Bilder © Ingrid Schindler
«Das Land, wo Kohl und Pinkel spriessen»
Von Ingrid Schindler
Gartenlust und Kohlkultur: Eine Landpartie von Münster nach Norden, pünktlich zum Auftakt der Grünkohlsaison. Das ist kein Land für Grappa, das ist ein Land für Korn. Was im Nordwesten Deutschlands zählt: Bodenständigkeit und Tradition. Blaublütige Landwirte und Gutsherren geben noch heute den Ton an, die Kirchturmglocken und der Wind schlagen den Takt.
Alle paar Kilometer drehen sich Windräder, als Nachfahren der Mühlen. Wo diese einst die weiten Sumpf- und Moorlandschaften urbar machten, durchzieht ein Netz von Fehn, Kanälen, wie im benachbarten Holland das platte Land. Die Küche ist deftig, man isst und trinkt, was die Erde liefert. Grünkohl mit Pinkel heisst der gemeinsame Nenner, der die Menschen von Münster bis Norden an der Nordsee glücklich macht. Der fette „Kohlgang“ ist der kulinarische Höhepunkt des Jahres. Zwangsläufig endet er mit einem verdauungsfördernden Korn. Saisonstart ist Mitte November, wenn der erste Frost den Grünkohl milde macht. Obwohl die Bauern längst Sorten kultivieren, die sie früher ernten.
Schrot für Brot und Korn
«Das Münsterland ist eine Kornkammer», sagt Rüdiger Sasse, Kaufmann und Schnapsbrenner im westfälischen Schöppingen, nahe der holländischen Grenze. Eine fruchtbare, reiche Parklandschaft, in der man traditionell Weizen, Roggen und Hafer anbaut. Heute für Futter in den Mastbetrieben, früher für Brot und Korn. «Die Region entwickelte sich zu einer Hochburg für Hochprozentiges, Mitte des 19. Jahrhunderts gab es allein in Westfalen rund 1’200 Kornbrenner», so Sasse. Die Liebe zum Korn und die Zahl der Distillateure (in ganz Deutschland heute nur noch circa 700) sind mittlerweile stark geschrumpft. Die feudalen Strukturen und die Parklandschaft mit ihren Laubwälder und Hecken, die die Äcker vor Wind und Erosion schützen und Fasanen, Tauben, Gänse, Hasen und Rehen Unterschlupf bieten, sind geblieben. Die unzähligen Gutshöfe, Gestüte, Wasserburgen und Schlösser auch.
Sasse hat den Familienbetrieb auf Qualität umgestellt. «Wir sind quasi zu den Wurzeln zurückgekehrt». Der 43jährige Müsteraner setzt heute auf aufwändige, Distillierungsverfahren von gestern, auf regionale Bio-Zutaten, alte Fässer und vergessene Rezepte, wie eine 500jährige Benediktinerrezeptur, sein neuester Coup. Der vier Jahre in Barrique bzw. Cognacfässern gereifte Lagerkorn zeigt sich honiggelb, weich, aromenreich, trinkt sich bei Zimmertemperatur und räumt reihenweise Preise ab (u.a. World Spirits Award). Als einzige deutsche Kornbrennerei wurde Sasse zur «World Class Distillerie» ernannt und die Lagerkorn-Auslese «Cigar Special» 2010 auf der International Wine and Spirits Competition London zum besten «Whiskey» Kontinentaleuropas gekürt.
O schaurig ist’s …
Einen Schluck Whiskey hätte man Jan Spieker, dem einsamen Kiepenkerl, wie hier Hausierer mit der Kiepe (Krucke) auf dem Rücken heissen, gern gegönnt, der auf einer Tour ums Goldensteder Moor im Oldenburger Münsterland verstarb. Die Moorbauern entsorgten den Leichnam im Moor, bedeckten ihn mit Heidekraut, nagelten einen Rahmen aus Holz darum herum und befestigten ein Kreuz daran. 200 Jahre später grub man Spieker wieder aus, denn auch das Goldenstedter Moor, Teil der grössten zusammenhängenden Hochmoorfläche Deutschlands, hätte gern seine Moorleiche gehabt. «Von wegen! Dank dem Heidekraut kam Sauerstoff an den Körper und er verweste. Was erhalten blieb, waren die Jacke und ein paar wenige Habseligkeiten des Hausierers», erzählt man Besuchern im «Haus im Moor». Dort kann man Spannendes über das Leben am Moor erfahren und das kräftige Frühstück der Moorbauern kosten: Knusprig in Fett gebackenen Pfannkuchen aus Buchweizen, kaltem Kaffee und Salz, mit Preiselbeeren, Schwarzbrot und Speck serviert. Das hält den Tag lang vor, auch bei Schwerstarbeit, beim Torfstechen im Moor.
Torf wird auch heute rund ums Goldenstedter Moor abgebaut und zu Gartenerde aller Art verarbeitet und angereichert. Die langen Fäden in Blumenerde sind vertorftes Wollgras, lernt man im «Haus im Moor». Wenn im Mai das Wollgras blüht, sei das Moor wunderschön. Jetzt aber, im November, wenn die Kraniche aus Skandinavien auf dem Weg nach Süden vorüberziehen, hält mans mit der westfälischen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff: «O schaurig ist’s übers Moor zu gehn». («Der Knabe im Moor», 1842).
Der Herr der Bäume
Torfhaltig sind auch die Böden rund ums Zwischenahner Meer. Das Binnengewässer liegt im Oldenburger Münsterland, im sogenannten Ammerland. Ammerland ist Rhododendronland und fest in der Hand von Baumschulen. Über 4000 Menschen arbeiten in den Bäumen. 90 Prozent der in Deutschland und ein grosser Teil der in der Schweiz verkauften Azaleen und Rhododendren stammen von hier, laut Jan-Dieter Bruns. Dessen Baumschule, 1876 gegründet, ist die grösste in Europa, liefert Gewächse von Buchs bis Bonsai, von zig Jahre geschulten Formschnitt-Eiben bis zu knorrigen, alten Eichen. Quer durch den Kontinent von Aserbaitschan bis Zollikon. Limitierender Faktor ist der Transport. «Angefangen hat es mit Grossherzog Friedrich-Ludwig von Oldenburg, als der um 1850 die ersten Rhododendren aus England in seinen Schlosspark bei Rastede brachte», so Bruns. Über tausend Rhododendren- und Azaleenarten kann man heute in Bruns Rhododendronpark Gristede bei Bad Zwischenahn bewundern. Oder in einem der vielen Parks im Nordwesten. Bruns Favoriten: Schloss Lütetsburg und Gödens, der Park der Gärten in Bad Zwischenahn, der Maxwald-Park, ein in über 100jähriger Rhododendronwald und Schloss Ippenburg, wenn Freifrau von dem Bussche die Tore öffnet.
Die Königin der Gartenfeste
Sie öffnet sie. Viktoria von dem Bussche, für ihr jüngstes Buch «Ich träume von einem Küchengarten» (Callwey 2012) mit dem diesjährigen Deutschen Gartenbuchpreis ausgezeichnet, winkt ab, lacht und zeigt ihren Ippenburger Schlosspark samt Potager dann doch mit Stolz: «Der Küchengarten sieht jetzt furchtbar aus! Unordentlich, unaufgeräumt bzw. abgeräumt». Wie es im Spätherbst eben aussieht. Bei den ersten Minusgraden machen auch die buntesten Bohnen, Krautstiele und Kapuzinerkressen schlapp. Nur der Cavolo nero und der krause Grünkohl, die Palme des Oldenburger Münsterlands (hier wird er am häufigsten angebaut), bewahren Haltung. Den ganzen Winter hindurch kann man Blatt für Blatt ernten, Stiel und Krone lässt man stehen.
Der Küchengarten in den Mauern des 600jährigen Schlosses bei Bad Essen im Osnabrücker Land ist einer der grössten, wenn nicht der grösste in der Republik. Thomas Bühner, Dreisternekoch in Osnabrück (La Vie), darf sich hier bedienen. Die Schlossherrin selber kocht zum Vergnügen, wie es ihr gefällt. Zur Entspannung, nie nach Rezept. Zum Einmachen hat die 59jährige Selfmadegärtnerin keine Zeit. Denn, wenn sie nicht gerade im Winter ein neues Gartenbuch schreibt, heckt sie mit renommierten Gartendesignern immer wieder neue Gärten für den Schlosspark aus – gerade plant sie mit Christopher Bradley Hole ein Rosarium – und organisiert die nächsten Gartenfeste. Die Gärten von Ippenburg sind das Original der deutschen Gartenfestivalkultur, Schauplatz von «Gartenlust & Landvergnügen» und anderer Festivals im Frühling, Sommer und Herbst. Von dem Bussche: «Als ich vor über 35 Jahren mit meinem Mann nach Ippenburg kam, erschien mir das Anwesen riesig, grau und trist. Ein typischer Adelssitz mit Rhododendren, Stiefmütterchen und Salvien. Im Küchengarten standen Blautannen, alte Obstbäume, von Brennnesseln und Disteln umschlungen, ein zerbrochenes Glashaus, von Weinranken erdrückt». Die Freifrau räumte auf, gestaltete, setzte und grub um. Wünschte sich Gartenromantik im Cottagestil, ein Rosenrondell, einen Staudengarten, scheiterte kläglich und lernt seitdem dazu. Sie fuhr nach England, Holland, Frankreich, hat sich auf der Chelsea Flower Show, in Glyndebourne und St. Jean de Beauregard inspiriert, dachte sich: «Solche Möglichkeiten hast du auch, du musst sie nur nutzen. Da ich mir aber keinen Gärtner leisten konnte, musste sich der Garten selber tragen. So ist die Idee der Festivals entstanden».
Bosseln, bechern, frieren
Der Winter kann kommen, die 80’000 Tulpen fürs Ippenburger Tulpenfestival gesetzt. Zeit für Grünkohl und Pinkel. Auch wenn die Oldenburger Palme als schwarz-violette Sorte in Bussches Küchengarten steht, die Freifrau liebt ihren Kohl wie jeder andere auch. „Man freut sich einfach um diese Jahreszeit darauf.“
Kohl ist Kult. Freunde, Verwandte, Kollegen und Vereine, alle scheinen ihn zu lieben. Man veranstaltet Kohlfahrten aufs platte Land, sperrt Strassen, zieht mit Bollerwägen (beladen mit Glühwein, Schnaps und Bier) stundenlang umher, „bosselt“ – rennt einer kleinen Kugel hinterher, und kürt Grünkohlkönigin und -könig. Mit dem Zweck, dass diese im nächsten Jahr den nächsten Kohlgang organisieren. Bosseln, bollern, bechern, frieren, damit man schön durchgefroren im Anschluss hemmungslos im Landgasthof in Kohl und Pinkel schwelgen kann.
Wenn die feuchte Kälte draussen in die Knochen kriecht, knistert das Feuer drinnen umso wärmer. Die Würste und Schinken hängen zwar nicht mehr wie früher im russgeschwärzten Himmel, im Kamin, aber sie betten sich, wie es sich gehört, auf dampfendem Grünkohl, von Salz- oder Bratkartoffeln und Senf flankiert: Mettenden (Würste aus geräuchertem Schweinefleisch), Kassler, Pinkel, Bratwurst, Speck. Adi Röhr, der Wirt des Dorfkrugs im Cloppenburger Museumsdorf, verrät, woher die Pinkel ihren Namen hat: “Sie ist eine fette, geräucherte Grützwurst mit Hafer- oder Gerstengrütze (Flocken) als Hauptzutaten, mit Talg, Schmalz, Gewürzen, Zwiebeln und Speck vermengt. Die Oldenburger nehmen mehr Speck als die Bremer und weniger als die Ammerländer. Und der Name, nein, nicht, was Sie denken, die Pinkel wurde früher in Rinderdarm gefüllt.“ Der hiess auf Plattdeutsch Pinkel. Apropos feiner Pinkel: Am Sonntag, den 25. November, ermittelt Pathologie-Professor Boerne alias Jan Josef Liefers auf Kosten der Nerven von Kommissar Thiel im „Tatort – Das Wunder von Wolbeck“ auf einem Hof im Münsterland.
Landpartie durch den deutschen Nordwesten
Der Nordwesten im Web: www.muensterland-tourismus.de, www.tourismus.muenster.de, www.oldenburger-muensterland.de, www.ostfriesland.de, www.badessen.info, www.ippenburg.ch
Kohl & Pinkel, traditionelle Küche: Dorfkrug Museumsdorf Cloppenburg, Spieker, Zwischenahner Meer, Engelmannsbäke, Visbek (jungsteinzeitliche Hünengräber), Altdeutsche Gaststätte Lorenbeck, Neuenkirchen, Pinkus Müller, Münster (historisches Altbierbrauhaus), Altes Gasthaus Leve, Münster (älteste Gasthaus von Münster), Kleiner und Grosser Kiepenkerl, Münster, Sasse Feinbrennerei, Schöppingen, www.sassekorn.de
Übernachten inkl. exzellentes Frühstück: Hochzeitshaus, Aurich, www.hochzeitshaus-aurich.de (geschmackvolle Zimmer in historischer Villa), Ressort Baumgeflüster, Bad Zwischenahn, www.baumgefluester.de (fünf aparte Baumhäuser im Baumschulenland), Alte Rentei, Schloss Hünnefeld, Bad Essen, www.schloss-huennefeld.de (B & B und Café am Wasserschloss), Hotel Kaponier, Vechta, www.kaponier.de (gut und angenehm), Sportschloss Velen, Velen, www.sportschlossvelen.de, Parkhotel Wasserburg Anholt, Isselburg, www.schloss-anholt.de, Landhaus Eggert, Münster, www.landhaus-eggert.de
Gärten, Moore, Dorfkultur: Schloss Ippenburg, www.ippenburg.de; Park der Gärten, Bad Zwischenahn; Rhododendronpark Gristede, www.bruns.de; Museumsdorf Cloppenburg (Nikolausmarkt), über 50 Originalgebäude aus dem 16. bis 20. Jahrhundert, www.museumsdorf.de, Schloss Lütetsburg, www.schlosspark-luetetsburg.de (Weihnachtsmarkt 14.-16.12.), Schlosspark Gödens, www.landpartie-goedens.de, Haus im Moor, www.goldenstedter-moor.de
Sport: Der Nordwesten ist ein Veloparadies mit dichtem Netz an Velowegen, oft auf verkehrsarmen Wirtschaftswegen, die Infrastruktur für Velofahrer ist bestens ausgebaut, Gepäckservice, velofreundliche Unterkünfte und Landgasthöfe inklusive. Zu den attraktivsten Routen zählen die Fehnroute und die 100-Schlösser-Tour im Münsterland. Vechta und Warendorf sind die Zentren des deutschen Pferdesports, in Vechta werden die Oldenburger gezüchtet, www.pferde-vechta.de.