FRONTPAGE

«Der Äppärätschnik»

Von Sacha Verna

In seinem dritten Roman schildert Gary Shteyngartein New York, in dem selbst die erlösende Kraft der Liebe keine Chance mehr hat gegen Konsumterror und totale Technologisierung. Ein Gespräch mit dem gefeierten russisch-amerikanischen Autor über die Zukunft des Lesens, den literarischen Wettlauf mit der Zeit und Lammburger.

 

Zuerst war der Äppärät, dann kam das iPhone. Zuerst war GlobalTeens, dann kam Facebook. Und natürlich war zuerst Gary Shteyngart, und dann kam “Super Sad True Love Story”, Shteyngarts in den USA gefeierter dritter Roman, der unheimlich gegenwärtig wirkt, obgleich er in einem New York der Zukunft angesiedelt ist.

 

Die super traurige wahre Liebesgeschichte ist die von Lenny Abramov, Sohn russischer Einwanderer, und Eunice Park, Tochter koreanischer Einwanderer. Lenny ist alt (fast vierzig!) und hoffnungslos altmodisch (Er liest noch Bücher! Er führt noch Tagebuch!). Eunice ist jung und eines jener konsumgeilen, technisch versierten und permanent textenden Wesen, die, so wie es aussieht, demnächst tatsächlich die Mehrheit der begüterten Menschheit stellen werden. Allerdings ist Eunice ein bisschen sensibler und schlauer aus der Rest und allein deshalb eher ein Fall für den Psychiater als für Lenny. Lenny und seine Angebetete finden und vernetzen sich in einer Welt, in der man mittels des Äppäräts jederzeit alles über jeden erfahren kann, vom Stand des Bankkontos bis zur sexuellen Verfügbarkeit. Kommuniziert wird online und vorzugsweise in Akronymen. Amerika ist bankrott, und das nicht nur in finanzieller Hinsicht.

 

“Die Gegenwart hat mich überholt”, sagt Gary Shteyngart. Der 39-Jährige sitzt in kariertem Hemd und Khaki-Shorts in seinem Wohnzimmer, von dem aus man einen prächtigen Blick über die Dächer des New Yorker Nobelviertels Gramercy Park hat. Eine Wand nimmt ein Bücherregal ein. Denn wie sein Protagonist liest Shteyngart noch echte Bücher. Vor allem russische Klassiker und die amerikanischen Grossen wie Saul Bellow und Philip Roth. Als Schriftsteller ist er sich Anachronismen gewohnt: “Wer heute über morgen schreibt, kann von Glück sagen, wenn das Geschriebene beim Erscheinen nicht von gestern ist. Dieses Problem hatten Schriftsteller früher nicht.”

 

Die Literatur musste früher auch nicht mit unzähligen anderen Formen der Unterhaltung konkurrieren. Den Kampf wird sie verlieren, davon ist Shteyngart überzeugt. Dabei unterrichtet er selber an der Columbia University kreatives Schreiben. “Wir werden einen Punkt erreichen, wo es mehr Schriftsteller gibt als Leser”, so Shteyngart. Die Kultur der Selbstdarstellung und Seelenentleerung kennt keine Grenzen. Die Aufmerksam-keitsspanne des vernetzten Individuums hingegen schon. Sollten Shteyngarts Prophezeiiungen zutreffen, wird die Lektüre seriöser Literatur wieder zum Zeitvertrieb einer Elite, ganz so, wie es anfangs war.

 

Als Gary Shteyngart 2002 seinen ersten Roman “Handbuch für den russischen Debütanten” veröffentlichte, wollte er damit freilich mehr als eine Elite erreichen. Er hatte Politik-wissenschaften studiert und bis dahin Bürojobs versehen. Jetzt wollte er viel Aufmerksamkeit und viel Geld. Die Aufmerksam-keit erhielt er. Das Geld liess auf sich warten. “Snack Daddys abenteuerliche Reise” (2006) erwies sich da schon als einträglicher. Zumindest gemessen an der Zahl der Lammburger, die er sich auf Kosten des Verlags bei Xi’an Famous Foods genehmigte, einem jener Etablissements, in denen sich Shteyngart auf seinen ausgedehnten sonntäglichen Streifzügen durch Manhattan mit gerne verpflegt.

 

Die beiden Romane, aberwitzige Wild-Ost-Abenteuer, brachten ihrem Autor den Ruf ein, Fachmann für Immigration, Russisches und Jüdisches zu sein. Shteyngart, der in Leningrad geboren wurde, mit sieben Jahren mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten kam und in Queens aufwuchs, regt sich über derlei Etiketten nicht übermässig auf. Nur vom Osten hatte er die Nase voll. “Super Sad True Love Story” spielt ausschliesslich in New York. Er habe immer geglaubt, Russland würde mehr wie die USA werden, sagt Shteyngart: “Stattdessen fallen nun beide Länder auseinander. Die Politiker sind korrupt, die Mittelklasse existiert nicht mehr und die Industrie ist auch verschwunden.” Die symbiotische Beziehung während des Kalten Krieges habe das Funktionieren der beiden Länder garantiert. Wie Amerika nicht mehr funktioniert, schildert Shteyngart in “Super Sad True Love Story”. Darin steht das Land vor einem Bürgerkrieg und Manhattan davor, von einem norwegischen Hedge-Fund gekauft und in ein Spa für Reiche verwandelt zu werden.

 

Er schildert das in Form eines futuristischen Briefromans. Lennys Tagebucheinträge wechseln sich ab mit Eunices Chit-Chat auf GlobalTeens. Erstere folgen traditionellen Erzählmustern, letzteres ist Cyber-Slang. Twittrisch. Newspeak. Die Verweise auf George Orwells “1984” sind deutlich. Die Unterschiede dazu ebenfalls: “In Orwells Roman versucht die Partei die Menschen von ihrer Sprache zu trennen”, sagt Gary Shteyngart. “Wir hingegen entledigen uns unserer Sprache selber und werfen unsere Privatsphäre gleich hinterher.” Wie einst die Religion solle nun die Technologie alle Probleme lösen. Dabei seien wir das Problem.

 

“Super Sad True Love Story” ist ein satirischer Roman. Die Figuren darin sind jedoch mehr als blasse Marionetten, die Shteyngarts Gesellschaftskritik mit dem Alibi eines Plots versorgen. Es sind Karikaturen, gewiss. Aber solche mit Herz und viel Schmerz. Das gilt sogar für Lennys Chef bei der Firma für lebensverlängernde und paramilitärische Dienstleistungen, den Albtraum eines mit Computerchips und Antioxidantien gedopten ewigen Jünglings. Lenny und Eunice gleichen Romeo und Julia im Zeitalter der totalen Technologisierung und des “Ich verbrauche, also bin ich”. Er läuft, metaphorisch gesprochen, analog und sie digital. Mit der erlösenden Kraft der Liebe ist da nix.

 

Gary Shteyngarts eigene romantische Aussichten sind rosiger. Er wird bald seine koreanische Verlobte heiraten. Als Romancier macht Shteyngart eine Pause. Er arbeitet an einem Band mit autobiografischen Essays, von denen einige bereits New Yorker erschienen sind. “Das Schreiben ist bloss eine feinere Art der Nabelschau”, sagt er. Sein iPhone hat während des gesamten Interviews nicht einmal geklingelt. Aber sein Facebook-Konto benötigt jetzt dringend ein Update.

 

 

 

 

Gary Shteyngart gilt als einer der wichtigsten und originellsten Autoren seiner Generation. Er wurde 1972 in St. Petersburg geboren und kam im Alter von sieben Jahren mit seiner Familie nach Queens, New York. Für seine bisher drei Romane – neben “Super Sad True Love Story” “Handbuch für den russischen Debütanten (dt. 2003) und “Snack Daddys abenteuerliche Reise” (dt. 2006) -erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Im vergangenen Jahr landete er zudem auf der prestigeträchtigen Liste der Besten Schriftsteller unter 40 des New Yorker. Shteyngart unterrichtet an der Columbia University kreatives Schreiben und arbeitet als Kultur- und Reisejournalist für Publikationen wie die New York Times, Granta und Travel and Leisure. Er lebt mit seiner künftigen Ehefrau in Manhattan.

 

 

Gary Shteyngart:

Super Sad True Love Story.

Roman aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 448 Seiten.

CHF 30.50/19.95 Euro.

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