FRONTPAGE

«Das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit»

Von Stéphane Hessel

 

«93 Jahre. Das ist schon wie die allerletzte Etappe. Wie lange noch bis zum Ende? Die letzte Gelegenheit, die Nachkommenden teilhaben zu lassen an der Erfahrung, aus der mein politisches Engagement erwachsen ist.»
Stéphane Hessels Streitschrift «Empört Euch!» bewegt die Welt.

Der gebürtige Berliner war Mitglied der Résistance, hat das KZ Buchenwald überlebt und ist einer der Mitautoren der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen. Mit emphatischen Worten ruft der ehemalige französische Diplomat zum friedlichen Widerstand gegen die Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft auf. Er beklagt, dass der Finanz-kapitalismus die Werte der Zivilisation bedroht und den Lauf der Welt diktiert. Er prangert die Lage der Menschenrechte an, kritisiert die Umweltzerstörung auf unserem Planeten und verurteilt die Politik Israels im Gaza-Streifen als Demütigung der Palästinenser. Stéphane Hessel ist das Gewissen der westlichen Welt und «Frankreichs Rebell der Stunde».
Seine Streitschrift ist der heimliche Frühlings-Bestseller!

Literatur & Kunst publiziert hier mit freundlicher Genehmigung der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin zwei Kapitel aus der Streitschrift«Empört Euch!».

 

Das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit
Die Gründe, sich zu empören, sind heutzutage oft nicht so klar auszumachen – die Welt ist zu komplex geworden. Wer befiehlt, wer entscheidet? Es ist nicht immer leicht, zwischen all den Einflüssen zu unterscheiden, denen wir ausgesetzt sind. Wir haben es nicht mehr nur mit einer kleinen Oberschicht
zu tun, deren Tun und Treiben wir ohne weiteres verstehen.
Die Welt ist groß, wir spüren die Interdependenzen,
leben in Kreuz- und Querverbindungen wie noch nie. Um wahrzunehmen, dass es in dieser Welt auch unerträglich zugeht, muss man genau hinsehen, muss man suchen. Ich sage den Jungen: Wenn ihr sucht, werdet ihr finden. «Ohne mich» ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann.
Den «Ohne mich»-Typen ist eines der absolut konstitutiven Merkmale des Menschen abhanden gekommen: die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement.
 

Zwei große neue Menschheitsaufgaben sind für jedermann erkennbar:
 

1. Die weit geöffnete und noch immer weiter sich öffnende Schere zwischen ganz arm und ganz reich.
Das ist eine Spezialität des 20. und 21. Jahrhunderts.
Die Ärmsten der Welt verdienen heute kaum zwei Dollar am Tag. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Kluft sich weiter vertieft. Allein schon dies heißt, sich zu engagieren.
 

2. Die Menschenrechte und der Zustand unseres Planeten.
 

 

Ich hatte nach der Befreiung Frankreichs die Chance, an der Formulierung der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» mitzuwirken, die von der UNO am 10. Dezember 1948 im Palais de Chaillot in Paris verabschiedet wurde. Diese Mitwirkung verdankte ich meiner Stellung als Kabinettschef von Henri Laugier, Beigeordneter UNO-Generalsekretär und Sekretär der Menschenrechtskommission. Beteiligt an der
Ausarbeitung des Textes waren auch René Cassin, der 1941 der französischen Exilregierung in London angehört hatte und 1968 den Friedensnobelpreis erhielt, und Pierre Mendès France, dem beim Wirtschafts- und Sozialrat die von uns ausgearbeiteten Texte vorgelegt wurden, bevor sie die mit sozialen, humanitären und kulturellen Fragen befasste Dritte Kommission der Generalversammlung prüfte. In dieser Kommission waren die damals 54 UNO-Mitgliedstaaten vertreten, und ich führte ihr Sekretariat. Dass am Ende die Menschenrechte als «universell» statt, wie von unseren Angelsächsischen Freunden vorge-schlagen, als «international» qualifiziert wurden, ist René Cassins Verdienst.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging es ja darum, die Menschheit dauerhaft vom Gespenst des Totalitarismus zu befreien. Dazu musste erreicht werden, dass die UNO-Mitgliedstaaten sich zur Achtung dieser universellen Rechte verpflichteten – ein Weg, um das Argument der vollen Souveränität auszuhebeln, auf das sich ein Staat berufen konnte, der sich auf seinem Territorium Verbrechen gegen die Menschlichkeit leistete – siehe Hitler, der als Herr im Hause
über Völkermord entschied. Ohne den weltweiten Abscheu vor Nationalsozialismus, Faschismus, Totalitarismus und dabei auch, durch die französische Präsenz, die Ideale der Résistance wäre diese universelle Erklärung in dieser Form kaum zustande gekommen.
Ich spürte, dass wir uns beeilen mussten und uns
nicht täuschen lassen durften. So konnten wir versuchen,
diese Werte gegen jene Siegermächte durchzusetzen, die ihre Zustimmung zu ihnen bloß heuchelten und gar nicht die Absicht hatten, sie loyal umzusetzen.
Ich möchte aus der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» den Artikel 15 zitieren: «Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit». Und Artikel 22: «Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung
der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind».
Und auch wenn diese Erklärung, da sie nicht völkerrechtlich verbindlich geworden ist, bloß deklaratorischen Charakter hat, ist sie dennoch seit 1948 nicht ohne Wirkung geblieben. Kolonialvölker haben sich in ihrem Unabhängigkeitskampf auf sie berufen, und sie hat den Freiheitskämpfern Mut gemacht.
Erfreulicherweise hat sich die Zahl der Nichtregierungs-organisationen, der auf gesellschaftliche Veränderung hin orientierten Bewegungen wie Attac (Association for the Taxation of Financial Transactions for the Aid of Citizens), FIDH (Fédé ration internationale des Droits de l’homme – Internationale Menschenrechts-föderation), Amnesty International …– alle aktiv und leistungsstark – in den letzten Jahrzehnten vervielfacht. Eines ist klar: Wer heute etwas erreichen will, muss gut vernetzt sein und sich aller modernen Kommunikationsmittel bedienen.
Den jungen Menschen sage ich: Seht euch um, dann werdet ihr die Themen finden, für die Empörung sich lohnt – die Behandlung der Zuwanderer, der in die Illegalität Gestoßenen, der Sinti und Roma. Ihr werdet auf konkrete Situationen stoßen, die euch veranlassen, euch gemeinsam mit anderen zu engagieren. Suchet, und ihr werdet finden!

 

Meine Empörung in der Palästina-Frage
Derzeit bin ich am meisten über die Verhältnisse in Palästina empört, im Gaza-Streifen, im Westjordanland. Meine Empörung gründet sich auf einen Aufruf mutiger Israelis aus dem Ausland: « Ihr, die ihr von uns geboren seid, seht, wohin unsere leitenden Männer und Frauen dieses Land geführt haben, nicht eingedenk der grundlegenden menschlichen Werte des jüdischen Glaubens». Ich habe mich 2002 dorthin begeben und dann noch fünfmal, zuletzt 2009. Der Gaza-Bericht von Richard Goldstone vom September 2009 sollte Pflichtlektüre sein. In ihm klagt dieser südafrikanische Richter, selber Jude und bekennender Zionist, die israelische Armee an, während ihrer dreiwöchigen Operation «Gegossenes Blei» Akte begangen zu haben, «die mit Kriegsverbrechen und vielleicht, unter bestimmten Umständen, mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit vergleichbar sind».
Ich selbst habe den Gaza-Streifen erneut 2009 besucht.
Unsere Diplomatenpässe haben meiner Frau und mir den Weg dorthin geöffnet. Wir wollten uns mit eigenen Augen überzeugen, ob die Aussagen des Berichts stimmten. Unsere Begleiter waren nicht zum Betreten des Gaza-Streifens, sondern nur des Westjordanlands, berechtigt. Wir haben auch die 1948 von der UNWRA (United Nations Relief and Works Agency für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten) eingerichteten palästinensischen Flüchtlingslager besichtigt, in denen mehr als drei Millionen aus ihrer Heimat geflohene und vertriebene Palästinenser auf eine immer fraglicher werdende Rückkehr warten.
Was den Gaza-Streifen betrifft, so ist er für anderthalb Millionen Palästinenser ein Gefängnis unter freiem Himmel. Ein Gefängnis, in dem sie sich Tag für Tag als Überlebenskünstler bewähren. Mehr noch als die materiellen Zerstörungen wie diejenige des vom Roten Halbmond errichteten Spitals durch die Operation «Gegossenes Blei» haben sich uns die Bilder vom
Lebensmut dieser Menschen eingeprägt, ihr Patriotismus, ihre Freude am Strand- und Badeleben, ihre unablässige Bemühung um das Wohlergehen ihrer zahllosen fröhlichen Kinder. Mit welchem Einfallsreichtum sie den ihnen auferlegten täglichen Mangel an so vielem zu bewältigen versuchen! Wie sie, weil ihnen der Zement fehlt, Ziegel brennen für den Wiederaufbau Tausender von den Panzern zerstörter Häuser. Tausendvierhundert Tote – Frauen, Kinder und Alte im Palästinenserlager – hat, so wurde uns bestätigt, diese israelische Armee-Operation «Gegossenes Blei» gekostet, gegen lediglich fünfzig verwundete Israelis. Ich teile die Schlussfolgerungen des südafrikanischen Richters. Dass Juden Kriegsverbrechen begehen können, ist unerträglich. Leider kennt die Geschichte nicht viele Beispiele von Völkern, die aus ihrer Geschichte lernen.
Ich weiß: Unter der Hamas, die die letzten Wahlen gewonnen hat, wurden als Reaktion auf die Isolierung und die Blockade der Menschen im Gaza-Streifen Raketen gegen israelische Städte abgefeuert. Selbstverständlich halte ich den Terrorismus für inakzeptabel. Aber ist es wirklich realistisch zu erwarten, dass ein mit unendlich überlegenen militärischen Mitteln besetzt gehaltenes Volk gewaltlos reagiert?
Nützt es der Hamas, Raketen auf Sderot abzufeuern? Gewiss nicht. Es ist der Sache der Hamas abträglich, aber angesichts der Verzweiflung der Menschen im Gaza-Streifen leider verständlich.
In der Verzweiflung ist Gewalt ein bedauerlicher Kurzschluss zur Beendigung einer für die Betroffenen unerträglichen Situation. So gesehen ist Terrorismus eine Erscheinungsform von Verzweiflung. Hoffnungslosigkeit – dieses Negativwort – beinhaltet aber die Hoffnung. Die Hoffnungslosigkeit ist die Negation der Hoffnung. So verständlich, fast naturgemäß sie ist, kann man sie dennoch nicht akzeptieren, denn aus ihr kommt nichts, was eventuell wieder Hoffnung sprießen ließe.
 

«Neues schaffen heisst Widerstand
leisten. Widerstand leisten heisst
Neues schaffen».
Stéphane Hessel.

 

«Empört Euch!» Aus dem Französischen von
Michael Kogon, Ullstein Verlag, 32 Seiten, mit einem Nachwort der französischen Verlegerin Silvie Crossman. € 3,99. CHF 7.90. ISBN: 978-3-550-08883-4.

 

Stéphane Hessel, Sohn des Schriftstellers Franz Hessel, wurde 1917 in Berlin geboren. 1924 zog er mit seinen Eltern nach Paris; seit 1939 ist er französischer Staatsbürger.
Ab Oktober 1945 war er Vertreter Frankreichs bei den Vereinten Nationen in New York, 1948 Mitunterzeichner der Charta der Menschenrechte.
Michael Kogon, der „Empört Euch!“ auf Wunsch des Autors ins Deutsche übersetzt hat, ist Nationalökonom, Übersetzer, Autor und Mitherausgeber der Gesammelten Schriften seines Vaters, des Publizisten Eugen Kogon, der Stéphane Hessel im KZ Buchenwald das Leben rettete, indem er ihm zu einer neuen Identität verhalf.

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