FRONTPAGE

«Diane Oliver: Nachbarn – Grosse Literatur aus North Carolina»

Von Ingrid Isermann

Selten war sich die Kritikerrunde des Literarischen Quartetts so einig über eine Autorin: Diane Oliver, die viel zu früh mit 22 Jahren starb und ein beeindruckendes Werk hinterliess, das in die Zeit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung führt. 

Diane Oliver erkundet die sozialen Befindlichkeiten in der amerikanischen Gesellschaft in der Zeit der aufrührenden schwarzen Bürgerrechtsbewegung mit einem anteilnehmend intensiven wie präzisen Blick und gewährt Einblicke in das Leben von Menschen, deren Menschlichkeit ständig verleugnet wird von einem beängstigenden Rassismus, der bis heute seine Relevanz nicht verloren hat.
 
Beobachtet von den Nachbarn, fragen sich Ellie und ihre Familie, ob es richtig ist, den kleinen Bruder morgen als einziges Kind auf die Schule der Weissen zu schicken. Ein Paar wird durch rassistische Übergriffe dazu getrieben, im Wald zu leben, und entwickelt eine mörderische Wut. Meg heiratet einen Schwarzen, doch die Liebe fordert über die Grenzen der Hautfarbe ihren Preis.
 
Oliver geht es immer sowohl um das Politische als auch das Private, und damit um allgemeingültige Fragen unserer Existenz und unseres Miteinanders. Wie aktuell Fragen des Rassismus auch hierzulande sind, zeigt die Grauzone des Racial Profilings der Personenüberwachung, wenn es um Coloured People geht.

 

 

Das Werk einer 22-Jährigen aus North Carolina wird nach Jahrzehnten gefunden und jetzt weltweit gefeiert.
 
Zwei weitere Storys wurden postum veröffentlicht, dann geriet die junge Autorin mit ihrem schmalen, herausragenden Werk in Vergessenheit. Bis vor kurzem die britische Literaturagentin Elise Dillsworth in einem Artikel auf Diane Olivers Namen stiess und neugierig wurde. Sie sei verblüfft gewesen, sagt die Agentin, dass sie noch nie von dieser Schriftstellerin gehört hatte, die mit Shirley Jackson, Zora Neale Hurston und James Baldwin verglichen wurde.
 
Sie wollte unbedingt mehr über diese unbekannte literarische Stimme herausfinden und machte sich auf die Suche, die sie schliesslich zu Diane Olivers Schwester und ihrer Nichte führte, mit einem Ergebnis, das ihre Erwartungen und Hoffnungen weit übertraf: Gut verstaut, lagerten hier auf dem Dachboden bislang unveröffentlichte, völlig unbekannte Storys.

 

 

Diane Oliver wurde 1943 in Charlotte, North Carolina, geboren. Sie entdeckte früh ihre Leidenschaft für die Literatur, und schnell zeigte sich ihr schriftstellerisches Talent. Sie veröffentlichte vier Kurzgeschichten, eine davon wurde mit dem renommierten O. Henry Award ausgezeichnet. Ein grosser Erfolg für die junge schwarze Autorin in der Zeit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Und dann der tragische Unfall, sie starb 1966 als Beifahrerin auf einem Motorrad kurz vor ihrem Master-Abschluss an der University of Iowa, wo sie den Writers‘ Workshop absolvierte.

 

 

Diane Oliver
Nachbarn
Storys
Aufbau Verlag, Berlin 2024
Übersetzt von Brigitte Jakobeit
Hardcover mit Schutzumschlag, 304 S.,
CHF 34.90. € 24.
ISBN 978-3-351-04224-0

 
 

«Juli Govrin: Was ist begehrenswert»

 

Begehren und Wert erscheinen auf den ersten Blick als Gegensätze. Während Ersteres auf das Persönliche und Intime abzielt, beschreibt Letzteres die abstrakte Beurteilung.

 

Doch der Gegensatz wird brüchig, sobald wir im Begehren das beständige Auf- und Abwerten anderer entdecken, und im Wert das unablässige, affektgeladene Spiel der Bewertungen.
 

Erotisches Kapital und Authentizität als Ware
 
Jule Govrins fulminanter Essay «Begehrenswert» fragt danach, wie Begehren die wirtschaftlichen Wertordnungen durchdringt und sich ökonomische Bewertungsmuster feinstofflich in soziale Beziehungen und Selbstwahrnehmungen einschreiben: in Semantiken des Selbstwerts, auf der Suche nach Alleinstellungsmerkmalen und unique selling points, um sich von anderen abzuheben.

 

Der Streifzug durch die Gegenwart geht mit Abstechern in die Kapitalismus- und Sexualitätsgeschichte einher, um aufzuzeigen, wie sich Begehren an Waren, Menschen und Werte bindet.
Im Dreieck von Wert, Begehren und Authentizität ergründet der Essay «Begehrenswert» die Matrix unserer Gegenwart und weist zugleich im alle verbindenden Begehren nach anders gelagerten, solidarischen Beziehungsweisen den Fluchtpunkt einer emanzipatorischen Perspektive auf.

 

 

Juli Govrin ist politische Philosophin und forscht an der Schnittstelle von Feministischer Philosophie, Politischer Theorie, Sozialphilosophie und Ästhetik zur politischen Dimension von Körpern und Begehren als transformativer Kraft.

 

 

Juli Govrin
Begehrenswert
Matthes & Seitz, Berlin 2023
TB, Reihe Fröhliche Wissenschaft, Bd. 223
CHF 25.90
978-3-7518-0534-6

 

 

«Charles Linsmayer: Rendez-vous mit der Weltliteratur»

 

«19/21 Synchron global» nennt Literaturhistoriker Charles Linsmayer sein opulentes weltliterarisches Lesebuch mit Originalbeiträgen von 135 Autorinnen und Autoren aus 45 Ländern und 28 Sprachen von 1870 bis 2020 sowie zugehörigen Kurzbiographien. Die farbigen Illustrationen stammen von Claudio Fedrigo, die die Persönlichkeiten porträtieren und ihnen einen individuellen Ausdruck verleihen.

 

Die Textbeiträge sind nicht chronologisch angeordnet, sondern umspannen synchron nach Themen gegliedert einen ganzen Zeitraum, sodass sich Haruki Murakami und Albert Camus, Carson McCullers und Franz Kafka, Olga Tokarczuk und Arundhati Roy begegnen und wie viele andere miteinander in ein imaginäres Gespräch treten.

 

In was für eine Schreib-Ekstase beispielsweise Gustave Flaubert geriet, als er «Madame Bovary» schrieb, was Victor Hugo einen zum Tod verurteilten Sträfling erzählen lässt, was Amos Oz durch den Kopf ging, als er an einem Badestrand einen Mann «Playboy» lesen sah, welch niederschmetternden Eindruck die Schweiz 1946 im ungarischen Autor Sándor Márai hinterliess, was Toni Morrison angesichts der Flüchtlingsströme des 21. Jahrhunderts empfand, wie es war, als Simone de Beauvoir Jean-Paul Sartre kennenlernte.

 

«In jeder Generation neu entdeckt, für die weibliche Selbstfindung von kaum zu überschätzender Bedeutung, gilt die am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geborene und am 17. Oktober 1973 in Rom verstorbene Ingeborg Bachmann längst als eine der ganz grossen, massgeblichen Autorinnen des 20. Jahrhunderts», schreibt Linsmayer in seiner brillanten Kurzbiografie über die gefeierte Ikone. «Keine neue Welt ohne neue Sprache», verkündete die Lyrikerin, von den Verstörungen des Krieges und den Verwerfungen der Gegenwart herkommend, auf der Suche nach etwas Grossem, Neuem, endete aber, nachdem sie 1953 in «Die gestundete Zeit» und 1956 in «Anrufung des Grossen Bären» auf erschütternd-grossartige Weise mehr davon erreicht hatte, als ihr bewusst war, im Verstummen. Mit dem «Dreissigsten Jahr» ging sie 1961 zur Prosa über. In den vollendeten und unvollendeten Teilen des 1971 begonnenen «Todesarten»-Projekts («Malina», «Der Fall Franza») unternahm sie eine Auseinandersetzung nicht nur mit der Situation der Frau und den Möglichkeiten weiblichen Schreibens, sondern auch mit der Gewalt in der Gesellschaft. Einer Gewalt, der sie vor allem auch in der Angst und im Schmerz Liebender nachspürte. «Ich glaube, dass die Liebe auf der Nachtseite der Welt ist, verderblicher als jedes Verbrechen, als alle Ketzereien», hatte 1958 schon ihr «Guter Gott in Manhattan» dem Radiopublikum verkündet, und es entbehrt nicht der Ironie, dass dieses Hörspiel sie mit Max Frisch in Kontakt brachte, dem Mann, mit dem sie die Abgründe der Liebe auf eine Weise erlebte, die sie in eine tiefe Schaffens- und Lebenskrise stürzte und letztlich den Anstoss zum verzweifelt-traurigen Todesarten-Projekt gab.  

 

Ein wunderbar anregendes Lesebuch, das mit den Stimmen von 135 Beteiligten Augenblicke aus 150 Jahren zu einem literarischen Gespräch zwischen den Generationen zusammenfügt. Wer wissen will, wer einen Text geschrieben hat, findet im zweiten Teil des Buches zu jedem Autor und jeder Autorin eine Kurzbiographie von Charles Linsmayer, zusammen mit den ausdrucksstarken Porträtbildern von Claudio Fedrigo.

 

 

Charles Linsmayer lebt als Journalist und Literaturhistoriker in Zürich. Seit 1979 hat er 128 Bände Schweizer Literatur kommentiert neu herausgegeben. Die beiden Lesebücher sind Teil der von ihm betreuten, seit 1987 erscheinenden Edition Reprinted by Huber. 2017 erhielt Linsmayer den eidgenössischen Literaturpreis für Vermittlung.

 

 

Charles Linsmayer (Hg.)
19/21 Synchron global
Ein welthistorisches Lesebuch
Von 1870 bis 2020
Zeichnungen von Claudio Fedrigo
Th. Gut Verlag, reprinted by Huber, 2024
Geb., 656 S., CHF/€ 43.90.
ISBN/GTIN978-3-85717-299-1

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