«Der Reiz von Schein und Sein»
Von Sacha Verna
Marisha Pessls Debüt war eine literarische Sensation. Der zweite Roman der jungen Amerikanerin ist ein packender Psychothriller, in dem die Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn verschwimmen.
Marisha Pessl trägt an ihrer rechten Hand einen Goldring mit einem von kleinen von Diamanten umgebenen Opal. Der Ring hat ihrer Grossmutter gehört, die im Alter von 101 Jahren starb, als Marisha Pessl an «Die amerikanische Nacht» arbeitete. «Meine Grossmutter hat immer gesagt, alles, was von den Menschen bleibe, seien Geschichten», sagt Marisha Pessl. «Das wurde beim Schreiben dieses Romans zu einer Art Leitsatz für mich».
Es ist Samstagvormittag. Das schick rustikale Café, das die 35-jährige Autorin für das Treffen vorgeschlagen hat, liegt unweit ihrer Wohnung an New Yorks gediegener Upper East Side. Während sich die Leute an den Nebentischen geräuschvoll durchs Brunch-Menü spachteln, nippt Marisha Pessl an einem Cappuccino. Sorgfältig tupft sie sich den Milchschaum von der dünnen zartrosa Oberlippe. «Was bleibt sind Geschichten, und das Erzählen von ihnen ist meine Leidenschaft», sagt sie so eindringlich, als wäre sie die erste, die diese Satzretorte serviert. Ihr Lidstrich ist leicht verwackelt und das häufige Lächeln ein bisschen mechanisch.
Debüt «Die alltägliche Physik des Ungücks» 2006
«Die amerikanische Nacht» ist Marisha Pessls zweiter Roman. Ihr Debüt war 2006 eine Sensation. «Die alltägliche Physik des Unglücks» wurde in über dreissig Sprachen übersetzt und von Kritik und Publikum weltweit gefeiert. In beiden Romanen geht es um frühreife Töchter und mysteriöse Väter. Beide sind schmökerdick und bieten eine bekömmliche Mischung aus Witz, Weisheit und Spannung. Mehr als Spannung. «Die amerikanische Nacht» ist ein waschechter Psychothriller. Die Dialoge sind messerscharf und die Szenen so knapp und anschaulich, dass ein Drehbuchschreiber kaum mehr etwas ändern muss, um den Stoff auf die Leinwand zu bringen. Kein Wunder also, dass sich Hollywood die Filmrechte daran bereits gesichert hat.
«Ich will meine Leser auf eine Reise ins Unbekannte entführen», erklärt Marisha Pessl und spielt mit den Anhängern an den feinen Ketten um ihren Hals. Rätsel faszinieren sie seit jeher. Früher verschlang sie Krimis von Agatha Christie und Dashiell Hammett, dem Paten der hartgesottenen Detektive. Heute stellt sie sich existentielle Fragen: Wieso tun wir, was wir tun? Wie werden wir zu dem, was wir sind? Was ist Wahrheit? Die Wahrheit entwischt den Akteuren in «Die amerikanische Nacht» immer wieder. Und dem Leser sowieso. «Manchmal tappte ich selber im Dunkeln», so Marisha Pessl. «Im Gegensatz zu meinem ersten Roman hatte ich keinen fertigen Plot».
Fiktion und Konstruktion
Was sie hatte, waren die Inhalte von fünfzehn fiktiven Filmen, eine fiktive Biografie und einen Horrorregisseur. Stanislas Cordova, so sein Name, taucht in «Die amerikanische Nacht» nur in den Erzählungen anderer auf. Dasselbe gilt für seine Tochter Ashley, die gleich zu Beginn des Buches tot aufgefunden wird. Der Ich-Erzähler, ein Journalist mit Pechsträhne, will mehr über die Hintergründe des vermuteten Selbstmordes herausfinden und verstrickt sich immer tiefer in Cordovas düsteres Universum. Gerüchte um okkulte Praktiken locken Scott McGrath auf das riesige Anwesen, auf dem der Regisseur zurückgezogen lebt – oder auch nicht. Ashleys Spuren führen ihn in eine Irrenanstalt, wo die junge Frau einige Wochen vor ihrem Tod verbrachte – oder auch nicht.
Es habe Spass gemacht, sich für die Dauer dieses Romans in den Kopf eines Mannes zu versetzen. «Einer meiner Freunde erklärte mir, McGrath brauche unbedingt einen Lieblingsdrink». Scotch, das war Marisha Pessl sofort klar. Klar war ihr auch, dass sie Fakten mit Fiktion vermischen würde. «Die amerikanische Nacht» ist gespickt mit Fotos, Zeitungausschnitten und Protokollen von geheimen Internetforen besessener Cordova-Fans. Erfundene Filmstars teilen sich die Oscar-Bühne mit solchen aus Fleisch und Blut. «Unsere Vorstellung von der Realität ist ohnehin eine Phantasie», davon ist Marisha Pessl überzeugt. Was wir sehen, hängt von dem ab, was wir glauben, sagt eine Figur in dem Roman. Die Autorin ist derselben Ansicht: «Wir konstruieren uns eine Welt, in der wir leben können, nicht die, in der wir leben».
In «Die amerikanische Nacht» verschwimmen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Alptraum, zwischen Vernunft und Wahnsinn. Dann gibt es da die Sache mit den Vätern und Töchtern. «Es ist reiner Zufall, dass ausgerechnet dieses Verhältnis in meinen beiden bisherigen Romanen eine Rolle spielt», wehrt Marisha Pessl ab. Die Antwort auf das «Warum?» überlasse sie gerne den Psychologen. Tatsache ist, dass Marisha Pessel bei ihrer Mutter in North Carolina aufwuchs und ihren österreichischen Vater nur selten sah. «Ich hatte eine wunderbare Kindheit», versichert sie und ist wieder Königin der Belanglosigkeiten. Überhaupt schwankt sie zwischen Püppchenhaftigkeit und relativem Tiefsinn. Eloquenz und Schlagfertigkeit scheinen ihren Protagonisten vorbehalten zu sein. Die sind damit dafür reichlich gesegnet.
Nach ihrem Literaturstudium arbeitete Marisha Pessl einige Jahre als Finanzberaterin für eine Firma an der Wall Street. Dort lernte sie ihren Mann kennen, von dem sie mittlerweile geschieden ist, und aus dieser Zeit stammen die meisten ihrer Bekannten. «Ich habe leider kaum Freunde, die auch literarisch tätig sind», sagt sie. Das ist erstaunlich in einer Stadt wie New York, in der sich die Glitterati praktisch auf die Zehen treten und dies bei offiziellen und inoffiziellen Anlässen auch gerne tun.
Neulich fand allerdings eine Party statt, zu der auch Marisha Pessl eingeladen war. Ihre Lektorin feierte ihre Verlobung, und der legendäre E.L. Doctorow feierte mit. Der Autor von Klassikern wie «Ragtime» und «Billy Bathgate» ist fast dreimal so alt wie sie, und Marisha Pessl strahlt zum ersten Mal richtig, als sie von diesem Treffen erzählt. Doctorow habe ihr drei Ratschläge gegeben: «Lies keine Kritiken. Mach nie eine Pause, sondern beginn nach Abschluss eines Buches sofort mit dem Nächsten. Und: Lass dich nicht entmutigen, auch wenn sich jedes neue Buch wie dein erstes anfühlt».
Dass Schreibpause Machen keine gute Idee ist, hat Marisha Pessel schon gemerkt. «Nach dem Wirbel um meinen ersten Roman musste ich mir das Schreiben wieder mühsam antrainieren», erinnert sie sich. Das kreative Koma will sie dieses Mal vermeiden, obwohl oder gerade weil der Erwartungsdruck, der die Veröffentlichung von «Die amerikanische Nacht» begleitet, und der Medienrummel beträchtlich sind.
Sie habe ihren dritten Roman angefangen und gedenke, sich durch nichts davon ablenken zu lassen. Weder von der monatelangen Lesereise, die für «Die amerikanische Nacht» geplant ist, noch von den zahllosen Fragen, die sich auf Cordova und die Seinen und wie immer auch auf sie selber beziehen werden. «Ich habe dreieinhalb Jahre lang jeden Tag meine ganze Energie in diesen Roman gesteckt, aber was jetzt für mich zählt, ist mein nächster Roman». Wovon dieser handelt, verrät sie nicht. Stattdessen zitiert sie, die leere Cappucchino-Tasse von sich schiebend, nochmals E.L. Doctorow: «Bevor er ging, drehte er sich zu mir um und sagte: Ich weiss es, Mädchen, du wirst es schaffen». Nach der Lektüre von «Die amerikanische Nacht» ist man geneigt, ihm zu glauben.
Marisha Pessl
Die amerikanische Nacht
Roman.
Aus dem Amerikanischen von
Tobias Schnettler.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2013.
800 S,. CHF 32.90. 22.99 €
ISBN: 978-3-10-060804-8