FRONTPAGE

Das pralle Leben: «Deftig Barock»

Von Bice Curiger

Auch heute noch umweht die Museumspraxis und die Kunstgeschichte eine vom Leben abgehobene Aura. Mit der Gegenüberstellung der Kunst des Barock mit ausgewählten Werken zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler stossen zwei unterschiedliche Realitäten aufeinander und befruchten sich gegenseitig. Die zeitgenössischen Gemälde  und Installationen stammen von Maurizio Cattelan, Cindy Sherman oder Urs Fischer. Juergen Teller fotografierte zum Beispiel nachts im Louvre in Paris zwei Freundinnen,  die nackt durch das leere Museum spazieren, um vor der Mona Lisa oder dem Hermaphrodit Borghese zu posieren.

Das verborgene Thema dieser Ausstellung ist die Vitalität – nicht zuletzt, weil hier auf den lebendigen Blick vertraut wird, auf die Impulse der Gegenwartskunst, um die Werke des Barock neu zu sehen und andere Fragestellungen an sie heranzutragen. Deftig heisst kräftig, krass, derb: ein Wort, das in Verbindung mit herzhaften Speisen und erotisch direkter Sprache auftritt, aber kaum assoziiert wird mit edler Museumskunst.

Und doch trifft es sich gut, dass deftig im 17. Jahrhundert, also in der Zeit des Barock, vom Holländischen in die deutsche Sprache aufgenommen wurde.
Ein Wort, wie geschaffen, um die in der populären Literatur zum Barock so viel zitierten, die Lebensnähe und das pralle Leben feiernden Bilder, etwa der Niederländer Pieter Aertsen, Adriaen Brouwer, Jan Steen oder Peter Paul Rubens, in eine Chiffre zu fassen.

 

Kunst aus der Gegenwart Bildern aus dem 17. Jahrhundert gegenüber gestellt.
Die Ausstellung Deftig Barock will den Begriff des Barock herauslösen aus der gängigen stilgeschichtlichen Betonung und sich von Clichés distanzieren: Es geht nicht um Pomp, Schnörkel und Gold, sondern um Manifeste des prekär Vitalen – gelebte, wiedererkannte oder verlorene, projizierte und durch den Tod bedrohte Vitalität.

Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts zielten immer wieder auf das Gleichsetzen von Leben und Kunst. Heute hingegen scheint der essentialistische und expansive Furor abgelegt. Es ist nun eher die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Leben und Kunst, die auf reflektierte Art erprobt wird.

 

Herausfordernd etwa in Maurizio Cattelans wiederkehrenden Aktionen, in welchen er Zeichen von gewöhnlich im Kunstraum ausgeschlossenem Leben in diesen einschleust.
Was, wenn nicht ausgestopfte Tiere verkörpern am effizientesten die Ähnlichkeit mit wirklichem Leben? Die Mimesis ist ein probates und seit der Antike bekanntes Mittel, um Verwirrung zu stiften und, wie hier in der Ausstellung, ein Defizit, eine Entfremdung aufzudecken.

Juergen Teller fotografierte nachts im Louvre zwei Freundinnen, die nackt durch das leere Museum spazieren, um vor der Mona Lisa oder dem Hermaphrodit Borghese zu posieren (Paradis XVII/Mona Lisa, Charlotte Rampling, Raquel Zimmermann, Paris 2009. Courtesy Lehmann Maupin Gallery and the Artist).

Leicht verstörend und surreal wirkt die Annäherung des Lebens an die Kunst – und umgekehrt – in ihrer öffentlich gelebten Intimität. Ein Museum ist ein Echoraum für vergegenwärtigte Vergangenheit, ein Raum, der weder ganz öffentlich noch ganz privat, aber sehr real ist.

 

Allein, was taugt der Wirklichkeitsbegriff im Zeitalter des digitalen Umbruchs?

In Albert Oehlens Gemälden treffen computergeneriertes oder sonstwie gefundenes Bildmaterial mit der direkten Handspur als Malerei zusammen. Die Werke sind ein Surrogat von Expression, gemalt mit an der heutigen Wirklichkeitserfahrung geschulten Zweifeln gegenüber der Authentizität des Ausdrucks.

Der Körpereinsatz ist auch in Oscar Tuazons räumlichen Gebilden präsent. Seine Interventionen im Kunstraum sind roh, gleichzeitig prekär und aggressiv, dabei verweisen sie auf poetische Art genauso auf die neuere Skulpturgeschichte wie auf die Gegenkultur der 1970er Jahre und auf andere spekulative oder utopische Ideen rund um Behausung, um Überlebensstrategien und das Sheltering. Hier in der Ausstellung schuf Tuazon eine begehbare zusammengesetzte Skulptur, die auf jenes Modul ausgerichtet ist, das in den USA Mindestdimensionen für kleine Raume (Duschzellen, Telefonkabinen) gesetzlich festlegt.

Nathalie Djurbergs Animationsfilm I Found Myself Alone führt uns mit einem zarten Tanzchen einer schwarzen Ballerina selbstvergessenes, sinnlich verträumtes Geniessen vor Augen. Bis sich – angesichts der erdrückenden Überfülle lacherlich barocker Bombastik – vor der anrührend hinfälligen Knetfigur Abgründe öffnen.

Die hochgradig akzentuierte Körperlichkeit in vielen Werken des Barock bietet Anlass zu Projektionen eines ungebrochen sinnlichen Universums. Man kann so gleichzeitig die eigene Unzulänglichkeit beklagen oder aber sich in den menschlichen und allzu menschlichen Erzählungen spiegeln und wiedererkennen.

Robert Crumbs A Klassic Komic nimmt die literarische Vorlage von James Boswells Tagebüchern, die dieser als 23-Jahriger von 1762–1763 geschrieben hat, zum Anlass, mit seinem Zeichenstift über die Beziehung der Geschlechter und ihre tieferen, psychologisch grotesken Zuge nachzudenken.
Wir tauchen in das 18. Jahrhundert Londons ein und erkennen entfernt auch die Welt der Ausschweifungen der Hippiegeneration. Der Protagonist gibt grosszügig Einblick in seine diversen amourösen Begegnungen, die sich abwechseln mit kultivierten Gesprächen unter Männern über Dichtung und Gesellschaftsphilosophie – wobei mitunter über die Notwendigkeit von Unterwerfung nachgedacht wird. Die freizügigen Schilderungen munden allerdings in ein mit beissender Ironie als Happy End gestaltetes Bild und in die Einsicht, dass durch irregular love viel mehr Elend als Glück produziert wird.

 

Amüsement, Sinn fur respektloses Sprengen von Normen, Drastik und Sinnlichkeit im Bildlichen: Robert Crumb zeigt mit dem Medium Comic, wie man als Künstler an einer Kultur der Vielen arbeitet, die im Kontrast steht zu jener der herausragenden Einzelnen, wie sie die Kunst der Moderne fetischisiert hat. Crumb erschliesst auf seine Art den Pop-Aspekt im Barock. Dort manifestieren sich besonders in den Genrebildern die Sinnenfreude, der Hang zu Deftigem und zu Grenzüberschreitungen aller Art, die Vermischung der Sphären der hohen Bildung mit den Niederungen der Strasse – und gleichzeitig ein mentales Universum, das an die immer noch aktuelle Welt bürgerlicher Doppelmoral erinnert.

 

Der Barock wird mit Dynamik, Sinnenfreude, Verschwendung, mit dem Theatralen gleichgesetzt, mit der Abkehr von der harmonischen Feierlichkeit der klassischen Formen, aber auch mit einer Epoche der Instabilität und der zerbrechenden Ordnungen: In der Ausstellung Deftig Barock sind die Werke des 17. Jahrhundert in vier offenen Räumen jeweils in Unterthemen gruppiert.

Eines umkreist die Genremalerei: das Bäurische, die Kuchenszenen, die üppigen Marktstände, die Hochzeitsgelage der fröhlich ausgelassenen, für eine damalige neue bürgerliche Käuferschicht entwickelten Motivwelt. Diese Werke widmen sich oft dem Laster, dem Liederlichen, dem Sündhaften und, so scheint’s, malen all dies genüsslich in allen Schattierung aus, um gleichzeitig Moral zu predigen – in verschlüsselter, nicht immer offensichtlicher Manier.

 

In Gerrit van Honthorsts von warmem Licht durchfluteten Nachtbild Der Soldat und das Mädchen bläst die Frau auf einen glühenden Stab, wahrend der Mann ihr an den Busen fasst. Vielleicht ist es nicht nur für uns Menschen der Gegenwart, sondern früher schon schwierig zu erkennen gewesen, dass hier die Sittlichkeit und das verderbliche Feuer der Lust gemeint sein sollen?

Im gleichen Raum sind Beispiele des Burlesken und Grotesken vereint. Mit Faustino Bocchi und Bartolomeo Passerotti tritt der Geschmack am Abweichenden, am Hässlichen, der bruttezza des Barock ins Bild. Bocchis comichafte, stilisierte Welt von Zwergen und Tieren parodiert unter flämischem Einfluss von Brueghel bis Bosch den Alltag des einfachen Volkes mit all seinen schillernden Vertretern. Beliebt waren auch satirische Szenen, in welchen Tiere die Menschen buchstäblich nachäffen. Es waren Bilder, die gerade im Adel und im Bürgertum beliebt waren, nicht zuletzt, um sich im Amusement sozial nach unten abzugrenzen.

 

Und doch waren die Darstellungen von derbem, triebhaftem Verhalten und einer Körperlichkeit jenseits der Norm auch gegen höfische Geziertheit gerichtet, indem sie gleichzeitig Vorstellungen von erhabener, klassischer Harmonie zersetzten. Ein zweiter Raum präsentiert Werke mit mythologischen Themen. Sie laden ein ins Reich der literarischen Installationsansicht.

Wie auch die These vertreten worden ist, dass Monsu Desiderios Ruinen als eine apokalyptische Vision auf die Gegenreformation gemünzt seien, als Ahnung auf das Ende des römischen Katholizismus.

 

Die Kunstgeschichte ist in der Gegenwartskunst als eine Art psychischer Spiegelungsmechanismus angesprochen. In Dana Schutz das Fantastische mit dem Reflexiven verbindenden Malerei zitiert eine Tanzende in How we would dance gemäss den Aussagen der Künstlerin die nach hinten kippende Figur des Heiligen aus Caravaggios Kreuzigung von Sankt Peter.

Auch Paul McCarthys Schneewittchen nach Walt Disney verschmilzt mit Berninis Verzückung der heiligen Theresa zum dreist sexualisierten und vulgarisierten Amalgam. Künstler arbeiten mit im kollektiven Gedächtnis während Jahrhunderten, ja Äonen abgelagerten Motiven und Bedeutungen:

 

Was ist die Gegenwart eigentlich?
Der amerikanische Kunsthistoriker und Kritiker, Hal Foster, publizierte 2009 eine Umfrage aus einem, wie er schreibt, Unbehagen heraus, dass die Welt der Gegenwartskunst heute so freischwebend geworden sei – was indes weniger ein Problem der Künstlerinnen und Künstler als eines der Institutionen der Vermittlung sei.

In ihrer Heterogenität scheint die gegenwärtige Praxis freischwebend, weil sie abgelöst ist von einer historischen Festlegung oder einer konzeptuellen Definition und sich einem kritischen Urteil entziehe, in:
OCTOBER 130, Fall 2009, Die Umfrage Questionnaire. What Is Contemporary basiert auf einem Fragebogen, der an 70 Kuratoren, Kritiker und Akademiker verschickt und von der Hälfte beantwortet wurde.

In der Einführung zur soeben erwähnten Umfrage schreibt Foster:
Ist dieses Freischweben real oder eingebildet? Eine bloss regionale Wahrnehmung? Eine logische Konsequenz am Ende der Grossen Erzählungen? Falls es zutrifft, wie können wir seine Ursachen präziser bestimmen, als lediglich generell den ‹Markt› oder die ‹Globalisierung› dafür verantwortlich zu machen? Oder ist das Freischweben tatsächlich ein direktes Produkt einer neoliberalen Ökonomie, einer, die überdies nicht von der Krise betroffen ist?
Welches sind die direktesten Folgen für die Künstler, Kritiker, Kuratoren, Kunsthistoriker – für deren Ausbildung und ihre Praxis? Gibt es Nebeneffekte in andern Gebieten der Kunstgeschichte? Gibt es aufschlussreiche Analogien, die sich auf andern Gebieten der Künste und Disziplinen anzeigen?
Gilt es schliesslich Nutzen zu ziehen aus dieser scheinbaren Leichtigkeit des Seins?

 

Das Titelblatt dieser Publikation zeigt eine unflätig herausgestreckte Zunge. Es ist Urs Fischers Noisette, eine überaus realistisch wirkende Silikonzunge, die, durch Bewegungsmelder aktiviert, aus einem Loch aus der Wand einer Ausstellung schnellt, um einen Moment lang sanft wippend vor den lachend überrumpelten Besuchern sichtbar zu bleiben, bevor sie wieder in der Höhle verschwindet.
Gerade im barocken Norden war die herausgestreckte Zunge ein sehr beliebtes Motiv im Grundvokabular des Derben, Frechen, Deftigen, des sich spielerisch den Regeln Widersetzenden; und ist es bis heute geblieben, wo die Redewendung den Einstein machen einem gleich das Bild des berühmten Physikers vor Augen führt, wie er, im Fond eines Auto sitzend, einem aufdringlichen Fotografen die Zunge herausstreckt.
Noisette steht aber auch für einen hintersinnigen Animismus im Kunstraum: Die Wand lebt.
Und auch Urs Fischers andere Skulptur in der Ausstellung – ein riesiges, zerwühltes Bett –, ist suggestiv beseelt und scheint sich in einer dahinschmelzenden Anwandlung mit Empathie dessen, was sich in ihm ereignet hat, zu erinnern.

 

Entspricht die Vorstellung überraschender Beseelungen von Objekten einer Steigerung heutiger Wirklichkeitserfahrung? In einigen Werken der Gegenwartskunst sehen wir uns konfrontiert mit Fantasien zu einer durch die neuen technologischen Errungenschaften beeinflussten Körperlichkeit.
Wer sich in Ryan Trecartin und Lizzie Fitchs Installation mit Film auf die spezielle, zwischen hypnotisch und hysterisch oszillierende Stimmung einlasst, scheint trotz der Fremdheit und der Konfrontation mit der geheimbündlerischen Zeichenwelt einer obskur überdrehten Jugendkultur von Wellen des Wiedererkennens erfasst.

 

Ist es ein Blick in den Wahnsinn der zukünftigen Realität einer irgendwie mental-digital gesteigerten Hyperkonsumwelt?
Es ist die Art Community, es sind junge Kunstbesucher, welche Tobias Madisons Werk Tomorrow (mit)gestaltet haben: Das Wort Feedback bezieht sich nicht nur auf den wiederkehrenden schrillen Sound; vielmehr ist damit auch die Aktionsenergie des Kunstpublikums mitgemeint, die im Moment der Erwartung, des sich Einfindens am Präsentationsort der Kunst unvorbereitet in eine Aktion eingebunden worden ist.
Ausstellen wird hier gleichgesetzt mit einer multiplen Spiegelung im und mit dem Publikum.

 

Das Kunstwerk dokumentiert die Spontanperformance einer festgehaltenen, gefilterten, unfassbaren und doch aufgrund eindringlichen Wirklichkeit als ein irreal digitales Etwas, als halbvirtuelles Kontinuum der Live-Version eines sogenannten sozialen Netzwerks.
Extrem kontrastierend und in einem ganz andern Sinn irre stellt sich die analoge Wirklichkeit in Boris Mikhailovs Anspielungen, der Fantasie und verfeinerten Erotik. Die schlafende Venus, von Nymphen und Satyrn beobachtet, oder die von den Alten bedrängte Susanna waren gängige, auch die voyeuristischen Triebe bedienende Themen, um das wollustige Treiben zwischen den Geschlechtern ins libertinäre Bild zu setzen.

In Simon Vouets Raub der Europa erfährt die Schilderung sexueller Lust eine humorvolle Note, allein schon im Ausdruck des Stiers, in seinen in Richtung von Europas entblösster Brust schielenden, weit aufgerissenen Augen und seiner lüstern heraushängenden Zunge.

 

Cindy Sherman hat in den vergangenen rund dreissig Jahren ein genuines Werk geschaffen, indem sie sich selber fotografiert hat, ganz allein mit sich und vor ihrer Kamera – mit Kostümen, Accessoires und Schminke, um in unerschöpflicher Weise stets neue Zugänge zur Identitätsbefragung und der Welt der Konditionierungen in unserer heutigen, massenmedial bestimmten Zeit zu erschliessen. Eine Gruppe neuerer Arbeiten wirft dabei einen gnadenlosen Blick auf das Altern und den Look von ältlichen Gesellschaftsdamen schonungslos und doch anrührend wird hier der Wunsch zu gefallen sozusagen auf der äussersten Oberfläche seziert und freigelegt.

In unserer Zeit der grossen visuellen und kommunikativen Umwälzungen ist ein Blick in eine Epoche, die das Sichtbare und den Sehsinn als ein beliebtes allegorisches Motiv feierte, nicht nur anziehend und kunsthistorisch sinnvoll.
So sind es die Impulse der Gegenwart, die uns vielleicht neue Betrachtungsweisen fur die alte Kunst erschliessen – besonders aber ist zu hoffen, dass es sich mit einem breiter in die zeitliche Tiefe der Menschheitsgeschichte erweiterten Kunstverständnis besser auf unser zukunftiges gemeinschaftliches Leben vorbereiten lasst.

 

(Auszug aus dem Katalog, Courtesy Kunsthaus Zürich 2012).

 

Kunsthaus Zürich
«Deftig Barock. Von Cattelan bis Zurbaran.
Manifeste des prekär Vitalen».
Heimplatz 1
8001 Zürich
www.kunsthaus.ch
(1. Juni-2. September 2012)

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