«Das schönere Flugzeug»
Von Marion Löhndorf
Das Auto hat die Welt erobert. Und glaubt man der Schau in London, ist seine bewegte Geschichte noch lange nicht zu Ende. Ausstellung «Cars. Accelerating the Modern World» im Victoria and Albert-Museum, London, bis 19. April 2020.
Die Ausstellung in London regt zu einem Rückblick an, der auch die vergessenen, skurrilen und negativen Aspekte nicht auslässt. Bis vor kurzem galt das Auto als Objekt von Status und Begierde: heiss geliebt, bestaunt, benutzt. Es war immer viel mehr als nur ein Gebrauchsgegenstand. Phantasie und Funktion verbanden sich schon in seiner Geburtsstunde untrennbar. Es verkürzte unsere Wege und erweiterte den Lebensradius, und so ist es immer noch. Es beeinflusst das Leben von Milliarden Menschen, verändert Städte, entstellt und erschliesst Landschaften für Industrie, Wirtschaft, Tourismus. Kaum eine andere Erfindung hat unsere Zeit stärker geprägt als das Automobil.
Verlorene Unschuld
Doch beim langen Siegeszug durch die Zivilisation hat sich die einst so vergötterte Maschine ein paar Imageprobleme eingehandelt: Die Hochzeit der Automobilindustrie in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ist lange vorbei. Auch zum Identifikationsobjekt will der eigene Wagen nicht mehr recht taugen: Ihn mehr zu lieben als die eigene Frau, ist zwar nicht ganz obsolet, aber nicht mehr gesellschaftsfähig. Als Wohlstandssymbol hat das Auto, wie wir es kennen – nämlich mit Verbrennungsmotor –, ausgedient in einer neuen, umweltbewussten Generation, die das Erleben höher bewertet als das Haben.
Irgendwann wird auch die Fahrprüfung als Meilenstein und Initiationsritus auf dem Weg zum Erwachsenwerden passé sein. Autonomen Fahrzeugen, die wie von Geisterhand computergesteuert durch die Strassen rollen, soll die Zukunft gehören – wer braucht da noch einen Führerschein?
Carsharing ist jetzt schon populär, und noch bessere Aussichten werden ihm vorhergesagt. Hybrid- und Elektroautos erleben einen massiven Aufschwung. Sie sind Teil der Reaktion auf den Unschuldsverlust des Fortbewegungsmittels, das einmal Geschwindigkeit und Freiheit bedeutete. Heute kann man nicht mehr über Autos sprechen, ohne auf ihren Anteil am Klimawandel hinzuweisen.
Imageprobleme hin oder her, die Faszination Auto ist nicht totzukriegen. Im Gegenteil. Wie eine grosse Ausstellung im Lodoner Victoria und Albert-Museum zeigt, gibt es gute Gründe, sich an 133 Jahre alte Autos im ganz grossen Stil zu erinnern.
Das Auto ist so allgegenwärtig als Teil unseres Alltags, dass das eigentliche Ausmass, in dem es Welt, Leben und Kultur bestimmt, kaum noch wahrgenommen wird. Das ist die erste Beobachtung, die das Victoria und Albert Museum ganz ohne Worte anregt, allein durch die schiere Anzahl der Bezüge, die es herstellt. Doch wie erzählt man über so ein unüberschaubares Sujet im Museum?
Weil die Schau in den Jahren 2019 und 2020 zu sehen ist, mischt sich Kritik in die Lust am Thema – Skeptiker und Jeremy-Clarkson-Fans, Nicht-Fahrer und Besucher mit Benzin im Blut sollen gleichermassen angesprochen werden. Doch sie vermeidet die Radarfalle vieler monothematischer Autoausstellungen, die lediglich zum Showroom für Luxuswagen geraten. Das genussvoll Karnevaleske dieser Blockbuster-Show mit ihren 250 Objekten wird fein ausbalanciert durch einen historischen Rückblick mit vielen überraschenden, halb vergessenen Details. Und durch einen Einbezug der Schadensbilanz, die der ikonische Gegenstand eben auch zu verzeichnen hat: die Verkehrstoten, die Arbeitsbedingungen der Fabrikarbeiter, die Auswirkungen auf das Klima werden nicht ausgeblendet.
Insgesamt geht es weniger um Motoren als vielmehr um die Ästhetik und die Geschichte der bahnbrechenden Erfindung. Da ist der erste massenproduzierte Wagen, Ford Model T, der knallgelbe «massgeschneiderte» Chevrolet Impala von 1962, ein Mustang vor einem im Dauer-Loop gezeigten Ausschnitt von «Bullit» (1968), in dem Steve McQueen am Steuer sass. Auf der anderen Seite verkündet eine Werbung der Energiefirma Humble aus den siebziger Jahren stolz: «Jeden Tag liefert Humble genug Energie, um 7 Tonnen Gletscher zu schmelzen!» Das Beweisfoto eines solchen Gletschers liefert die Reklame gleich mit. Die Zeiten ändern sich.
In Vergessenheit geriet auch die Inspiration, die das Auto dem Flugzeug zu verdanken hat. «Auf merkwürdige Weise hat das Auto immer schon davon geträumt, ein Flugzeug zu sein», sagt Brendan Cormier, einer der Kuratoren der Londoner Ausstellung. Das aerodynamische Design sollte schnelle, reibungslose Fortbewegung ermöglichen – im Wagen auf der offenen Strasse dahinzugleiten ist so schön wie Fliegen.
Benzin aus der Apotheke
Der österreichische Ingenieur und Aerodynamiker Paul Jaray erdachte die Form zweier Zeppelin-Luftschiffe, bevor er sich – seiner Zeit meilenweit voraus – in den zwanziger Jahren ans Autodesign machte. Zunächst verspottet, setzte er seine Ideen schliesslich für Rennwagen durch, und 1934 erschien das erste nach seinen Vorstellungen gestaltete Serienfahrzeug, der Tatra 77 – ebenfalls in der Ausstellung zu sehen –, mit seiner windschnittigen Form und seiner charakteristischen hinteren Mittelflosse eine Sensation in der Autowelt. Jarays Karosserieformen prägen die Gestaltung und Konstruktion von Autos bis heute.Auch die Frühgeschichte des Fahrzeugdesigns hält ein paar Überraschungen bereit. Denn sie verlief keineswegs so geradlinig, wie man sich das vielleicht denkt – dass nämlich die heute vorherrschende Technologie sich durchsetzte, weil sie eindeutig als die beste galt. Stattdessen spielten Marketing, Marktinteressen und Zufälle eine Rolle. Zu Beginn war beispielsweise nicht einmal klar, ob sich das mit Benzin oder das mit Elektrizität betriebene Auto durchsetzen würde. Überhaupt zeichnete sich der Siegeszug der neuen Fahrzeuge nicht von Anfang an ab.
Als Carl Benz seinen Patent-Motorwagen Nummer 3 1886 in die Welt setzte, war die «Kutsche ohne Pferde» noch eine Erfindung mit undefiniertem Zweck, die ohne geeignete Infrastruktur dahintuckerte: Es gab weder die richtigen Strassen noch Tankstellen. Die ersten Autofahrer mussten das Benzin noch aus der Apotheke holen. Verkauft wurde das neuartige Gefährt als Luxusgegenstand für wenige, die ihn sich leisten konnten, heute mit einer Jacht vergleichbar. Von der Fahrt zum Büro also noch keine Spur.
Michelin propagierte dann die Idee deer gemütlichen Autoreise um ihrer selbst willen mit einem ersten Guide-Buch, das um die Jahrhundertwende erschien. Doch was der Entwicklung des neuen Gefährts den grössten Anschub verpasste, war der Spass an der Geschwindigkeit, der eine Hauptrolle in der Erfolgsgeschichte der frühen Automobilindustrie spielen sollte. Denn plötzlich wurden Autorennen zwischen den Städten so populär, dass sich neue Geldgeber für die Entwicklung der Wagen fanden. Auch Henry Ford nutzte Rennen seiner früheren Modelle, um Investoren zu gewinnen. Der Amerikaner machte das einstige Luxusobjekt nicht nur für breite Bevölkerungsschichten erschwinglich. Er revolutionierte auch die Arbeit von Fabriken. Angeregt durch den Meatpacking District in Chicago, üertrug Ford die Methoden des seriellen Fleischzerlegens in umgekehrter Weise auf den Zusammenbau von Autobestandteilen am Fliessband.
Endlich abheben
Die neue Art der industriellen Produktion beeinflusste die ganze Welt – bis hin zum Bauhaus mit seinen Konzeptionen für den Bau mit industriell vorgefertigten Teilen oder zum Design der «Frankfurter Küche», die für 10 000 Sozialwohnungen entworfen wurde.
Fords «assembly lines», die Förderbänder, auf denen Einzelteile zusammengesetzt wurden, waren populär und wurden vom Publikum bestaunt. In der Ausstellung zeigt eine in diesem Jahr aufgenommene Riesenprojektion der BMW-Fabrik in München nun den neuesten Stand der Technik – Produktionsabläufe, die fast ohne Menschen auskommen.
Heute ist die Geschichte des Autos, wie wir sie kennen, im Umbruch oder, wie manche meinen, bereits abgeschlossen. Man könnte auch sagen: Sie wird weitergeschrieben, aber anders. Dass es Leute gibt, die es auch in der Zukunft des Autos so richtig krachen lassen wollen, beweist das Pop.Up-Next-Flugauto – es wird grosse Ähnlichkeit mit einem Helikopter haben und auch entsprechenden Lärm machen. Womit das Auto wieder zu seinem alten Traum vom Fliegen zurückkehrt.
«Cars. Acceleratig the Modern World». Victoria und Albert Museum, London, bis 19. April 2020. Der Katalog kostet 25 Pfund.