«Daniel Kehlmann: Lichtspiel – Von Hollywood ins Dritte Reich»
Von Ingrid Schindler.
Daniel Kehlmanns neuer Roman «Lichtspiel» ist grossartiges literarisches Kino. Er widmet sich dem ungewöhnlichen Lebensweg des weitgehend vergessenen Meisterregisseurs G.W. Pabst.
Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, in Wien aufgewachsen, in Berlin wohnhaft, hat nach Humboldt («Die Vermessung der Welt») und Eulenspiegel («Tyll») erneut zu einer historischen Figur gegriffen, die er ins Zentrum seines neuen Romans stellt. Der Held in «Lichtspiel» ist ein Held des Kinos. Mit der Lebensgeschichte des österreichischen Filmemachers und Regisseurs Georg Wilhelm Pabst (1885-1967) macht Kehlmann zugleich die Entwicklung des Films zum Thema des Buchs, von der Jahrmarkttradition über den expressionistischen Stummfilm der Weimarer Republik zum Spielfilm der Nazi- und Nachkriegszeit. Hollywood findet auch statt und bekommt aus Sicht des Protagonisten sein Fett weg.
«Lichtspiel» ist ein genialer Wurf. Kehlmann hat eine fulminante wie brillante Romanbiografie über Georg Wilhelm Pabst zu Papier gebracht, der als «Roter Pabst» vor dem zweiten Weltkrieg im links-avantgardistischen, pazifistisch-sozialkritischen Milieu verankert war. Darüber hinaus liefert Kehlmanns jüngstes Werk ein Kaleidoskop deutschen Kulturschaffens während des Dritten Reichs. Grosse Namen, wie Erich Kästner, Carl Zuckmayer, Bert Brecht, Greta Garbo, Heinz Rühmann, Fritz Lang, Leni Riefenstahl und viele andere, geben sich im Buch förmlich die Klinke in die Hand.
Film ab!
Die Dramaturgie des Buchs ist filmisch aufgebaut, sodass die Lektüre im Kopf wie ein packender Film abläuft. Der deutsch-österreichische Autor ist mit dem Medium Film von Geburt an vertraut, wovon der Roman klar profitiert. Er zeugt von profunder Kenntnis der Materie. Kehlmann hat diese quasi mit der Muttermilch aufgesogen, die Mutter war deutsche Schauspielerin, der Vater österreichischer Regisseur, der Grossvater Schriftsteller in Wien.
«Lichtspiel» lebt nicht nur inhaltlich vom Medium Film, sondern ist auch formal vom Filmischen geprägt. Die Figur G.W. Pabst wird aus der Innen- und Aussenperspektive in chronologischer Abfolge beleuchtet, die Handlung und Charaktere ergeben sich in einer stringent verknüpften Szenenabfolge. Wie im Film werden räumliche Dimensionen verzerrt, Blickwinkel immer wieder geändert und die Kunst des Schnitts angewandt. Und dem Leser vermittelt der Schriftsteller tiefe Einblicke in Berufe bei Film und Theater, vom Regisseur bis zum Kameramann, Cutter und Beleuchter. Auf der anderen Seite lesen sich manche Sätze wie Regieanweisungen. Die Verfilmung des Romans liegt auf der Hand.
Realität und Fiktion verschmelzen
Die Romanbiografie G.W. Pabsts beruht auf real existierenden Personen, Orten, Ereignissen und Daten, in die der Autor fiktive Elemente einflicht. So erfindet er zum Beispiel Pabsts Sohn Jakob, den Nazi-Abgesandten Krämer und den Regieassistenten Wilzek, die nicht in dessen Vita vorkommen, aber eben der Geschichte entscheidende Impulse geben. Franz Wilzek fällt die Aufgabe zu, in der Rahmenhandlung die Hauptfigur einzuführen. Deren Bedeutung für die Filmkunst fasst er folgendermassen zusammen: «Er (Pabst) hatte eine eigene Theorie vom Filmschnitt. Dass ein Schnitt immer durch eine Bewegung begründet sein muss, sodass ein nie abreissender Fluss von der ersten Einstellung bis zur letzten entsteht.» Dies ist insofern wichtig, als der Name Pabst heute den wenigsten etwas sagt, obgleich er mit Lang, Murnau und Lubitsch zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der frühen Filmkunst zählt.
Den Menschen Pabst charakterisiert Wilzek als einen, der vom Filmen besessen war: «Wenn die Scheinwerfer ausgingen, war er oft wie ausgeleert. Wie ein Kostüm, das keiner trägt.» Über sich selbst sagt er, «Das Einzige, was wichtig an mir ist: dass ich sein Assistent war.» Am Schluss löst sich auf, welch fatale Bedeutung der Figur Wilzek im Roman zukommt. Doch was wahr war und was nicht, lässt sich kaum mehr entflechten.
Viele Faktoren führen zur Rückkehr ins Reich
Die Romanbiografie teilt sich in drei grosse Teile, die dem echten Leben des G.W. Pabst entsprechen: dessen Zeit in Hollywood, sein Leben im Dritten Reich und die Zeit danach. Nach dem Eingangskapitel setzt die Handlung in Hollywood ein, wohin der Stummfilmregisseur wie viele seiner Kollegen aus dem Dritten Reich ausgewandert ist. Im alten Europa ein Star, der die Garbo und Brooks entdeckt hat, ist er in Hollywood einer unter vielen. Seine schlechten Englischkenntnisse und die Ablehnung von oberflächlichem Small Talk und Networking einerseits, schlechte Drehbücher und Fehlbesetzungen andererseits, lassen Pabst in Hollywood scheitern. Dies, die starke Bindung an die in Österreich respektive der Ostmark verbliebene, kranke Mutter sowie Filmangebote in Frankreich locken ihn nach Europa zurück.
Dass sein Name heute weitgehend vergessen ist, ist wohl diesem ungewöhnlichen, umgekehrten Weg geschuldet. Als er seine Mutter in Tillmitsch in der Steiermark besucht, bricht der Krieg aus. Die Grenzen gehen zu, Pabst sitzt in der Falle. Allein die Schweiz erscheint ihm als mögliche Option, was Kehlmann allerdings als wenig reizvoll darstellen lässt. In einer Pariser Bar lässt er deutsche Auswanderer, darunter Mehring, Grosz und Zuckmayer, feststellen, dass man in der Schweiz keine Juden möge und deutsche Flüchtlinge nicht veröffentlichen dürften. «Der Grund ist, dass sie besser schreiben als die Schweizer. Die Regierung hält das für eine Tatsache». Nur für Thomas Mann habe man eine Ausnahme gemacht.
Mitläufer oder nicht?
Familie Pabst – Gemahlin Trude und Sohn Jakob sind mit ihm im Roman zurückgekehrt – sitzen also auf Schloss Dreiturm im Dorf Tillmitsch, das über keine Türme verfügt, aber in Wirklichkeit Fünfturm heisst und tatsächlich in Pabsts Besitz war, in der Falle. Zunächst befinden sie sich in der Hand des zum NSDAP-Ortsleiter aufgestiegenen Hausmeisters Jerzabek, dann in der des «Vaters der Lüge», Reichspropaganda- und Kulturminister Joseph Goebbels.
Das Kapitel, in dem Pabst Goebbels in Berlin gegenübertritt, gehört zu den grossen «Filmszenen» des Buchs. Goebbels stellt den Regisseur vor die entscheidende Wahl: «Bedenken Sie, was ich Ihnen bieten kann: (…) zum Beispiel KZ. Jederzeit. Kein Problem. Aber das meine ich ja gar nicht. Ich meine, bedenken Sie, was ich Ihnen auch bieten kann, nämlich: alles, was Sie wollen. Jedes Budget, jeden Schauspieler. Jeden Film, den Sie machen wollen, können Sie machen. Aber das wissen Sie. Deshalb haben Sie mich ja aufgesucht. Deshalb gehen Sie nach Canossa.»
Pabst geht in der Tat nach langem Zögern den Gang nach Canossa. Ob er deshalb zu Wachs in Goebbels Hand und ein, wie mancher behauptet, Mitläufer wird, ist die zentrale Frage des Buchs. Kehlmann bezieht Stellung und lässt den Leser mit G.W. und Trude Pabst mitfühlen. Schier unerträglich sind beispielsweise die Literaturzirkel, die Trude aus nachvollziehbaren Gründen der Überlebens-Raison besucht. In diesem Kreis liest man ausschliesslich Ergüsse des NS-Schreibers Alfred Karrasch, dessen Roman «Die Sternengeige» ihr Mann verfilmen muss.
Kurz und gut, Kehlmann gibt eine eindeutige Antwort: Der innere Widerstand des «roten Pabsts», wie auch seiner Frau Trude, ist gross. Unüberwindbar. Das führt zwangsläufig zur inneren Emigration. Anders Sohn Jakob. Der besässe zwar das Rüstzeug, die Bildung und Kultiviertheit, sich gegen die Nazis zu verwahren, und hat gelernt, sich wirkungsvoll gegen Schikanen durchzusetzen, doch ist es trotzdem nicht weit her mit seinem Grad an Zivilisation. Als er mit der Hitlerjugend im Internat in Kontakt kommt, verfällt er dem Reiz des Barbarischen.
Der rote Pabst und die gottbegnadete Riefenstahl
Die Kritiker des Buchs sind sich in Bezug auf Pabsts Haltung nicht einig, gelesen haben das Werk offenbar alle gern. Manch einem psychologisiert Kehlmann zu wenig, anderen bleibt zu wenig Restgeheimnis um Pabst. Dies wirkt weit hergeholt, denn Pabst erscheint im Buch als introvertierter, sensibler Mensch, der wenig spricht, ausser am Set. Einer, der nicht mit den Nazis kooperieren will, sich lange weigert, schliesslich einsieht, dass er kooperieren muss, und das Beste, das heisst das Wenigste für die Nazis daraus macht.
Jakob, Jerzabek und Riefenstahl verkörpern Gegenentwürfe zu G.W. und Trude Pabst. Sie folgen dem Führer. Inwieweit die Riefenstahl-Szenen historisch belegt sind, sei dahingestellt, sie bilden auf jeden Fall weitere Höhepunkte des Romans. Pabst teilte ihre Einschätzung als «Gottbegnadete» nicht, im Gegenteil. Kehlmann lässt ihn sagen, sie «bemühte sich, eine Schauspielerin zu sein. Ein wenig hatte er ihr immerhin beibringen können. … Aber ihre Möglichkeiten waren beschränkt gewesen, sie war klug und lernbegierig, aber was sie auch tat, ihr Mangel an Begabung war ein schweres Hemmnis». Beide ziehen KZ-Insassen als Komparsen für von oben verordnete Durchhalte-Propaganda-Filme heran, das Gleiche ist es aber nicht.
Der Roman ist Anne und Thomas Buergenthal gewidmet, der Auschwitz überlebte, in die USA emigrierte und Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag war. Als einer der ersten Juristen lehrte er Internationale Menschenrechte. Er starb am 29. Mai 2023. Die New Yorker Menschenrechtsanwältin Anne Rübesame Buergenthal war seine ehemalige Rechtsreferentin.
Daniel Kehlmann
Lichtspiel
Roman
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023
Geb., 480 S., CHF 34.90.