FRONTPAGE

«BTHVN: Das ganz grosse «Tatata-Taaaaa!»

Von Ingrid Schindler

 

«Ene echt Bönnsche Jung»: Die ehemalige, deutsche Hauptstadt Bonn nimmt den 250. Geburtstag ihres berühmtesten Sohns zum Anlass, 2020 Beethoven fulminant neu zu entdecken und sich als Reiseziel nach vorn zu spielen. Was Lonely Planet schon mal bestätigt hat.

«BTHVN! Die von der Jubiläumsgesellschaft können ja noch nicht mal Beethovens Namen richtig aussprechen», ereifern sich zwei feiste Bönnsche Damen gesetzten Alters, die durch die engen Stuhlreihen im Haus der Springmaus rauschen und sich über die Auswüchse des Beethoven-Jubeljahres lustig machen. Die eine hat Tickets beim Preisrätsel gewonnen, Lösungswort Fidelio, die andere trägt ein Parfum mit ländlicher Note namens Pastorale.
Hinter den Damen stecken zwei Grössen des Rheinkabaretts: Springmaus-Chef Andreas Etienne und Konzert- und Opernsolist Christoph Scheeben, Folkwang-Dozent und seit 2006 Mitglied des Ensembles. «Jetzt, wo die halbe Welt kopfsteht zum Beethovenjubiläum, wird es auch für uns im Kabarett Zeit, den Meister persönlich kennenzulernen und uns mit ihm zu beschäftigen, um dabei erstaunliche Erkenntnisse zu gewinnen», begründet die Bonner Improvisationsbühne im Haus der Springmaus ihr neuestes Musikkabarett. Wie der Titel «Ludwig! Jetzt mal unter uns» andeutet, rückt sie dem Meister in Bönnschem Platt auf den Pelz und dessen Biografie zurecht, schliesslich war Beethoven „irjenswie uch ene echt Bönnsche Jung“. Dabei fördern sie Wissenswertes auf höchst unterhaltsame Weise zutage: Edutainment vom Feinsten und angesichts von Hunderten von Beethoven-Projekten in diesem Jahr die reinste Wohltat. Der Bonner Beethovenhype, die Flut an Gagets, Statuen, Events und die Blamage der Beethovenhalle, die nicht rechtzeitig zum Jubiläum saniert werden konnte, bieten den Kabarettisten Stoff en masse, um das Mega-Ereignis «BTHVN2020» auf fröhlich-rheinische Art zu ventilieren. Und damit jeder, wirklich jeder, etwas davon hat, Banause wie Kenner, sorgen Lisa Schumann an der Violine, Darko Kostovski am Flügel und Bariton Scheeben für musikalische Delikatessen zwischendurch.

 

 

«BTHVN2020»
Ludwig van Beethoven erblickt 1770 in der Bonngasse 20 das Licht der Welt. Das Geburtshaus alias Beethoven-Haus ist heute eines der meistbesuchten Komponistenmuseen der Welt, Sitz der Beethoven-Stiftung mit musikwissenschaftlicher Bibliothek, Forschungsabteilung, Verlag und Kammermusiksaal. Den Vorsitz führt die Viola-Virtuosin Tabea Zimmermann, ab Frühjahr 2020 der Geiger Daniel Hope. Das Beethoven-Haus befindet sich gewissermassen im Auge des Taifuns, der das ganze Jahr furios übers Land fegt. Unter seinem Dach haben die Stadt, der Rhein-Sieg-Kreis, das Land NRW und der Bund die Beethoven Jubiläums GmbH gegründet, die «BTHVN2020» konzipiert, koordiniert und vermarktet. In weit über 300 Veranstaltungen und Konzerten will sie den Musiker und Menschen in verschiedensten Facetten zeigen, allen zugänglich und neu erfahrbar machen. Ursprünglich hätte die Stadt das Haus abgerissen, wenn es nicht damals 12 hochgestellte Bürger gekauft hätten, um ein Museum daraus zu machen, berichtet Stadtführerin Ulrike Becks-Malorny, «das war die erste Bürgerinitiative in Bonn».
Flaniert man durch die ehemalige Bundeshauptstadt, begegnet man ihrem berühmten Bürger auf Schritt und Tritt. Zuerst auf dem Münsterplatz das grosse Denkmal, das auf Initiative Robert Schumanns und Franz Liszts 1845 aufgestellt wurde: es bildet den Startpunkt einer jeden Beethoven-Tour. Nebenbei: Die Wiener haben noch länger gebraucht, um «ihrem» Beethoven ein Denkmal zu setzen, erst 1880 stellten sie den meistgespielten Musiker aller Zeiten auf den Sockel. Wer ohne Guide in Beethovens Bonn eintauchen will, kann sich per Handy-App mittels 22 Info-Stelen durch Stadt und Umgebung leiten lassen, analog den knapp 22 Jahren, die Beethoven am Rhein verbrachte. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Menschen, Komponisten, dessen Umfeld und Rezeption bietet die Bundeskunsthalle in Bonn, die gemeinsam mit dem Beethoven-Haus die zentrale Ausstellung zum Jubliäum, «Beethoven.Welt.Bürger.Musik», ausgearbeitet hat.
 

Bonn 1770-1792

Beethoven wird am 17. Dezember 1770 in der Sankt-Remigius-Kirche getauft, sein Geburtsdatum ist nicht exakt verbrieft. Die Familie ist hochmusikalisch, der Grossvater kurkölnisch-erzbischöflicher Hofkapellmeister, der Vater Tenor und Geiger am Hofe des fortschrittlichen Kurfürsten Maximilian Friedrich von Köln. Bonn gilt damals mit Mannheim als führende Musikstadt Deutschlands, mit einem der besten Hoforchester seiner Zeit. Maximilian Friedrichs Nachfolger Maximilian Franz von Habsburg wird der letzte Bonner Kurfürst, Erzbischof-Kurfürst von Köln und Fürstbischof von Münster sein. Der reformfreudige, bescheiden auftretende Kurfürst ist von den Ideen der Aufklärung beseelt, er fördert in hohem Mass die Bildung des Volkes, die von seinem Vorgänger gegründete Universität sowie die Musik. Seine 3500 Werke umfassende Musikbibliothek übertrifft sogar die Musiksammlung der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar. Nur die neuesten und anspruchsvollsten Werke aus Wien, London, Paris und Mannheim sind für das hochstehende kurkölnische Hoforchester gut genug.
Der junge Beethoven wächst in dieser, den Idealen der Französischen Revolution zugewandten, letzten Phase des Ancien Régime auf. Mit vier Jahren beginnt er Klavier zu lernen, es folgen Geige, Bratsche und Orgel. Mit acht Jahren, der Vater gibt ihn für sechs aus, tritt das Wunderkind zum ersten Mal in der Akademie auf. Ab 1780 erteilt Hofkapellmeister, Organist und Freimaurer Christian Gottlob Neefe dem Zehnjährigen Kompositionsunterricht. Er beschreibt ihn als «zweiten Mozart» und veröffentlicht erste Kompositionen des Schülers. Mit 12 Jahren wird er Neefes Stellvertreter. Kurfürst Maximilian Franz, der entscheidende Förderer des jungen Talents, bietet dem 13-jährigen seine erste und einzige Festanstellung als Hoforganist und schickt ihn Ende 1786 zum Unterricht nach Wien. Spätestens 1792 begegnet Beethoven Haydn bei dessen zweitem Bonnbesuch, die beiden vereinbaren seine Ausbildung in Wien.
 

Wien 1792-1827

Mit 22 Jahren bricht Beethoven also ein zweites Mal nach Wien auf, wieder mit finanzieller Unterstützung des Kurfürsten, und bleibt 35 Jahre bis zu seinem Tod. 1794 besetzen französische Truppen das Rheinland, der Kurfürst flieht, das Hoforchester wird aufgelöst. Eine Rückkehr Beethovens nach Bonn macht keinen Sinn. In Wien entwickelt er sich bald zum eigenwilligen Salonlöwen der Wiener Adelssalons und Akademien und Superstar der Wiener Klassik. Er verkörpert wie kein anderer den neuen Typus des freischaffenden Künstlers, wird von Adligen unterstützt, ohne seine Freiheit aufzugeben. Er hängt diese hoch, über alles, und stellt sich als schöpferisches, bürgerliches Individuum nicht nur auf die gleiche Stufe, sondern darüber. «Fürst! Was Sie sind, sind Sie durch Zufall … Fürsten hat es und wird es noch Tausende geben. Beethoven gibt es nur einen», schreibt er an seinen Wiener Mäzen Fürst Lichnowsky, als er sich in seiner Freiheit eingeschränkt und zum Vorspielen gedrängt sieht.
Wien, damals wie heute Weltmittelpunkt der klassischen Musik, versteht es, den Komponisten aus Bonn zu halten, obwohl der alles andere als umgänglich ist. Bis zu 80 Mal, wird erzählt, wechselt der nachlässige Choleriker die Wohnung, es sehe bei ihm aus wie Schiffbruch, sagt er selbst, wie bei einem Messie, würden wir heute sagen. Auch seine Musik ist aufbrausend, verstörend, im positivsten Sinn überraschend, ungewohnt, grenzensprengend, trotzdem lieben und unterstützen die Wiener den mit zunehmender Ertaubung immer schwerer zugänglichen Komponisten. 20’000 Menschen folgen seinem Leichenzug, als er 1827 nach qualvoller Krankheit verstirbt. Mehr zu Beethoven in Wien unter www.literaturundkunst.net/zum-250-wien-feiert-ein-jahr-lang-beethoven/

 

Von der Hofkapelle zum Beethoven Orchester

Seine Heimat hat ihn geprägt, heute prägt er sie. 1845 richtet Bonn zum ersten Mal ein Beethovenfest aus und baut dafür eine Halle. 1959 wird die dritte Beethovenhalle eingeweiht, deren Sanierung noch mindestens bis 2022 dauern soll. Der Klangkörper des Konzerthauses, das Beethovenorchester, ist quasi der Nachfahre der Bonner Hofkapelle. Seit 2017 steht es unter der Leitung von Generalmusikdirektor Dirk Kaftan, der massgeblich die Jubiläumsspiele mitgestaltet. Eines der vielen Projekte, die das Orchester im Jubiläumsjahr in Angriff nimmt, nennt sich «Hofkapellen-Projekt, bei dem wir Repertoire und Spielweise des Orchesters aufleben lassen, in dem Beethoven seine Laufbahn als Bratscher begonnen hat», so Kaftan. Da das Stammhaus ausfällt, wird die ganze Stadt und Region an unterschiedlichsten Spielstätten bespielt und bieten sich zahlreiche Gelegenheiten, Beethovens Musik an Originalschauplätzen zu erleben, wie im kurfürstlichen Bonner Ballsaal oder der kurfürstlichen Redoute in Bad Godesberg. Als Klavierlehrer des Adels und Hoforganist trat der junge Musiker häufig in den umliegenden Schlössern und Abteien auf. Mit seinem Vater unternahm er ausserdem ausgedehnte Spaziergänge und Wanderreisen im Rhein-Sieg-Kreis, weshalb man für das Jubiläum einen 15 km langen Beethoven-Wanderweg geschaffen hat. Zeitlebens fand Beethoven in der Natur Inspiration, Ruhe und Frieden. Er liebte die Landschaften am Rhein und blieb seiner Heimat auch von fern verbunden. «Mein Vaterland, die schöne Gegend, in der ich das Licht der Welt erblickte, ist mir noch immer so schön und deutlich vor meinen Augen, als da ich Euch verliess. Kurz ich werde diese Zeit als eine der glücklichsten Begebenheiten meines Lebens betrachten, wo ich Euch wiedersehen und den Vater Rhein begrüssen kann», schrieb er in einem Brief an seinen Bonner Jugendfreund Franz Gerhard Wegeler 1801.
 

«Roll over Beethoven»

Von Bonn nach Wien, Europa und in die ganze Welt. Kein anderer Komponist wird häufiger bei Festakten, Staatsgründungen, Eröffnung von Olympiaden u.a. gespielt, keiner so sehr von Herrschern, Staaten, Unternehmen oder Institutionen vereinnahmt. Mit den Schöpfungen des Bonner Weltbürgers macht man Staat. Fidelio, die Dritte, Fünfte und erst die Neunte Sinfonie: staatstragende Töne, die das Gute, Hehre, Schöne zum Ausdruck bringen und die ganze Menschheit in Frieden und Freude umfassen. 1972 erklärte die EU Beethovens «Ode an die Freude» aus der 9. Sinfonie zur Europahymne. Es war auch die Neunte, die die maximale Laufzeit von CDs auf exakt 74 Minuten und 33 Sekunden festschrieb. So lange dauert die Furtwängler-Interpretation.
Der 250. Geburtstag des Genies wird nicht nur in seiner Heimat und Wahlheimat gefeiert, sondern vielerorts in der Welt. Die ARD verfilmt seine Vita mit Tobias Moretti in der Hauptrolle. Opernhäuser von Hamburg bis Zürich setzen den Fidelio aufs Programm. Die mit Augenzeugenberichten von syrischen Asylanten verbundene, politische Inszenierung von Volker Lösch in der Bonner Oper, dirigiert von Dirk Kaftan, sowie Christoph Waltz’ Fidelio-Adaptation im Theater an der Wien dürften einige der spannendsten sein. Ein Highlight besonderer Art stellt im BTHVN-Jahr die Gastspielreise des Beethoven Orchesters von Bonn nach Wien dar: Die Musiker reisen von 12. März bis 20. April wie einst Beethoven auf einem Rheinkahn rhein- und donauaufwärts. Für Konzerte, Vorträge, interdisziplinäre Veranstaltungen oder Workshops legen sie in 12 Städten an, u.a. in Koblenz, Mannheim, Würzburg, Regensburg, Linz, Krems. Den Höhe- und Schlusspunkt der Reise bildet ein Beethovenkonzert am 19. April im Goldenen Saal des Musikvereins in Wien, mit Jan Lisiecki am Klavier.

 

 

Must see 2020

Im Vergleich zu Wien, der Welthauptstadt der klassischen Musik, erscheint das überschaubare Bonn als tiefe Provinz. 330’000 Einwohner, beschaulich, als ehemals provisorische Hauptstadt der BRD auf der Suche nach einer neuen Identität, im Schatten der neuen Hauptstadt leicht übersehbar. Dabei ist Bonn nicht nur wegen der Lage am Rhein, der hübschen, lebendigen Altstadt, der schmucken Gründerzeitvillen in der Südstadt, seiner Parks, Palais, Residenzen und des ehemaligen Regierungsviertels anziehend. Nach dem Auszug des Bundestags verlegten einige der grössten deutschen Dax-Unternehmen, die Deutsche Telekom und DHL (Post), die Deutsche Welle und die UNO ihren deutschen Sitz nach Bonn, das Regierungsviertel wurde zum internationalen Kongresszentrum, sechs Bundesministerien verblieben nebst zahlreichen Bundesbehörden ohnehin am Rhein.
Auch die Universität stelle, so Cityguide Becks-Malorny, einen bedeutenden Attraktivitätsfaktor dar.

Bonn darf sich Elite-Universität (Exzellenzuniversität) nennen und besetzt unter den deutschen Hochschulen den ersten Platz in punkto Spitzenforschung und internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Dass die Stadt am Rhein mit 35 Museen über eine ungewöhnlich hohe Museumsdichte verfügt, hänge mit der grossen Zahl akademischer Lehrsammlungen zusammen. Das hohe Mass an Internationalität, der überdurchschnittliche Bildungsgrad der Bürger – über ein Drittel der Arbeitnehmer besässen ein Hochschuldiplom –, ihre Offenheit, Weltgewandtheit, innovative Kraft, Verwurzelung in der Aufklärung und ihr Nimbus als Musikstadt, all das passe zum Geist Beethovens. In der Tat ist die Einwohnerzahl steigend und hat Bonn den Strukturwandel von der Hauptstadt zum Nebenschauplatz und den Wegzug des Bundestags gut gemeistert. Ihr weltbekannter Botschafter soll nun 2020 dabei helfen, ihre Vorzüge der Welt sichtbar zu machen, mehr Besucher anzulocken und das Profil zu schärfen.

Der 250. Geburtstag des «Bönnsche Jung» ist ausschlaggebend, dass Lonely Planet in seinem Guide «Best in Travel 2020» die Beethovenstadt unter den fünf sehenswertesten Städten der Welt auflistet. Die Begründung: «Die einstige Bundeshauptstadt verschwand vom Radar, als Berlin 1990 zur Kapitale des wiedervereinigten Deutschlands wurde. Aber 2020, zu Beethovens 250. Geburtstag, kehrt Bonn ins Rampenlicht zurück.» Die liebenswerte, geschichtsträchtige Stadt stünde zu Unrecht im Schatten anderer. In diesem Jahr spielt sie ihre Trümpfe mit «BTHVN2020» voll aus. Mit dem Kürzel bthvn hat der Komponist übrigens selber seine Partituren signiert.

 

 

Infos
Buch- und Ausstellungshinweis: «Beethoven – Welt.Bürger.Musik», Bundeskunsthalle in Kooperation mit dem Beethoven-Haus Bonn, 17.12.2019 – 26.4.2020
www.bthvn2020.de
www.beethoven.de
www.bonn.de/bonn-erleben/beethoven/bthvn2020.php
www.springmaus-theater.de
www.musikfrachter.de
www.wien.info/de/musik-buehne/musikstadt-wien/beethoven
www.musik2020.wien.info

NACH OBEN

Reportage


Buchtipp


Kolumnen/
Diverses