FRONTPAGE

«Der Spaziergänger im Dickicht der Sinnfragen»

Von Ingrid Isermann

Der Protagonist, ein Schauspieler, spaziert durch den Wald und reflektiert über sein Leben. Eigentlich will er gar nicht mehr an den Anlass, wo ihm am Abend ein Preis verliehen werden soll. Eine labyrinthische Erzählung, die erst sehr langsam in Fahrt kommt über die Erkenntnisse eines Tages oder alles, was der Fall ist und was davon bleibt.

Nach einer Nacht mit einer fremden ungeliebten Frau, die ihm aber irgendwie gut tut, findet sich der Schauspieler auf dem Waldpfad wieder, gleichsam, um allem zu entkommen, nicht auf Freiersfüssen, sondern Fuss vor Fuss, Schritt vor Schritt setzend. Der Gang der Dinge, manchmal auch im Rückwärtsgang.
Alles möchte er hinter sich lassen, und durch die lange Weile im Wald fallen ihm auch ein paar neue Sätze und Sentenzen zu seinem Leben ein. Das tönt wahrlich nach dem Vorbild des Autors. Ist es langweilig? Langatmig auf jeden Fall, und mit langem Atem sollte man das Buch auch lesen, damit man es richtig versteht, und der Erzählfluss, der bedächtig mit vielen kleinen Aperçus dahingleitet, seine Wirkung entfalten kann, eine Entschleunigung gewissermassen, und das liegt sicher im Sinne des Autors.
Nicht jedermanns Sache, nichts mit Action oder schnellen Waldläufen, an Jogging schon gar nicht zu denken, hier geht es langsam zu und her und zögerlich voran, was den Protagonisten nicht davor bewahrt, ins Schleudern zu kommen, ins Gestrüpp mit sich selbst.
Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst ist das Tagwerk nicht so einfach, wie es scheint, und es scheint überhaupt alles anders als es ist.
Es scheint, als ob Peter Handke selbst unschlüssig ist, wohin er mit diesem Buch gelangen will, sich selbst über die Schulter schauend, was daraus wohl werden wird, im Gehen und Weitergehen, das Verfertigen der Gedanken beim Gehen. Deshalb kann auch von der Handlung nicht viel berichtet werden, es sind Momentaufnahmen der Natur, die sich mit der Kultur kreuzen, wenn man so will und wenn man das nicht als paradox versteht.

 

… Wie der Himmel blaute, und wie der Sommerwind wehte, und wie herzöffnend das Spiel von Sonne und Schatten in Gartenbüschen, und wie der allgegenwärtige Gott oder sein Orakel sprach aus dem Sausen der Bäume und aus dem Säuseln der Luft, und sprach, und sprach: „Gebt Frieden, Brüder, Kinder, Geschöpfe: Aufschauen und Lauschen, Einkehr und Umkehr, und wiederum Umkehr – da sein ist gross“;
Und wie doch keiner dieser Zerstörer darauf hörte, die Idee hatte, ja, die Idee aufzuschauen und zu lauschen, und sich bei seinem Weltkrieg im Recht glaubte (…) Die Worte Gottes oder seines Orakels würden vergehen, oder sie waren schon vergangen, seit wann? Seit den Völkermorden? Seit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki? Oder schon seit den Totenmillionen des Ersten Weltkriegs? Oder noch vorher“…

 

Um die Kritik an einer mobilen Fluchtgesellschaft
die keine Zeit und keine Augen mehr für das am Wegrand Liegende hat, für die kleinen Dinge des Lebens, les choses de la vie, geht es Handke.
So weit, so gut, auch dass der Schauspieler beim Spaziergang durch den Wald, der kein Märchenwald ist, noch einen ‚Irrtumslehrgang’ der Botanik erfindet. Die eingeflochtenen Passagen von Menschen, die er kennt und nicht grüsst, weil sie jetzt so anders aussehen, wo sie auf der Parkbank sitzen, an der er vorüber kommt, wirken aufgesetzt. Der Clochard ruft mehrfach ‚Halt’s Maul’ aus, ein antiquierter Sprachgebrauch, wo doch dafür heute das Vier-Buchstaben-Wort steht, das man an allen Ecken und Enden hört, aber das gehört vielleicht zur gewollten Nostalgie der Langsamkeit, dass es eben in dieser Geschichte noch nicht angekommen ist. Wenn man nicht mal mehr auf zeitgenössische Art fluchen kann, ist man wirklich aus der Zeit gefallen.
Es knorzt und knarrt an allen Ecken, denn selbstverliebt und depressiv ist der Schauspieler auch noch. Die Liebe fehlt ihm! Seine Seelenqualen, ach, möchten ihm doch Flügel wachsen. Kalkül oder Versteckspiel, das weiss man bei Handke nie so genau, führt er sich selbst oder die Leser hinters Licht oder macht sie zu Komplizen oder führt die Kritiker auf den Irrpfad.

Sei’s drum, wenn das eine Parabel für die(se) Gesellschaft ist, spürt man mit dem erhobenen Zeigefinder auch das Moralinsaure. Doch bitte, jede Interpretation ist subjektiv und alles kann auch ganz anders sein. Und das sollte es ja auch, unbedingt, wie in Rilkes: „Du musst dein Leben ändern“. Wer sich zudem auf Namensuche begibt, wird beim name dropping fündig wie ein Trüffelschwein, Querbezüge, sei das nun Hitchcock oder de Niro als Beispiele, gibt es in dieser Erzählung zuhauf.
Wie der «Grosse Fall», die Great Falls am Missouri River, der in Montana liegt, den Handke von Juli-September 2011 erblickt. Und es diese Geschichte eigentlich (noch) gar nicht gibt.
Das ist der Clou! ‘The mind is as difficult to control as the wind’. (Bhagavadgita).

 

Peter Handke
Der Grosse Fall
Suhrkamp Berlin 2011
280 S., geb., ISBN 978-3-518-422-18-2
CHF 39.90

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