FRONTPAGE

«Clemens J. Setz: Die Unwägbarkeiten des Lebens»

Von Ingrid Isermann

 

Der erste Gedichtband von Clemens J. Setz, *1982 in Graz, handelt von schicksalhaften, unheimlichen Koinzidenzen des Lebens, die Leute zu Fall bringen. Wer hat gesagt, dass Lyrik harmlos ist?

Virtuelle Unwägbarkeiten haben schon früher Leute umgetrieben, lange vor dem Zeitalter der digital natives. Aus den Geschichten und Sprachmythen vergangener Zeiten schöpft auch Clemens J. Setz, wenn er beispielsweise im Text an «Charles Darwin an Leonard Jenyns, am 17.10. 1846» erinnert oder der «Lyrik, nach dem Brockhaus Conversations-Lexikon, 1809» nachsinnt. Auch im Gedicht «Die Interpretation von Blitzen» werden die Imponderabilien des Lebens zur Sprache gebracht.

 

 

Die Interpretation von Blitzen

 

Der US-Park Ranger Roy C. Sullivan

aus Virginia

wurde siebenmal vom Blitz getroffen

 

Er verlor einige Zehen

und war vorübergehend gelähmt

und sein Kopf stand zweimal in Flammen

 

Der letzte Blitz traf ihn 1977

beim Fischen

Er überlebte nur knapp

 

1983 beging er Selbstmord

über den Verlust einer Frau

in einer dunklen Nacht

 

 

 

Ein Satz aus der grossen französischen

Encyclopédie von 1756 

 

Die menschliche Population

auf dem Planeten

ist in ihrer Grösse

konstant

und wird konstant bleiben

bis zum Ende der Menschheit

wenn niemand mehr da ist

auf dieser Erde

 

 

Im folgenden Text bezieht sich Clemens Setz auf Blaise Pascal:

 

 

Auf einen Migräneanfall mit Flimmerskotom

 

 

Blaise Pascal sah an manchen Tagen

einen Abgrund neben sich.

Wenn er seinen Kopf bewegte,

bewegte sich der Abgrund mit.

Wenn er versuchte, hineinzuspringen,

fiel er auf den Boden.

 

Dann rappelte er sich mühsam auf

und schrieb unter dröhnendem Kopfschmerz

über die Angst und über das Schweigen

dieser unendlichen Räume.

 

 

Wieviel Alltagswirklichkeit ist in diesem Erstlingswerk enthalten? Den jungen Männern um die 30 hat man ja verschiedentlich schon vorgeworfen, sie jammerten zuviel, wollten keine Verantwortung mehr übernehmen, mit der Beziehung klappt es auch nicht so recht und die Frauen seien ein schwieriges Terrain. Was bewegt einen jungen Lyriker heutzutage im digitalen Zeitalter? Ist noch von der Liebe die Rede und vom Beziehungsknatsch?

Wir lassen die authentische Stimme des Autor selbst zu Wort kommen.

 

 

Warum ich kein grosser Liebhaber bin

 

Die Umstände.
Der Zeitgeist.

 

Die innere Unsicherheit.
Der fehlende Glaube
an etwas danach.

 

Die Literatur
Die falsche Musik
zum falschen Zeitpunkt.
Der knarrende Kronleuchter
im Nebenzimmer.

 

Das Geschrei von Betrunkenen
unten auf der Strasse.
Die Eisblumen am Fenster.
Das Gedicht von Rossetti.
Von John Donne.

 

Die Vorstellung von riesigen Kraken.
Von Nabelschnüren.
Von Brei.

 

Das Quietschen der Bettfedern.
Der bittere Geruch
nach heute Morgen verzehrten Orangen.
Die Tonnen von Seife, angesammelt im Lauf
eines ganzen Lebens.
Der dreibeinige Hund, gesehen
in einem Park vor fünfzehn Jahren.

 

Der Stromausfall im Jahr 98.
Die Atmosphäre in der Wohnung
im Winter gegen vier Uhr am Nachmittag.

 

Das kalte, insektengesprenkelte Licht
der Leuchtstoffröhren über uns.
Die Spielzeuge unter dem Bett in der Kiste.
Die Muskelschmerzen im Nacken.
Das Meer.

 

 

Die Vogelstrausstrompete

 

In einem Traum sah ich
eine Herde Straussenvögel,
die durch niederes Gras davonrannten,
wie Cancantänzerinnen auf der Flucht.

 

Einer der Vögel blieb stehen.
Sein Kopf war ein Trompetentrichter.
Als ich näher kam, steckte er ihn
pfeilschnell in den Sand.

 

Ich hielt mein Ohr zur Erde,
aber statt des erwarteten Tons
hörte ich nur seine dröhnenden
ängstlichen Atemzüge im Dunkel.

 

 

Clemens J. Setz
Die Vogelstrausstrompete
Gedichte
Suhrkamp Verlag Berlin, 2014
86 S., geb., CHF 23.50. € 16.00
ISBN 978-3-518-42416-2

 

 

Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren. Er studierte Mathematik und Germanistik und lebt als Übersetzer und freier Schriftsteller in Graz. Für sein erzählerisches Werk erhielt er zahlreiche Preise; zuletzt stand sein Roma Indigo (2012) auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 ausgezeichnet.

Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes. Erzählungen, 2011. Indigo. Roman, 2012.

 

 

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