FRONTPAGE

«Das Werk von Livio Vacchini: Monographie mit Tiefgang»

Von Fabrizio Brentini

 

Der 2007 verstorbene Architekt Livio Vacchini gehörte zu den Entdeckungen der berühmt gewordenen Ausstellung «Tendenza» von 1975, die den Blick der Architekturkritiker auf die dynamische Szene südlich der Alpen richtete. Er stand aber immer im Schatten von Mario Botta und Luigi Snozzi, welche hauptverantwortlich dafür waren, dass die Etikette «Tessiner Architektur» international zur Kenntnis genommen wurde. Im Gegensatz zu den beiden genannten Meistern ist über Vacchini wenig veröffentlicht worden.

 

So betrachtet war es höchste Zeit für eine umfassende Studie über Vacchini, zu der sich Till Lensing im Auftrage der Dozentur für Bautechnologie und Konstruktion der ETH Zürich entschloss. Der Autor nähert sich dem Gesamtschaffen aber auf eine unübliche Weise an, nämlich über die Architekturtheorie. Ausgangspunkt ist ein von Vacchini in seinem Todesjahr veröffentlichter Traktat, in dem er zwölf Capolavori, Meisterwerke der Architekturgeschichte, untersucht. Die Liste umfasst prähistorische Denkmäler (Stonehenge), Denkmäler der Antike (Pyramiden von Gizeh, Parthenon in Athen), zwei Zeugnisse der islamischen Kultur (Moscheen von Cordoba und Edirne), je ein Sakralbau der Gotik, des Barock und der Moderne (Jakobinerkirche in Toulouse, Sant Ivo in Rom und die Kapelle in Ronchamp), schliesslich als zeitgenössische Reaktion auf das Parthenon die Nationalgalerie in Berlin von Mies van der Rohe. Zu diesen europäischen Beispielen gesellen sich drei Anlagen der Maya- und der Akztekenkultur (Teotihuacán in Mexiko, Tikal in Guatemala und eine Hausanlage in der mexikanischen Ruinenstadt Uxmal).

 

Sammlung architektonischer Artefakte

Es ist eine höchst persönliche Sammlung von architektonischen Artefakten, die für Vacchini aus unterschiedlichen Gründen zu Brennpunkten seiner Entwurfsarbeit wurden.

In der Publikation von Lensing sind die Gedanken Vacchinis in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht worden, aber unverständlicherweise erst am Schluss. Da die vorangehenden Texte immer wieder Bezug zu den manifestartigen Überlegungen von Vacchini nehmen, empfiehlt es sich, diese zuerst zu lesen. Sprachgewaltig und zugleich in Demut nähert sich Vacchini diesen Meisterwerken. Rationale Analyse wechselt sich ab mit der Beschreibung emotionaler Reaktionen, mit eigenwilligen, auf Assoziationen beruhenden Interpretationen sowie mit fast normativen Postulaten für die eigene Arbeit. Der Duktus erinnert an die Studie «Vom Bau der Kirche» von Rudolf Schwarz, der von Vacchini mehrmals erwähnt wird, die Art der Reflexion hingegen an den italienischen Fotografen Ugo Mulas, der 1971/72 mit «Le Verifiche» 14 Papierabzüge zum Thema von grundsätzlichen Überlegungen über das Medium Fotografie machte.
Im Studium war die Architekturgeschichte für Vacchini ein verstaubtes Fach, doch je mehr er sich in der Entwurfsarbeit mit neuen Lösungen abmühte, umso stärker wurde ihm bewusst, dass die historischen Denkmäler im Grunde alles bieten, was beim eigenen Entwurfsprozess weiterhelfen kann. Die Bezüge zwischen seinen Projekten und den Capolavori werden im Buch von Lensing immer wieder thematisiert, teilweise mit Bildvergleichen, teilweise mit Erläuterungen der Zitate aus den wenigen von Vacchini veröffentlichten Texten.

In den Fokus der Analyse geraten nur wenige Entwürfe, Vacchinis Haus in Costa, sein Arbeitsgebäude in Locarno, die Casa Koerfer in Ronco, die Häuser für drei Frauen in Beinwil a.S., das Postgebäude in Locarno, das Bürohaus La Ferriera in Lugano, das polyvalente Zentrum In Losone, die Piazza unterhalb des Schlosshügels in Bellinzona.

 

 

Typologie, Tektonik, Transformation
Bereits auf der Seite, die üblicherweise für den Schmutztitel reserviert ist, wird ein trinitarisches Konzept im Denken Vaccinis deutlich: Typologie, Tektonik, Transformation. Vacchini teilt sämtliche Gebäude in zwei Typen ein, in private und in öffentliche. Jene seien durch einen gerichteten, diese durch einen radialen Grundriss charakterisiert. Tektonisch setzt sich ein Bau aus drei Schichten zusammen, aus dem Sockel, dem sich darüber erhebenden Körper und dem sich gegen den Himmel abgrenzenden Dach. Und dies sei schon in der Anlage von Stonehenge nachzuweisen, dessen Erbauer Vacchini als ersten Architekten bezeichnet. Mit Transformation meint er die Weiterentwicklung der Capolavori, die geniale Lösungen präsentieren, aber doch nicht so vollkommen sind, dass sie nicht verbessert werden könnten. Für Publikationen stellte Vacchini lediglich Grund- und Aufrisse zur Verfügung und diese in einer äusserst knappen Artikulation. Keine Details sollen die Hauptideen eines Entwurfes stören, keine zeichnerischen Effekte sollen die rationalen Überlegungen des Entwerfers verunklären. Das hat auf der anderen Seite zur Konsequenz, dass der Leser sich Zeit nehmen muss, um die Hauptideen des Entwurfes zu erfassen.

 

 

Lensing bietet zu einigen Werken von Vacchini detaillierte Beschreibungen, die aber – weil Pläne und Aufnahmen weitgehend fehlen – kaum nachvollziehbar sind. Vermutlich war dies auch die Absicht des Autors, eine Monografie jenseits des Mainstreams zu verfassen, somit ein Buch mit Verzicht auf verführerische Farbaufnahmen im XXL-Format und präzise Konstruktionsskizzen, um die Leser zu einer aufwändigen Lektüre des Gesamtschaffens von Vacchini zu zwingen. Das entspricht der Arbeitsweise von Vacchini, dem es offensichtlich nie leicht fiel, ein Projekt locker aus dem Ärmel zu schütteln. Er war ein Zweifler, der mit sich rang und unter der Last der Geschichte litt, gleichwohl auf sie angewiesen war.

 

 

Till Lensing (BUK ETH Zürich)

Livio Vacchini

232. S., Parks Books Zürich 2015

CHF 69

978-3-906027-90-6

 

 

L&K-Architekturtipp 

 

 «Astana – Kasachstan»

 

 

Die Expo 2017 findet in Astana statt. Dann wird die Hauptstadt Kasachstans gerade mal 20 Jahre alt sein: vor 1997 war sie nichts anderes als ein kleines Provinznest in der Steppe. Nicht nur kasachische Architekten setzen sich hier mit ihren phantasievollen Entwürfen ein Denkmal. Auch internationale Superstars entwerfen spektakuläre Bauten in der Stadt und im Expo-Viertel. Architektonisch sind hier Experimente wie in keiner anderen Stadt möglich, auf einen historischen Bestand muss dort niemand Rücksicht nehmen. Seit der Gründung wurde so viel gebaut, dass es Stoff für ein ganzes Buch liefert.

 

 

Der Architectural Guide Astana dokumentiert 80 ausgewählte Bauten und Projekte in der jungen kasachischen Metropole. Er zeigt die Vielfalt und die Widersprüchlichkeit zwischen orientalischer Traditionsfindung, westlichen Vorbildern und sowjetischem Einfluss. Zugleich versteht sich diese Publikation als eine zeitkritische Analyse der Architektur und Hauptstadtplanung im Zentrum Eurasiens. Ehemals ein Vorposten des Zarenreiches in der Steppe, entwickelte sich der Ort zu einer typisch sowjetischen Provinzstadt. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 wird Kasachstan von Nursultan Nasarbajew regiert. Er machte Astana 1997 zur Hauptstadt des jungen Landes. Nicht zuletzt dank sprudelnder Einnahmen aus dem Ölgeschäft wachsen seitdem Bevölkerung, Wirtschaft und Bautätigkeit unaufhörlich. Neben dem alten Zentrum entsteht die Neustadt nach dem Masterplan von Kisho Kurokawa. Globale Akteure wie Norman Foster, Massimiliano Fuksas, SOM oder Rem Koolhaas beteiligen sich an diesem einzigartigen Versuchslabor.

In insgesamt sechs Kapiteln erfahren Leser viel Wissenswertes über eine widersprüchliche und vielfältige, aber noch recht unbekannte Stadt. Interviews mit Protagonisten wie mit dem Chefredakteur der (einzigen) Architekturzeitschrift Kasachstans Timur Turekulow oder mit dem 2007 verstorbenen Kisho Kurokawa über den Masterplan von Astana bereichern das Buch um persönliche Aspekte und interne Sichtweisen. Ein Kapitel widmet sich der Weltausstellung und seiner Architektur, auch im kultur- und architekturhistorischem Kontext. Indem sich die Autoren und ausgewiesenen Kenner Kasachstans, Philipp Meuser, Adil Dalbai und Guido Herz der Architektur der Stadt annähern, schaffen sie ein differenziertes Portrait einer Stadt in einem Land, das von Gigantomanie und rasanter Entwicklung auf der einen, von Umweltzerstörung und Armut auf der anderen Seite geprägt ist.
Amid the endless plains of Kazakhstan, an extraordinary architectural experiment has arisen: Astana. Formerly an outpost of the Tsarist Empire in the barren steppe, the location had developed into a typical Soviet provincial town. However, both internationally renowned and local architects are now designing spectacular and unique buildings in this dynamic city.

 

Furthermore, Astana will host the Expo 2017 which will take place only twenty years after the city was built in the steppe alongside the old centre. The «Astana Architectural Guide» documents eighty diverse buildings and projects in the Kazakh metropolis, which was masterplanned by Kisho Kurokawa, and examines the contradictory nature at play within oriental traditions, western models and Soviet influences. Therefore, this publication represents a critical analysis of architecture and capital city planning in the centre of Eurasia.

 

Astana
Architectural Guide

Philipp Meuser (ed.)

DOM publishers Berlin, 2015

134 × 245 mm, 224 pages, 400 images, Softcover

€ 38.
ISBN 978-3-86922-406-0 (English)

 

 

 

Basler Architekten des Klassizismus und Historismus

Von Simon Baur

 

Nach ihrem erfolgreichen Buch Architekten des Fin de Siècle: Bauten in Basel um 1900, 2012 erschienen, stellt Rose Marie Schulz-Rehberg mit Architekten des Klassizismus und Historismus. Bauen in Basel 1780-1880, eine Bauepoche vor, die im Basler Stadtbild noch sehr präsent ist.

 

 

Architektur zeigt Fortschritt
Die Jahre zwischen 1780 und 1880 waren eine Zeit des technischen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Umbruchs, der sich bis heute auch in der Architektur ablesen lässt. Die damals tätigen Architekten interessierten sich sowohl für die klassizistische wie auch die romantische Kunst, beide Strömungen lassen sich in ihrer Architektur ablesen, beispielsweise in Christoph Riggenbachs neogotischem Treppenhaus der Allgemeinen Lesegesellschaft. Antikenrezeption und Religion wurden für Kunst und Architektur interessant. Impulsgeber war der Verleger und Kunsthändler Christian von Mechel, der über beste europäische Kontakte verfügte. Er hatte sich 1767 in Rom mit Winckelmann angefreundet, Goethe und Herzog Carl August von Sachsen-Weimar, aber auch der österreichische Kaiser Joseph II besuchten ihn in seinem Haus an der St. Johanns-Vorstadt. Nur langsam erholte sich die Bautätigkeit, die durch die wirtschaftliche Stagnation in Folge der Napoleonischen Kriege zum Erliegen kam. Ab den 1820er-Jahren erfolgte der neue Aufschwung, die Stadt erstellte weitere öffentliche Gebäude, neue Sakralbauten entstanden und als Folge der Industrialisierung erlebte auch die private Bautätigkeit einen neuen Höhepunkt. Architekten wie Melchior Berri, Johann Jakob Stehlin der Ältere und der Jüngere Amadeus Merian und Christoph Riggenbach prägten das Stadtbild mit Bauten, die bis heute erhalten sind. Sie alle werden in der neuen Publikation, die interessanterweise nach Architekten und ihren Werken geordnet ist, vorgestellt. Das Buch ist ein Architekturführer und ein Lesebuch, das zur Wissenserweiterung beiträgt.

 

 

Klassizistische Stadt
Wer im Buch blättert, ist überrascht wie viele Beispiele sich aus diesen Architekturepochen erhalten haben und heute glücklicherweise unter Schutz stehen. Die Erweiterung des Rathauses, das Naturhistorische Museum, das Restaurant Warteck am Messeplatz, die alte Kaserne am Rhein, die alte Universität am Rheinsprung, die Synagoge an der Leimenstrasse, sowie Verwaltungsgebäude, Villen und Mehrfamilienhäuser gehören dazu. Oft weisen die Gebäude helle Fassaden auf, sind klar strukturiert und proportioniert und vernachlässigen dennoch die zahlreichen Details wie Reliefs, Kapitelle, Säulen nicht. Selbst Nischenbrunnen und freistehende Brunnen und sogar der stadtbekannte Basler-Dybli-Briefkasten taucht in diesem wichtigen Kompendium auf.

 

 

Für wen geschrieben?
Es ist ein Buch für Architekturinteressierte wie für Kunstfreunde, für Menschen die sich für die baugeschichtliche Entwicklung der Stadt Basel interessieren und für Spaziergänger, die sich nicht mit Fassaden begnügen. Stadtpläne, Werkkataloge zu den einzelnen Architekten, ein Namen-, sowie ein Strassen- und Ortsverzeichnis erleichtern die Orientierung und ermöglichen Entdeckungen. Darüber hinaus ist das Buch ein Kleinod, das jedes bibliophile Herz höher schlagen lässt: ein handliches Format gehören genauso dazu wie gut lesbare Schriften, eine grosszügige Gestaltung und der altbewährte Lesebändel, der die entspannte Fortsetzung der Lektüre nach dem Nickerchen ermöglicht. Und auch die Abbildungen sind hervorragend, gross genug, um auch Einzelheiten zu erkennen und nicht nur im Winter, der beliebtesten Jahreszeit für Architekturfotografie, sondern auch in anderen Jahreszeiten aufgenommen. Das verständlich geschriebene Buch ist ein wichtiges Kompendium zur Stadtgeschichte und eignet sich zudem als willkommenes Geschenk für Weihnachten, die bald schon vor der Türe steht.

 

 

 

Rose Marie Schulz-Rehberg

Architekten des Klassizismus

und Historismus.

Bauen in Basel 1780-1880.

Christoph Merian Verlag, Fr. 39.-.

 

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