Thomi Wolfensberger und
Adem Dërmaku an der Presse.
«Visuelle Konkrete Poesie in Fortsetzung»
Von Eugen Gomringer
Mit ihrer neuen Gedichtsammlung «Die Anatomie der Worte» bekennt sich Ingrid Isermann zur Konkreten Poesie in deren authentischster Form. Das bedeutet, dass es daneben noch eine zweite Form der Konkreten Poesie gibt, der jedoch statt der eindeutigen Zugehörigkeit die Rolle eines Zweiges zukommt, dem Mehrdeutigkeit zugeschrieben werden kann.
In der Tat weist Ingrid Isermann bereits ein Werk auf, das in seiner Abweichung von systembildenden Buchstabenbildern, das heisst durch eine bestimmte syntaktische Semantik Bekanntheitsgrad besitzt, aber ebenfalls zur Konkreten Poesie zählen darf.
Es scheinen die beiden unterschiedlichen Zugänge zur Poetik, Alphabetismus, Anagrammatik und «Anatomie» einerseits und Prosaverhaftung andererseits tatsächlich vereinbar in ein und demselben kreativen Ursprung.
Visuelle Konkrete Poesie stellt sich heute, das heisst insbesondere seit den frühesten 50er Jahren des 20. Jahrhunderts dar in einer Spielart plakativer Sprache. Sie versteht sich im Anspruch auf «Augenhöhe» zum Leser jüngerer Generationen, der rasch verstehen, rasch kommunizieren will. Sie nimmt die Formen auf, welche in der internationalen Werbesprache vorherrschen und bildprägend wirken.
Im Kreis der Dichter ihrer Frühzeit wurde auf die Historie der optischen Sprache verwiesen, und das mit Recht, versteht sich doch Bildlichkeit der Sprachzeichen, in Symbolhaltigkeit und Figürlichkeit, als einer der ältesten kulturellen Werte. Die Dichter der neuen Visuellen Konkreten Poesie wissen neben der Aneignung des Sprachgeschehens ihrer Zeit durchaus auch von ihrer Verpflichtung gegenüber dem immensen Repertoire an Formen und Ideen der Gestaltung von bedeutenden Zeichen. Im kreativen Zugriff liegen immer neue, erneuerte Chancen. Nicht selten aber weisen Gedichte des sentenziellen Zweigs Konkreter Poesie mit freien Konstellationen auf zeitlose Sprachkunst.
Wenn der neue Band von Ingrid Isermann einsetzt mit der Antithese «nichts ist geschehen und alles ist passiert», vier Zeilen in grosser schwarzer Schrift auf dunkelgrauer Fläche, gibt sie zum Beispiel fernöstlicher Weisheit Raum und öffnet manchem heutigen Leser die Augen. Falls dieser Leser gewonnen ist, verwickelt er sich Blatt um Blatt in Denk- und Sprachfallen. Er wird angelockt, Sprachbilder zu lesen, Wortfolgen zu verstehen, dies aber nicht nur linear, sondern immer wieder zurückblickend. Repetition ist eine der wirksamsten Techniken dieser Poesie. Die Dichterin lässt ihn nicht los bis er kapituliert und sich bei «na und» und bei «vielleicht» versucht. Dass er Gegenwart vorgesetzt bekommt, wird ihm und seiner Generation klar vor Augen gestellt durch anatomische Trennung in «gene Ratio n» Sollte er sich bei dieser und anderen Aufgaben übernommen haben, legt ihm die Dichterin ins Auge und in den Mund: «Give Me A Break». Dies überdeutlich in Versalien. Nach der Pause kann sich unser Leser – wir – mit Rilke am Panther versuchen – oder am Panter? Wörterbücher verweisen von einem zum andern und geben den Rat, es mit dem Pardel bzw. dem Leoparden zu versuchen. Soweit über den Stolperstein «h».
Ingrid Isermann versteht das grosse Spiel der visuellen Poesie. Sie kurvt bisweilen scharf um Legendäres dieser Gattung herum, bringt aber als Anatomin gutes Neues zutage, denn aus dem Körper, den sie untersucht, ist noch vieles zu holen: wortwitz- und netzwerkbewaffnet hebt sich diese Dichterin auf das konkrete Podest.
Britta Schröder, Kunsthistorikerin (Auszug)
«Wer kennt ihn nicht, diesen Moment?: Man denkt ein Wort, man spricht es aus – und wiederholt es so oft, bis es nur noch Klang ist oder Rhythmus und man sich partout nicht mehr daran erinnert, was es eigentlich bedeutet. Die Buchstaben und Silben, eben noch sinnvoll verbunden, stieben auseinander wie ein Vogelschwarm von dem Geländer einer Brücke. Sie lösen sich, werden einzeln sicht- und hörbar, lassen uns für einen Augenblick stutzig zurück, um dann wiederzukehren und sich erneut zusammenzusetzen. Und plötzlich begreifen wir viel besser als zuvor, wie dieses kurzfristig von Sinn befreite Wort gebaut ist.
Der Künstlerin und Lyrikerin Ingrid Isermann gelingt mit ihren Arbeiten genau dies: uns die Anatomie der Worte vor Augen zu führen. Ihre Wortbilder spielen mit dem Moment zwischen Auflösung und Neuordnung, mit diesem kurzen Taumel, der sich jenseits des Geländers einstellt und in dem uns wohlvertraute Dinge gleichermassen fremd wie anziehend erscheinen».
www.berglink.de
Lesung mit Eugen Gomringer im Lavatersaal, St. Peter, Donnerstag, 29. Januar 2015, 19.30 Uhr,
St. Peter-Hofstatt 6, 8001 Zürich. Einführung: Pfr. Ulrich Greminger, Kirchgemeinde St. Peter.
Parabel
Nichts
ist geschehen.
Und alles
ist passiert.
Alles
ist passiert
und nichts
ist geschehen.
Jedes Zuviel
ist ein Zuwenig.
Und jedes Zuwenig
ein Zuviel.
Tentakel
Nicht
das Gesagte
verfängt.
Das Ungesagte
wirft seine
Widerhaken aus.
Die Worte
sie flattern
im Wind.
Relief in Weiss
Wie die Rundungen
Eines Körpers
Körperhaft
Porentief glitzert
Der Schnee auf den Hügeln
Die Linien tanzen
Schneeballett
Ein Relief
In Weiss
Weiss um
Die Schatten
Die der Berg
Wirft
Les étoiles de mer
Manchmal frage ich
Die Sterne.
Manchmal frage ich
die See
Manchmal kommen
Seesterne
Wie gerufen
Im Bergell
Granitdächer, Lärchenwälder, Bergzacken
aus Schnee und Eis gemalt in den azurblauen
Himmel,
der Kopf eines Philosophen als Wolkenbild…
hier im Bergell, Restaurant Bardeglia, in der
Mittagshitze einer Fata Morgana, vor dem Besuch
des Museums «Ciäsa Grande» in Stampa, immerzu
muss ich denken an das Plakat, die Ausstellung
von Alberto Giacometti im Zürcher Kunsthaus
«La Mama a Stampa»…
ich sehe, mein Schatten schreibt immer
mit, in der Sonne…
Kraftakte
Gedichte sind Kraftakte
Die das fragile Leben feiern
Leben ist
Der Ruf des Lebens
Nach sich selbst
Ingrid Isermann
Die Anatomie der Worte
Visuelle Konkrete Poesie
Gedichte Texte Poems
Beiträge:
Prof. Eugen Gomringer
Dr. phil. Britta Schröder
Wolfsberg Verlag, Zürich 2014
160 S., Softcover, 12.5×20 cm,
Fadenheftung
CHF 29. € 25.
Vorzugsausgabe mit Original-Lithographie ASK WHY
Steindruckerei Thomi Wolfensberger
CHF 300