Das Ensemble "Die zehn Gebote" in der Schiffbauhalle, Foto © Matthias Horn
Am Fuss der berühmten Altarwand der Sixtinischen Kapelle, Foto © Matthias Horn
Rea Claudia Kost vor der monströsen Plattenbausiedlung, Foto © Matthias Horn
Marie Rosa Tietjen als Jeanne d'Arc
Edmund Telgenkämper, Marie Rosa Tietjen
"Meer" von Jon Fosse. Ensemble. Foto © Matthias Horn
"Meer" von Jon Fosse, Stefan Kurt. Foto @ Matthias Horn
«Die Zehn Gebote im Schiffbau: Eine fulminante Schaubühne»
Von Ingrid Isermann
Krzysztof Kieślowski (1941-1996 in Warschau) hat mit seinem Werk «Dekalog» 1988 einen legendären Filmzyklus zu den Zehn Geboten realisiert. In der Schiffbauhalle zeigt die Regisseurin Karin Henkel in der Mitarbeit von John von Düffel und der Dramaturgin Stefanie Carp aus Kieślowskis Vorlage einen brisanten Themenbezug zu den existenziellen Fragen Schuld und Sühne, Glaube und Zweifel, Liebe und Tod, Besitz und Verlust, Sicherheit und Erschütterung.
Nein, dies ist kein gewöhnlicher Theaterabend, wir wechseln mehrmals Schauplätze und Perspektiven und alles bekommt man im vierstündigen Theaterabend trotzdem nicht zu sehen, so wie im richtigen Leben. Wir werden nach den Buchstaben A, M, E, N wie Amen in verschiedene Gruppen eingeteilt. Das Publikum begegnet den Figuren und Geschichten auf einer Wanderung durch die inneren und äusseren Räume einer existenziellen Topografie, die in den Räumlichkeiten der Schiffbauhalle eine eigene Realität und Präsenz gewinnt. Welche Gebote und Verbote bestimmen unser Leben? Auf welche Werte und Tabus gründet sich unsere Gesellschaft? Und in welche Widersprüche und moralischen Konflikte verstricken sie uns?
Das Leben der anderen
Mit der Gruppe A begeben wir uns in ein Grossraumbüro mit Bildschirm und Kopfhörern, auf dem Schreibtisch liegt ein Abhörprotokoll und erinnert an den Film «Das Leben der anderen» in der DDR. Wir sind Zeuge, wie ein junger Mann (Nils Kahnwald) eine Frau bespitzelt, ihr zuschaut, wie sie in ihrer Wohnung den Freund küsst und wie es dem Bewacher schwerfällt, seine Emotionen zu zügeln. Eine starke Präsentation, die unter die Haut geht. Was machen Voyeurismus und Hybris mit den Menschen in einer oft grotesken Welt? Ein anderer Raum im Keller ist eine Krankenstation, auf dem Bett liegt ein schwerkranker Mann (Christian Baumbach), dem seine Frau gesteht, dass sie das Kind eines anderen erwartet.
Was bleibt von einem Menschen?
In der Schiffbauhalle mit grossformatigem Christus-Porträt von Michelangelo aus der Sixtinischen Kapelle, fragt der kleine Pawel seinen Vater: «Warum sterben die Menschen und was ist der Tod?». Der Vater sagt, schlag im Lexikon nach. Da steht nichts, sagt Pawel, aber in den Todesanzeigen steht etwas von Seelenruhe. Das ist nur eine Redewendung, sagt der Vater. Pawel will auf dem Teich schlittschuhlaufen, aber das Eis ist noch nicht dick genug. Morgen kannst du gehen, sagt der Vater, aber nicht nicht näher als 15 Meter, wo der See in den Fluss übergeht. Am Abend kommt das Kind nicht nachhause, der Vater ist beunruhigt und denkt daran, dass Pawel ihn zwei Tage vorher fragte: «Wenn es keine Seele gibt, was bleibt dann von einem Menschen, wenn er tot ist?» Erinnerungen, sagt der Vater. Vor dem See stehen Feuerwehrmänner, sie stochern mit langen Brandhaken im Wasser und holen einen klammen, kleinen Kinderkörper nach oben, es sind drei. Es war ein unglücklicher Zufall, sie hatten warmes Wasser aus der Fabrik in den See geleitet, sodass das Eis unvorhergesehen brach.
Es geht um Glück und Liebe
Es gehe nicht um die Freiheit, sagte Kieślowski, es geht um Glück und Liebe. Er stelle lieber ethische Fragen, statt zu moralisieren und zu predigen, die zehn Gebote werden philosophisch beleuchtet und das Ende bleibt offen. Die realsozialistischen Plattenbauten mit den einsam leuchtenden Fenstern geistern über die riesige Leinwand (Video Hannes Francke). Die fetzige Band City Death mit Leadsänger Milian Zerzawy, der in verschiedenen Rollen auftritt, und mit Marc Hemantha Hufschmid am Schlagzeug und Hipp Mathis am Bass elektrisieren das Publikum, u.a. mit ‚Everybody Wants To Rule The World’ von Tears for Fears oder ‚Imagine‘ von John Lennon. Der Klassik-Sound, u.a. von Schumanns Mondnacht, Mozarts La crimosa, Händels Dixit dominus oder Mahlers Urlicht trägt über die verschiedenen Episoden, bevor es weitergeht zum nächsten Dekalog.
Der Mensch ist frei
Der Vater ist gestorben und seine beiden Söhne (Milian Zerzawy, Fritz Fenne) sollen das Erbe antreten. Sie streiten sich um die Hinterlassenschaft, ein windiger Verkäufer (Gottfried Breitfuss), der gleichzeitig auch einen Wachhund markiert, stellt sich zur Verfügung, das Erbe zu verramschen. Die Szenen sind inmitten der menschlich-tragischen Vorkommnisse unnachahmliche Slapstick-Highlights.
Abschliessend ist die Freiheit für Jacek (Nils Kahnwald), einem von allen herumgeschubsten Verwahrlosten, der scheinbar grundlos einen Taxifahrer umgebracht hat, zu Ende. Er rapportiert die Tat ohne Gemütserregung, bis sich die Schlinge um seinen Hals zuzieht. Du sollst nicht töten, hier wird das Gebot vollzogen. Zum Schluss skandieren die Henker «Der Mensch ist frei».
Der gesellschaftliche Umbruch, den wir heute erleben mit neoliberaler Ökonomie und überwältigenden Flüchtlingsströmen, erfordert eine Neubewertung der Werte, dessen, was uns gemeinsam wichtig ist.
Eine eindrückliche Aufführung des Ensembles, wie man sie in dieser Form noch kaum im Schiffbau sehen konnte und zugleich auch gefeierte Premiere für Stefanie Carp, die als Chef-Dramaturgin Christoph Marthalers nun nach einigen Jahren als freie Gast-Dramaturgin für den Dekalog ans Schauspielhaus Zürich zurückkehrt.
Die zehn Gebote
nach Krzysztof Kieślowski und Krzysztof Piesiewicz
Bearbeitung John von Düffel
Regie: Karin Henkel
Bühne: Stéphane Laimé
Kostüme: Klaus Bruns
Musik: Daniel Regenberg
Video: Hannes Francke
Licht: Michel Güntert
Dramaturgie: Stefanie Carp
Premiere am 24. September 2015 im Schiffbau/Halle
Infos: www.schauspielhaus.ch
Karin Henkel, *1970 in Köln, arbeitet u.a. am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, am Schauspiel Frankfurt und regelmässig am Schauspielhaus Zürich (sie inszenierte hier u.a. «Elektra» in der Schiffbauhalle). Fünf Mal wurden ihre Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen, darunter ihre Zürcher Produktion «Amphitryon und sein Doppelgänger», die auch in der Kritikerumfrage der Zeitschrift «Theater heute» zur Inszenierung des Jahres gewählt wurde. 2015 brachte sie am Schauspielhaus Zürich «Roberto Zucco» auf die Bühne.
«Schauspielhaus Zürich: Die Jungfrau von Orleans als Gotteskriegerin»
Was bedeutet Theater, wenn die Realität die Fiktion überholt? Wenn Schreckensmeldungen über Kriege und Flüchtlinge täglich dominieren? Muss Johanna von Orleans dann martialisch blutverschmiert dargestellt werden und in T-Shirt und Turnschuhen mit blitzendem Schwert in der Hand auf die Bühne tapsen? Regisseur Stephan Kimmig inszeniert seine Johanna als Gotteskriegerin.
Theater sollte Wirklichkeit kenntlich machen, dass man die Realität um sich vergisst. Die Protagonistin der heiligen Johanna (Marie Rosa Tietjen) wirkt wie ein Schulmädchen, das ihre Verse aufsagt, die schön, aber etwas aufgesetzt klingen, die nicht aus dieser Zeit, wohl aber von dieser Welt sind. Dazu passt, dass ein Epilog mit einem ThinkTank und einem lakonischen Text des Schriftstellers Peter Stamm die gewaltige Zukunft der Investitionskraft der Versicherungen in den Terrorismus bekräftigt, ein weites Feld. Und um das Ganze zu extrapolieren, wird der Gender-Touch in Richtung Transmenschen bemüht, der die Isolation des Mädchens in einer Männerwelt aufzeigen soll. König Karl (Wolfgang Pregler) in Frauenrobe ist von Johanna beeindruckt.
Bühne frei für das Schlachtfeld, das sich als kreisender weisser Vorhang entpuppt, auf den die Kampfszenen und ihre Helden (Michael Neuenschwander Edmund Telgenkämper, André Willmund) projiziert werden. Zunächst vermutete man, dieses Bühnenbild sei in vorauseilendem Gehorsam aus Spargründen entstanden, will doch die liberale Fraktion im Gemeinderat zukünftig auch die Subventionen um zwanzig Prozent an Schauspielhaus und Opernhaus kürzen, wenn überall gespart werden müsste.
Johanna also in der Männerwelt. Ist so. Auf dem Schlachtfeld als Kriegerin ist sie die einzige Frau. Die Apotheose einer Frau, ausser der Jungfrau Maria, kann natürlich erstmal nicht sein. In Schillers Tragödie wird sie im Endspurt als Ketzerin verdammt und getötet. Das sieht man hier nicht. Als sie dem englischen Heerführer Lionel begegnet, versagt ihr die Kraft zu töten, weil sie liebt. Auch eine Fiktion. Aber ihre Verzweiflung zum Schluss: «Kein Gott erscheint, kein Engel zeigt sich mehr. Die Wunder ruhn, der Himmel ist verschlossen». Zum Trost erklingt Johann Sebastian Bachs Duett «Herr, dein Mitleid, dein Erbarmen» mit Triangel und Trompete aus dem Weihnachtsoratorium. Das klingt in den Ohren und bleibt in Erinnerung.
Vielleicht sollte man auch wieder einmal den originalen Text lesen. Die Story der Jeanne d’Arc: 1429 während des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich taucht ein lothringisches Bauernmädchen mit göttlichem Sendungsbewusstsein im französischen Lager auf und führt die Franzosen zum Sieg und ihren Kronprinzen Karl VII. zur Krönung nach Reims. Am 30. Mai 1431 wurde Jeanne d’Arc im Alter von 19 Jahren auf dem Marktplatz von Rouen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. 24 Jahre später strengte die Kurie einen Revisionsprozess an, in dem das Urteil aufgehoben und Jeanne zur Märtyrin erklärt wurde. Im Jahr 1909 wurde sie von Papst Pius X. selig- und 1920 von Papst Benedikt XV. heiliggesprochen. Ihr Gedenktag ist der 30. Mai. An diesem Tag gedenkt man ihrer auch in der Church of England.
Die Jungfrau von Orleans
von Friedrich Schiller
mit einem Text von Peter Stamm
Regie: Stephan Kimmig
Bühne: Katja Hass
Kostüme: Johanna Pfau
Musik: Michael Verhovec
Video / Live-Kamera: Julian Krubasik, Lambert Strehlke
Mit Klaus Brömmelmeier, Michael Neuenschwander, Wolfgang Pregler, Edmund Telgenkämper, Marie Rosa Tietjen, André Willmund
Premiere: 25. September 2015 im Schauspielhaus Zürich
Weitere Veranstaltungen: www.schauspielhaus.ch
Stephan Kimmig, geboren 1959 in Stuttgart, arbeitet u.a. am Deutschen Theater Berlin, an den Münchner Kammerspielen, am Wiener Burgtheater, am Staatstheater Stuttgart und an der Bayerischen Staatsoper München. Neben regelmässigen Einladungen zum Berliner Theatertreffen, darunter «Thyestes»‚ «Nora» und «Maria Stuart», erhielt er u.a. den Wiener Nestroy-, den Rolf-Mares- und den Faust-Preis sowie zusammen mit der Bühnenbildnerin Katja Hass den 3sat-Innovationspreis für zukunftsweisende Leistungen im Deutschen Schauspiel für «Maria Stuart». Mit seiner Inszenierung von «Jungfrau von Orleans» stellt er sich zum ersten Mal dem Zürcher Publikum vor.
«Schauspielhaus Zürich: Das Meer – Spiel mit Nähe und Einsamkeit»
Soviel Meditation war selten auf der Bühne. Die Stille, das Schweigen, gedämpftes Licht, an den Wänden links und rechts die gleichen Bilder eines Meeres mit Segelschiff, davor stehen einige Bänke im Raum.
Ein Mann mit ernster Miene (Stefan Kurt) setzt sich auf eine Bank: «Ich bin der Kapitän». Zu ihm gesellt sich ein junger Mann (Jirke Zett): «Ich bin Gitarrenspieler». «Wo sind wir? Wir sind auf dem Meer. Sind wir allein? Ja, nur wir beide. Sonst ist da niemand». Doch, es kommen weitere Personen dazu, tauchen auf wie aus dem Nichts. Die ältere Frau (Susanne-Marie Wrage) geht auf ihren Mann (Hans Kremer) zu, der wie abwesend im Raum steht und sagt: «Du bist mir fremd». Eine junge Frau (Henrike Johanna Jörissen) wird von einem jungen Mann (Claudius Körber) angesprochen: «Wir kennen uns, wir sind uns schon mal begegnet».
Die Dialoge, sparsam und wortkarg, ruhig und gelassen, deuten auf Vages hin, auf Unsichtbares, bewegen sich auf metaphysischen Ebenen. Jeder könnte sich in diesen Worten irgendwie irgendwo wiedererkennen. Es sind Sätze, die man kennt, die nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben, aber durch ihre Wiederholung an Tiefe gewinnen, an Unbedingtheit, an Schärfe. «Ist das hier woanders?». «Wir sind auf dem Meer. Das Meer ist einfach etwas was ist».
Die Stücke des preisgekrönten norwegischen Autors Jon Fosse (*1959) sind prallvoll mit Assoziationen und Andeutungen. Die lakonische Sprache, die leise Zwischenräume öffnet, erinnert an den minimalistischen amerikanischen Lyriker Robert Lax. Die Wahrnehmungen der einzelnen Personen widersprechen sich und oszillieren um Fragen wie: «Wo sind wir hier? Sind wir wach oder träumen wir? Können wir nicht weggehen von hier?» Oder: «Verlass mich nicht». Das Bühnenbild unterstreicht den meditativen Gesamteindruck, dass es im Grunde nicht viele Worte zwischen Erinnern und Vergessen braucht, um die existenziellen Themen anzugehen. Ob wir allein sind oder zu zweit, ob wir verlassen oder verlassen werden, wo wir uns befinden, ob auf dem Meer oder in einem Meer der Gefühle, suggeriert der Text im Gleichklang mit dem beeindruckenden Bühnenbild (Muriel Gerstner) in der Regie von Schauspielhaus-Intendantin Barbara Frey.
Premiere: 17. Oktober 2015 im Pfauen
Meer von Jon Fosse
Regie: Barbara Frey
Bühne: Muriel Gerstner
Kostüme: Bettina Walter
Licht: Rainer Küng
Dramaturgie: Amely Joana Haag
Regieassistenz: Jörg Schwahlen
Bühnenbildassistenz: Simon Sramek
Kostümassistenz: Marcus Karkhof
Inspizienz: Aleksandar Sascha Dinevski
Soufflage: Geebi
Weitere Veranstaltungsdaten: www.schauspielhaus.ch