FRONTPAGE

«David Lynch ist mehr als seine Filme – er hat sich selbst zur Kunstfigur stilisiert»

Von Marion Löhndorf

 

Der amerikanische Regisseur versteht sich meisterhaft auf die Selbstinszenierung. Er verbindet ostentative Offenheit und obskure Anekdoten zu einer schwer fassbaren Eigenart. David Lynch schafft es, im Gespräch zu bleiben, obwohl er seit dreizehn Jahren keinen Film mehr gedreht hat.

Das Sonderbare und Bizarre, das Unsichtbare und Surreale haben David Lynch schon immer angezogen. Nicht nur in seinen Spielfilmen oder der bahnbrechenden «Twin Peaks»-Produktion, die das Potenzial von Fernsehserien auf eine ganz andere Ebene hob, sondern auch in seinem Werk als bildender Künstler, Designer und Musiker. Über alle Formen breitet er den Mantel seiner ganz speziellen Finsternis.

«Was die Oberflächen zeigen, ist nur ein Teil der Wahrheit. Darunter steckt das, was mich am Leben interessiert: die Dunkelheit, das Ungewisse, das Erschreckende, die Krankheiten», sagte Lynch einmal. Wie kann einer mit so einem ausgeprägten Sinn für das, wovon die Gesellschaft sich normalerweise abwendet, Erfolg bei so vielen Zuschauern haben?

 

Das Ohr im Gras

Eine Antwort könnte lauten: Es macht einfach Spass, wenn einen David Lynch das Fürchten lehrt. Wie raffiniert er uns über den giftgrünen, aber perfekt manikürten Vorstadt-Rasen führt, auf dem einen der Schlag treffen oder wo ein menschliches Ohr verborgen liegen kann! Man ahnt oder weiss ja, wie es um die makellosen Fassaden bestellt ist – und dass es mit der heilen Welt dahinter meist nicht weit her ist. Niemand führt den Beweis dafür so schrecklich und so schön wie Lynch in seinem Klassiker «Blue Velvet». Oft liegt schwarzer Humor in seinen Übertreibungen und surrealistischen Phantasien; aber so versteckt wie das Ohr im Gras.

Hoch ist der Reiz seiner künstlerischen Verwirrspiele, die auf vielen Ebenen diskutiert werden können. Die Entschlüsselung seiner kryptischen Werke entfacht detektivischen Ehrgeiz, die Verrätselungen lassen seit Jahrzehnten Interpreten-Herzen höherschlagen und laden dazu ein, ihn aufs Podest der Unsterblichen zu heben. Je unwirtlicher ein Werk, desto ehrgeiziger erscheint die Mission, es zu interpretieren. Dass Lynch sich dessen bewusst ist und auch anders kann, zeigte er 1999 in «A Straight Story», die genau das erzählte: eine geradlinige Geschichte, in der ein Mann auf sehr geradlinigen Strassen mit einem Rasenmäher unterwegs ist.

 

 

Zum Lynch-Mythos gehört, dass er kein Geheimtipp für Eingeweihte ist, keiner, der still vor sich hin filmt, hinter der Kamera oder seiner Kunstproduktion verschwindet. Im Gegenteil: Jeder Filmfan kennt sein Gesicht, den dichten, inzwischen grauen Haarschopf und seine immer bis oben zugeknöpften Hemden, die inzwischen wieder in Mode gekommen sind. Er sieht aus, als sei er aus einem Fünfziger-Jahre-Film in die Gegenwart gewandert, mit der grossen Selbstverständlichkeit, die das wesentliche Merkmal wahrer Coolness ist.

David Lynch besitzt ein Gesicht und eine Stimme, die über die Essenz seines Werks hinausreichen. Da ist die langsame, fast schleppende Sprechweise, die Pointen oder das Ende einer Geschichte verzögert, Sätze an ungewöhnlicher Stelle betont und irgendwie immer Ominöses anzudeuten scheint. Zwischen den Pausen öffnen sich Abgründe. Mit grosser Selbstverständlichkeit und Einfachheit erzählt er seine oft merkwürdigen Anekdoten, in denen, wie in seiner Kunst und in seinen Filmen, das Unheimliche und das Alltägliche kollidieren. Er stilisiert sich gerne selbst, ist ein Künstler, der seine Grösse lebt.

 

 

Kultfigur und Kommunikationsgenie

Wie viele dieses Typs und Kalibers gibt es überhaupt noch? Der Dokumentarfilm «David Lynch – The Art Life» (2017) stellt genau dies aus, die Marotten, das ewige Kaffeetrinken, das der Regisseur auch in «Twin Peaks» ausgiebig zelebriert, das Zigarettenrauchen, die schrankenlose Kreativität und die Unlust, das Haus in den Bergen von Hollywood zu verlassen. (Häuser sind grosse Themen seiner Bilder und seiner Filme.) Der Maestro ist ein gesuchter Interview-Partner, endlos zitierbar, er ist zugleich Kultfigur und Kommunikationsgenie.

Die ganz spezielle Technik seiner Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache liegt in einer Mischung aus scheinbarer Offenheit und obskuren Anekdoten. Er hat den Finger am Puls der Zeit, lässt sich jedoch nicht von ihr vereinnahmen. Einerseits weiss Lynch ganz genau, was in der Welt vor sich geht (über den Brexit: «Es ist ein schreckliches Desaster.»), aber spricht zugleich von der «sogenannten» Realität. Seine Arbeit widmet er der Beweisführung, dass die Welt ein wundersamer, romantischer, oft grausamer und rätselhafter Ort sei.

David Lynch hat geschafft, im Gespräch zu bleiben, obwohl er seit dreizehn Jahren keinen Film mehr gedreht hat. Sein Schwerpunkt gilt nun der Malerei, seiner ersten Liebe, die ihn als junger Mann packte: «Ich hatte die Idee, Kaffee zu trinken, Zigaretten zu rauchen, zu malen, und das wars.» Grosse Retrospektiven in der Fondation Cartier in Paris (2007) und in diesem Jahr im Bonnefanten Museum in Maastricht runden den Lynch-Kosmos ab: Egal, wie der Vielbegabte sich äussert, immer fügt sich alles irgendwie stimmig in seiner schwer zu fassenden Art zusammen.

 

 

Werkschau in Manchester

Den ganzen Lynch präsentiert diesen Sommer eine grosse Werkschau des Manchester International Festival, das mit zahlreichen Veranstaltungen aus aller Welt zu einer der grössten Kulturveranstaltungen in Grossbritannien geworden ist. Eine Galerie im 2015 eröffneten Home-Kunstzentrum wird unter dem Titel «My Head Is Disconnected» bis Ende September die erste grosse Rückschau seiner zahlreichen Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen auf britischem Boden präsentieren.

Auf der Bühne werden Lynch-Kollaboratorinnen wie die Sängerin Chrysta Bell von Lynch inspirierte Musik vortragen. Ebenfalls werden seine Filme zu sehen sein. Von ferne aus Hollywood soll der Meister selbst sich per Video-Zuschaltung melden und unter anderem über eines seiner Herzensanliegen sprechen, die transzendentale Meditation.

 

 

Subversivität und Mainstream

Schon die Ankündigung der üppig angelegten Würdigung in Manchester zeigt die Bandbreite von Lynchs Schaffen. Seine Interessen sind interdisziplinär angelegt, seine Lust gross, die Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur, zwischen subversiven Einflüssen und im Mainstream angelangten Strömungen aufzunehmen. Lynchs Werk lässt sich wie ein Kosmos durchschreiten. Schon in seinem ersten Film «Eraserhead» freute sich der Regisseur darüber, sein ganz eigenes Bezugssystem erschaffen zu können: «Ich wollte nirgends mehr sein auf dieser Welt, nur noch in meiner Welt.»

Wie sehr die Dinge bei Lynch ineinander übergehen, zeigt auch sein Klub Silencio, den er 2011 in Paris ins Leben rief: Über eine schmale Treppe zu erreichen, lag er metertief unter der Erde. Schon der Abstieg in die, wie sich dann zeigte, exklusive Unterwelt, liess Überraschendes erwarten. Der Mitglieder-Klub war von einem gleichnamigen fiktionalen Ort in seinem Film «Mulholland Drive» (2001) inspiriert.

Jedes einzelne Objekt in diesem Etablissement hatte Lynch selbst erdacht oder ausgesucht, von den schwarzen Toilettenschüsseln bis hin zu den von ihm gestalteten Möbeln. Selbst die Stühle sollten, so Lynch, ein «spezifisches Stadium der Wachheit gegenüber dem Unbekannten» fördern. Stück für Stück baute er sich auch dort wieder, was er liebte: ein eigenes Universum.

 

Ausstellung: David Lynch at Home als Teil des Manchester International Festival 2019, bis 29. September.
Bild: Matt Rourke / AP)

 

 

Erstveröffentlichung NZZ 18.7.2019 mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

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