begreifen, dass ich mich von Gewohnheiten und Vorstellungen lösen musste – Prognose, Wetter, Licht, Landschaft, Zeitplan: Ich musste einfach in dieser Landschaft unterwegs sein. Als Jäger, auf der Suche nach einem Tier, von dem ich nicht wusste, wie es aussah. Gefunden habe ich Bilder, welche die Kraft und die Vielfalt dieser Landschaft wiedergeben».
Ein grandioser Bildband, der Existentielles offenbart, sich als Mensch in der majestätischen Bergwelt selbst näher zu kommen. Aufnahmen zeitloser Schönheit, ob vom bekannten Piz Palü oder Piz Bernina, karstigen und schrundigen Gipfeln, dem Martinsloch oder vom Silsersee – eine Landschaft, die in den Bann zieht. Bilder, die man immer wieder betrachten möchte und die über den Alltag hinausweisen. Empfehlenswert!
Robert Bösch, Fotograf, Geograf, Bergführer, ist seit über 30 Jahren als freischaffender Berufsfotograf tätig. Er veröffentlichte zahlreiche Bildbände und ist Ambassadorf der Firma Nikon. 2009 erhielt Robert Bösch den Eiger Special Award für sein langjähriges Schaffen im Bereich der Alpinfotografie.
Fotografien
Robert Bösch (Fotograf)
Aus den Bündner Bergen
Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2016
Leinen mit Schutzumschlag
Mit einer Einleitung von Nadine Olonetzky
208 S., 27.0 cm x 38.0 cm
100 Illustrationen
Abbildungen
CHF 138.
ISBN
978-3-03810-181-9