Der Migrant hat kein Gesicht, keinen Status, keinen Schutz und keine Geschichte: Er ist eine kollektive Halluzination. FOTO: © URSULA HÄNE PD
«Der Migrant in unserem Kopf»
Von Hanif Kureishi
Eine kollektive Fantasie, die die Welt auf ein Schauermärchen reduziert: Die Figur des Einwanderers ist zum grossen Angstbild unserer Zeit geworden. Der Einwanderer ist in Europa zu einer Passion unserer Zeit geworden, zur Leerstelle, an der Ideale aufeinanderprallen.
Leicht verfügbar als Zeichen, existiert er überall und nirgends, und unablässig wird über ihn geredet. Doch im gegenwärtigen öffentlichen Diskurs ist diese Figur nicht nur von einem Land in ein anderes eingewandert; sie ist auch aus der Wirklichkeit in die kollektive Fantasie eingewandert, wo sie in eine schreckliche Fiktion verwandelt wurde. Der Einwanderer – und ich werde hier die männliche Form benutzen im Bewusstsein, dass er seiner Hautfarbe, seines Geschlechts und seines Charakters beraubt wird – ist zu etwas gemacht worden, das einem Ausserirdischen ähnelt. Er ist ein Exemplar der Untoten, die überfallen, kolonisieren und verseuchen, eine Figur, die wir nie ganz verdauen oder erbrechen können. War das 20. Jahrhundert erfüllt von semifiktionalen, unheimlichen Figuren, die in das Leben der anständigen, aufrechten Arbeiter – der Reinen – eindrangen, so sucht uns jetzt erneut ein solcher Charakter heim, in Gestalt des Einwanderers. Er ist sowohl eine vertraute, hinterlistige Figur wie auch eine neue Ausgabe einer alten Idee, die in einer aufgefrischten, mächtigen Rhetorik geäussert wird.
Wie Zombies in einem Videospiel
Anders als andere Monster lässt sich der fremde Körper des Einwanderers nicht erlegen. Er ähnelt einem Zombie in einem Videospiel, weil man ihn unmöglich töten oder endgültig beseitigen kann – nicht nur, weil er bereits stumm und tot ist, sondern auch, weil gleich hinter der Grenze schon Wellen weiterer, ähnlicher Einwanderer auf dich zukommen.
Wenn das Gewöhnliche fremd wirkt, dann nur aufgrund von unhaltbaren Vorstellungen des «Normalen» – des faschistischen Normalen. Sobald wir das vergessen, verfallen wir dem Glauben, dass es einmal eine bessere Zeit gab, als sich die Welt nicht so stark veränderte und als alles beständiger schien. Damals waren wir alle gleich und verstanden einander, und diese Gespenster schäumten nicht immer schon vor unseren Fenstern. Heute scheint ein allgemeines Einverständnis darüber zu herrschen, dass diese ganzen globalen Bewegungen zu einer Katastrophe werden könnten, weil diese Figuren, die alles verschlingen, uns bei lebendigem Leib essen werden. Aus diesem Blickwinkel ist der Einwanderer ewig: Wenn wir nicht handeln, wird er für immer eine Quelle von Seuche und Schrecken sein.
Es ist unmöglich, für den Einwanderer die Stimme zu erheben oder, noch wichtiger, ihn für sich selbst sprechen zu lassen. Denn alle, einschliesslich der Vernünftigsten und der Empfindsamsten, haben sich darauf festgelegt, dass der Einwanderer heute überall ist und dass er ein zu grosses Problem darstellt. Selbstverständlich gibt es immer gute Gründe, einem solchen Einverständnis gegenüber misstrauisch zu sein: Nichts ist so repressiv und dumm wie der Konsens, und durch den Konsens wird die Ungleichheit verdeckt.
Jenseits des Zulässigen
Dennoch wird der Einwanderer leicht abgetan und verunglimpft, denn er ist ja keine Person mehr.
Der Einwanderer, der gerade erst angekommen ist, der Letzte, der es durch die Tür geschafft hat und der sich jetzt im neuen Land niederlässt, kann seinerseits abgestossen sein von dem neusten Ankömmling oder Eindringling, der nun seinen Platz einnehmen könnte, weil ihm dieser bedrohliche Andere in keiner Weise ähnlich ist.
Der Migrant hat kein Gesicht, keinen Status, keinen Schutz und keine Geschichte. Die einzige Identität des Migranten besteht darin, dass innerhalb der beschränkten Regeln der Gemeinschaft über ihn diskutiert wird.
Zu abergläubisch, ehrgeizig, wertlos und fremd – so wird der Migrant ausserhalb des Firmaments des Zulässigen deponiert, herabgesetzt auf den Status eines Objekts, über das man alles sagen und dem man alles antun darf. Eines ist sicher: Er wird dich nicht nur deines Wohlstands und deiner sozialen Stellung berauben, er wird natürlich auch monströs und schamlos sein in seinen Vergnügungen. Dieses obszöne Geniessen, das versteht sich von selbst, hat er auf deine Kosten erlangt, selbst wenn er dir als Sklave unterworfen ist.
Als Idee ist diese Vorstellung des Einwanderers vertraut, und die üblichen Klischees – die einengende Macht negativer Zuschreibungen – gelten weiter, wie immer bei jenen Schatten, die die Zwischenzonen oder Grenzgebiete heimsuchen. Der Einwanderer wird Inzucht treiben, er wird an sexueller Inkontinenz leiden und geisteskrank werden, und er wird bedürftig und gierig sein. Aber diese besondere Form des Einwanderers ist auch eine relativ junge Erfindung. Weil wir so stark von dem abhängig sind, was wir am meisten hassen, gilt auch: Je schlimmer die Ökonomie, umso grösser das Bedürfnis nach dem Einwanderer – selbst in einer Zeit, in der wir uns gerne selber loben für unsere relative Toleranz.
Eine perverse Form von Alchemie
Frauen, Schwule und Lesben, Behinderte und andere, die früher marginalisiert wurden, haben nach einigem Kampf vielleicht Würde, eine Stimme und einen Ort in der Gesellschaft erlangt. Doch Diversität und Multikulturalismus können ihrerseits zu Formen von Exotismus und Selbstidealisierung werden, und übersteigerte Differenz kann zu einem neuen Typus von Dünkel führen. Unterdessen hält sich ein notwendiger Pegel des Hasses, der gegen die verschmähte Figur des Einwanderers gerichtet ist. Integration kann nie andauern; es muss immer jemand da sein, den man ausgrenzen kann. Heute ist er es, morgen jemand anders: Die Zirkulation von Körpern wird vom Profit bestimmt. Die Reichen kaufen sich Freiheit; sie können immer gehen, wohin sie möchten, während die Armen nirgends willkommen sind. Aber stets sorgt eine perverse Form von alchemistischem Zauber dafür, dass diejenigen, die wir am meisten brauchen, ausbeuten und verfolgen, in unsere Verfolger verwandelt werden.
Andere haben nur die Macht, die wir ihnen zugestehen. Der Einwanderer ist eine kollektive Halluzination, die wir in unseren eigenen Köpfen geschmiedet haben. Wie Gott oder der Teufel ist diese Vorstellung, die sich ständig weiterentwickelt, eine wichtige Erfindung, weil sie Teil von uns selbst ist – aber der Paranoiker, der gehetzt um sich blickt, kann nie verstehen, dass der fremde Körper in ihm selber steckt. Natürlich nicht: Wenn die Welt so eindeutig in die Hollywood-Gegensätze von Gut und Böse eingeteilt ist, kann niemand mehr klar denken. Hass verdreht die Wirklichkeit noch mehr als die Liebe.
Wenn die Grenzen der Welt von der Sprache gezogen sind, brauchen wir bessere Wörter für all dies. Die Idee des Einwanderers erzeugt nur deshalb Angst, weil er unbekannt ist und ferngehalten werden muss. Diese kollektive Fantasie ist ein Gefängnis, gebaut aus Klischees – eine primitive Verwendung der Vorstellungskraft, die die Welt auf ein Schauermärchen reduziert, wo es nur die Gewalt der Ausgrenzung gibt und wo nichts gedacht oder getan werden kann.
Wenn doch, wäre der Fremde, in einer Mischung aus Naivität und Wissen, in der Lage, uns die Wahrheit über uns selbst zu erzählen, weil er mehr sieht, als wir wissen.
(Aus dem Englischen von Florian Keller).
Copyright © 2014 by Hanif Kureishi. Erstveröffentlichung
WOZ Nr. 28/2014 vom 10.07.2014, mit freundlicher Genehmigung
der WOZ und des Autors.
Hanif Kureishi.
Der Romancier, Dramatiker und Drehbuchautor Hanif Kureishi wurde 1954 in London als Sohn einer Engländerin und eines Pakistani geboren. Bekannt wurde er mit seinem Drehbuch zu Stephen Frears’ Film «My Beautiful Laundrette» (1985). Seinen grössten Erfolg feierte Kureishi mit seinem ersten Roman «The Buddha of Suburbia» («Der Buddha aus der Vorstadt», 1990). Das autobiografisch gefärbte Werk wurde mit dem renommierten Whitbread Book Award ausgezeichnet und als BBC-Mehrteiler verfilmt (siehe auch Seite AutorInnen).