FRONTPAGE

«Wild Women»: Die Filmemacherin Anka Schmid»

Von Rolf Breiner

 

Sie ist seit bald 30 Jahren als Autorin und Filmerin aktiv. Die 54jährige Zürcherin zeigte im Juli das Environment «Bade-Anstalten», präsentiert im September ihren jüngsten Dokumentarfilm «Wild Women – Gentle Beasts» und ist an der Gruppen-Ausstellung «Die Dada – La Dada – She Dada» in Martigny beteiligt. Die Video- und Performancekünstlerin Anka Schmid ist Filmerin mit Leib und Seele, eine Dompteuse der Bilder und Bedeutungen.

Ein Bikini, schön drapiert, hängt an der Wand. Badetücher sind ausgelegt. Gucklöcher animieren zu voyeuristischen Einblicken. Nixen, die sich synchron im Wasser formieren, Spiegelungen und Reflexionen. «Bade-Anstalt» nannte sich vieldeutig und verschmitzt Anka Schmids Kleinstausstellung, ein Environment auf kleinstem Raum mit Videos, Wasser und Objekten (KunstRaum R57 in Zürich, 8. bis 24. Juli 2015).

Die Künstlerin hatte sich beziehungsvoll mit der bekannten Anstalt zum Baden und mehr befasst, wo sich Menschen ausstellen, begegnen, wo Mann und Frau verschiedene Assoziationen, vielleicht auch Begehrlichkeiten wecken.
Bereits hat sich Anka Schmid einem neuen Thema zugewandt, das sich mit dem 100 Jahr-Dada-Jubiläum befasst. Fünf Videokünstlerinnen haben sich dazu Gedanken gemacht und umgesetzt: «Die Dada – La Dada – She Dada» Schmid widmet sich Sophie Täuber-Arp in einer Videoinstallation. (Le Manoir de la Ville in Martigny ab 3. Oktober 2015 bis 10. Januar 2016).

 

Nach Nyon (Visions du Réel) und Locarno (Panorama Suisse im Rahmen des Filmfestivals) startet nun im September ihr neuster Film «Wild Women, Gentle Beasts» in den Kinos. Sie hat vier Raubtierdompteurinnen begleitet und vier Jahre am Film gearbeitet: Carmen Zander aus Deutschland dressiert Tiger, Anosa Kouta aus Ägypten Löwen. Aliya Takshantova aus Russland arbeitet mit Bären und Namayca Bauer, Schweizerin aus Frankreich, mit Löwen und Tiger. Wir trafen Anka Schmid in ihrem Zürcher Arbeitsraum.

 

Du hast viele Filme realisiert seit 1986, Trick- und Spielfilme («Hinter verschlossenen Türen»), Kurz- und Dokumentarfilmewie wie «Magic Matterhorn» (1995) oder «Mit dem Bauch durch die Wand» ((2011) , hast Videos und Performances realisiert. Gibt es ein Vorbild diesbezüglich?
Anka Schmid: Laurie Anderson, eine Musikerin, die experimentiell und multimedial gearbeitet hat. Als ich sie einmal im Kunsthaus und am Theaterspektakel in Zürich gesehen habe, war das für mich etwas ganz Neues. Sie ist für mich eine der ganz grossen Frauen und Künstlerinnen. Und dann war für mich auch die französische Regisseurin Agnes Varda in ihrer vielfältigen und freien filmischen Erzählweise eine wichtige Person.

 

In deiner letzte Ausstellung «Bade-Anstalten» geht es um Schauen und Wirken, um Hüllen und Enthüllungen. Du vernetzt Verschiedenes, animierst zu Assoziaionen. Welcher Übergedanke steckt dahinter?
Bei einer Ausstellung ist mir wichtig, die Leute miteinzubeziehen, so dass der Besuch in der Ausstellung zu einem sinnlichen und inspirierenden Erlebnis wird. Es war schön für mich, alles, also Video, Objekte, Fotos, den Innen- und Aussenraum zu einem Ganzen zu gestalten. Ich mache keine Kunst um der Kunst willen, sondern arbeite ganz konkret auf etwas hin, einen konkreten Raum, auf ein Thema wie hier die Gegensätze von Bad und Anstalt.

 

 

Was war denn im Fall der «Bade-Anstalt» zuerst da, die Gegebenheit des Raums oder das Thema.
Der Raum. Weil es Sommer ist, wollte ich aus diesem Raum eine Bade-Anstalt machen. Frauen spielen in deinen Arbeiten eine besondere Rolle. Ich denke an das Künstlerporträt «Isa Hesse Rabinovitch: Das grosse Spiel» oder an «Mit dem Bauch durch die Wand», wo es um sehr junge werdende Mütter geht. Spielen dabei persönliche Beweggründe mit?

Ich habe im weitesten Sinne immer einen biografischen Link zu meinen Filmthemen. Zurzeit des «Matterhorn»-Films 1994/95 war ich Auslandsschweizerin, lebte in Berlin. Da stellt sich mir die Frage: Was heisst eigentlich Heimat? Und der Film geht dorthin, wo man die Cliche-Schweiz findet. Was ist also echte Heimat? Bevor ich Filme gedreht habe, habe ich Musik gemacht, war in einer Band. So entstand 2005 «Yello – Electropop made in Switzerland». Da geht es um die Frage: Wie kann man zu zweit zusammenarbeiten und kreativ sein. Bei den Teenagermüttern war es das das umgekehrte Spiegelbild. Ich war schon Mutter, aber mit 33 Jahren. Teenager – ein spannendes Alter, wenn man aufbricht und gleichzeitig Verantwortung übernehmen muss.

 

 

Deine Filme nehmen also Bezug, haben Rückbezüge.
Genau. Sie sind nie Spiegelbilder, sondern haben Rückbezüge.

 

 

Frauen und ihre Kinder. Was hat es diesbezüglich mit den «Wilden Frauen» zu tun?
Nach den die Jungmütter, die ihre Kinder «domptieren», kommen wir zu den Frauen, die wilde Tiere domptieren. Ich habe auch einen Film gemacht über meinen Mädchentraum: Ich wollte Tigerdompteurin werden nach dem Vorbild «Tiger-Lilly» aus der TV-Serie «Salto Mortale». Ich habe oft Zirkus gespielt, meine Schwestern mussten Raubtiere sein, und ich durfte mit der Peitsche knallen. Nach dem Film über die Teenagemütter wollte ich wissen, was sind das für Frauen, was ist das für ein Beruf der Raubtierdompteurin.

 

 

Du hast aber nie in einem Zirkus gearbeitet?
Nein, aber als ich mit meiner Produzentin Franziska Reck zur Berlinale ging, habe ich ihr gesagt: Ich möchte über Raubtierdompteurinnen einen Film drehen. Sie hatte auch diesen Traum, war als junge Frau eine Saison lang mit einem Zirkus als Lehrerin unterwegs.

 

 

Wie bist du auf diese vier Frauen gekommen?
Ich habe im Internet geforscht, habe verschiedene Zirkusse angeschrieben. Ich wollte unbedingt Russland wegen der Bären dabei haben. Mit haben verschiedenen Personen dabei geholfen. Ich wollte Frauen, die ihre eigenen Tiere haben und sie von klein auf aufgezogen haben.

 

 

Du hast rund vier Jahre an diesem Film gearbeitet. Nun ist es ja wichtig, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. War das schwierig?
Bei Carmen war das einfach, weil sie ja Deutsch spricht. Sie ist eine reflektierte Frau, eine Domina. Ich kenne ihre Kultur, sie kennt meine. Sie war auch einige Zeit beim bekanntesten Schweizer Dompteur, René Strickler, tätig. Die Kontakte waren einfach, ich konnte sie miterleben. Einfach war es auch bei Namayca, sie ist ein alter Ego zu meinem Sohn, sie ist exakt einen Monat jünger. Sie arbeitet mit ihrem Vater, und die Mutter spricht Schweizerdeutsch. Bei ihr war ich mehrmals, am 17., 18. und 19. Geburtstag. Sie ist mir vertraut geworden. Schwieriger war es mit den Russinnen und der Ägypterin, weil ich ihre Sprachen nicht kann und es nur mit Dolmetschen ging, ich also immer jemanden an meiner Seite brauchte. Aber menschlich haben wir uns sehr gut verstanden. Zudem waren in Ägypten die politischen Verhältnisse sehr schwierig. Da ging niemand mehr in den Zirkus. Aber Anosa war im Ausland auf Tournee, und so konnten wir sie in Katar drehen.

 

 

Vier verschiedene Frauen und Kulturen. Wie siehst du sie?
Es sind starke, bedingungslose Frauen. Mich interessieren Menschen mit Leidenschaften, und da ist eine riesige Leidenschaft zum Beruf. Und das hat auch mit mir zu tun. Ich bin leidenschaftlich Filmerin und Videokünstlerin. Ich kenne niemanden ausser Bauersleute, die 365 Tage im Jahr ihre Leidenschaft leben müssen – und hier die Dompteusen mit Risiko. Wilde Tiere kann man nicht loslassen. Disziplin und Kontrolle sind wichtige Eigenschaften bei der Dressur. Carmen sagt es einmal: Sie sei das Muttertier und schuld, wenn die Tiger irritiert sind und aggressiv reagieren, weil etwas in der Gruppe nicht stimmt. Es sind wirklich Frauen mit grösster Disziplin, die Kontrolle ausüben müssen.

 

 

Das Wort Raubtier weckt Assoziationen: Abenteuerlust, Sehnsucht, Wildheit. Ist es das, was Menschen in der zirzensischen Welt fesselt?
Ich bin überzeugt, dass 50 Prozent der Menschen schon einmal von Raubtieren geträumt haben. Sie stehen für ein archaisches Bild. Ich bin auch überzeugt, dass alle diese Raubkatzen streicheln möchten. Eine ungemeine Anziehung. Da ist einerseits das Bild des Paradieses und andererseits die Gefahr. Darum geht man heute noch in den Zirkus: Was passiert? Diese Frauen, und auch die Männer, gehen stellvertretend in den Käfig und stellen sich einer Gefahr.

 

 

Also der Moment des Einmaligen, des Unabwendbaren. Mensch und Tier – welche Erkenntnisse hast du aus diesen Begegnungen zwischen Käfig und Manege gezogen?
Am meisten hat mich die 24-Stunden-Präsenz beeindruckt und die Entwicklung vom Baby zum reifen Tier. Diese Menschen sind zeitlich mehr mit ihren Tieren zusammen, als ich mit meinem Sohn war. Er ging nämlich in die Schule, in die Ferien usw. Diese Frauen leben eine sehr innige Beziehung zu ihren Tieren, gekoppelt mit ihrer Existenz.

 

 

Du spielst bei deinem Filmtitel mit gewissen Erwartungen von der Schönen und dem Biest, bedienst damit auch gewisse Vorurteile und Cliches.
Schau das Plakat an: Ich zeige eine wunderschöne anmutige Frau, eben Carmen, und die geschmeidige Riesenkatze. Und der Film zeigt die Realität dahinter. Dokumentarfilme zeigen Bilder hinter den Bildern.

 

 

Du zeigst den Alltag der Raubtierbändigerinnen. Die Aussenwelt bleibt aussen vor – ganz bewusst ausgeklammert, nehme ich an.
Ich kann bei vier Frauen aus vier Kulturen nicht das ganze Feld öffnen. Trotzdem habe ich versucht, alles mitzubekommen im Leben dieser Protagonisten – von der Tiergeburt und Krankheiten, vom Auf- und Abbauen der Manege, von Proben und Auftritten. Andere Facetten wie Verhandlungen und mehr musste ausgeklammert werden.

 

 

Erwartest Du Reaktionen aus der Tierschützerecke?
Ja, ich bin auch angegriffen worden. Einen Film zu machen, heisst, etwas zu zeigen, eine Möglichkeit zu schaffen, dahinter zusehen. Ich habe viel über Tierdressur recherchiert. Der Umgang mit Menschen und Tieren ist immer auch Zeugnis und Teil unserer Zeit. Hier in meinem Film geht man liebevoll mit Tieren um. Und bei meinen Raubtierdompteurinnen steckt viel Liebe dahinter.

 

 

Wie siehst du die heutige Situation, die Kritik an Raubtierdressuren?
Man muss sich den Umgang mit Tieren überlegen. Alle Dompteure sind exponiert. In Europa ist es in vielen Ländern verboten, Wildtiere im Zirkus zu eigen. Dieser Beruf wird aussterben, und ich bin traurig darüber.

 

 

Du selbst nimmst die Funktion einer Dompteurin ein.
Man sieht eine schöne Frau, die Raubtiere vorführt. Aber man weiss, ohne Team, ohne Mithilfe geht es nicht. Das ist ähnlich bei einer Regisseurin. Jemand muss der Motor sein, muss wissen, muss kanalisieren. Ohne Kamera, Musik und Schnitt geht es nicht, und das kann man nicht allein machen.

 

 

Wohin führt dich deine Filmreise, was wird dich demnächst beschäftigen?
Die menschliche Haarpracht in den letzten 50 Jahren. Was sind Haare, wie unterscheiden sich Frau und Mann? Was ändert sich nach der Pubertät? Was geschieht gesellschaftlich – vom Struwwelpeter bis zum Punk? Das wird eine haarige Angelegenheit. Es hat mit Existenz zu tun.

 

www.wildwomen-film.ch

 

 

«11. Zurich Film Festival:

Ein Augenmerk auf Zürich»

 

Das Zurich Film Festival (ZFF) geht seinen Erfolgsweg konsequent weiter. Nadja Schildknecht (Geschäftsleitung) und Karl Spoerri (Künstlerische Leitung) präsentieren die 11. Ausgabe – vom 24. September bis 4. Oktober 2015. Das genaue Programm wird Mitte September bekannt.

 

 

(rbr) Das Filmfestivalereignis in der Limmatstadt hat sich etabliert und findet jährlich mehr Beachtung. Die Zuschauerzahlen wuchsen von 51 000 Besuchern (2011) auf 79 000 im letzten Jahr (plus 11 Prozent mehr gegenüber 2013). Das Budget beträgt über sieben Millionen Franken.

Geschäftsleiterin Nadja Schildknecht bleibt hartnäckig am Promi-Ball und wartet erneut mit illustren Gästen und Filmen auf, die ein breites Publikum anziehen.
Eröffnet wird der Filmevent mit dem historischen Biopic «The Man Who Knew Infinity». Regisseur Matthew Brown erzählt die Geschichte des indischen Mathematik-Genies Srinivasa Ramanujan (1887-1920), eines brillanten Analysten und begnadeten Zahlentheoretikers, verkörpert durch Dev Patel («Slumdog Millionaire»). Patel wie auch Regisseur Brown sowie die Darsteller Jeremy Irons, Stephen Fry und Devika Bhise werden in Zürich über den Teppich schreiten.
Weitere Galapremieren sind angesagt: etwa die rabenschwarze Satire «Kill Your Friends» von Owen Harris, in dem es um einen skrupellosen Musikmanager geht, und «Mistress America» von Noah Baumbach, in der eine einsame verkümmerte Studentin durch ihre burschikose Stiefschwester «aufgeweckt» wird. Im Drama «Mon Roi» von Maiwenn verliebt sich eine Frau in einen Hochstapler, und im Biopic-Thriller «The Programm» von Stephen Frears erlebt man Aufstieg und Fall des Radprofi Lance Armstrong (mit Ben Foster, Lee Pace und Dustin Hoffman). «Black Mass» schildert die wahre Geschichte des Gangsters Whitey Bulger, gespielt von Johnny Depp. Während des Militärputsches in Chile 1973 wird Daniel (Daniel Brühl) in die berüchtigte Colonia Dignidad verschleppt: «Colonia» von Florian Gallenberger mit Emma Watson. In «Sicario» agiert eine FBI-Agentin (Emily Blunt) im Drogenkrieg im Grenzgebiet Arizona – Mexiko. Unter dem Titel «A Walk in the Woods» verbirgt sich eine waghalsige Mission: Bill Bryson (Robert Redford) will den 2000 Kilometer langen Appalachian Trail bezwingen, begleitet vom Ex-Alkoholiker Steve Katz (Nick Nolte). Ist das ein Spass?

 

Natürlich wird auch ein Augenmerk auf Schweizer Filme gelegt. Ausserhalb des Wettbewerbs werden vier Filme aufgeführt: Sabine Gisiger widmet sich in ihrem Dokumentarfilm dem grossen Dichter und Denker: «Dürrenmatt – Eine Liebesgeschichte», und Hugo Pinto dokumentiert in «Après l‘hiver» die Suche vierer Teenager, einen Platz in der Arbeitswelt zu finden. Im neuen Spielfilm «Verdacht» von Sabine Boss («Der Goalie bin ig») steht ein Gymnasiallehrer im Mittelpunkt, der mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert wird – mit Manuel Humm und Mona Petri. Ausserdem erblickt ein Klassiker wieder die Kinowelt: «Marie-Louise» (1944) von Leopold Lindtberg.
Eine spezielle Ehrung wird dem britischen Filmmeister Mike Leigh («Mr. Turner») zuteil. Er erhält den Tribute Award am ZFF. Über Icon-Awards und Wettbewerbe sowie weitere Premieren, Specialanlässe und Events wird zu berichten sein.
www.zff.com

 

Ein Fest für alle am Zurich Film Festival


Die Festivaldirektoren Nadja Schildknecht und Karl Spoerri haben am 10. September das Programm des 11. Zurich Film Festival vorgestellt. Sie zeigen sich sehr zufrieden, dass der Anlass weiterhin in einem gesunden Mass wächst. «Das leicht höhere Budget von 7,1 Mio. Franken (Vorjahr: 6,9 Mio.) erlaubt das erwünschte nachhaltige Wachstum», betont Nadja Schildknecht. «Das Festival zählt inzwischen mehr als 100 Sponsoren. Dies ist in unserer heutigen Wirtschaftssituation alles andere als selbstverständlich».

 

Das ZFF erzielt unter den Schweizer Filmfestivals mit rund 90% den mit Abstand höchsten Anteil an privaten Geldern, so Schildknecht. «Die Gesamtsumme der öffentlichen Subventionen beträgt 660’000 Franken (Stadt Zürich: 300’000, Kanton Zürich: 210’000, Bund: 150’000). Die weiteren Finanzierungsbausteine sind Sponsoren, Stiftungen und Donatoren-Beiträge sowie Projekt- und Ticketeinnahmen».

 

Karl Spoerri freut sich über das qualitativ hochstehende und thematisch aktuelle Programm. «Das ZFF gewinnt weiter an internationalem Profil und zeigt ein Programm mit den relevanten Herbst-Titeln», so Spoerri. «Der Fokus liegt wie immer auf den internationalen Wettbewerben und den Galapremieren mit mehr Welt- und Europa-premieren. Aber auch die Nebensektionen wie Neue Welt Sicht, Border Lines oder TVision haben sich qualitativ weiter entwickelt und bieten zahlreiche Entdeckungen».

 

In zehn Kinosälen sind – in mehreren Vorstellungen – 161 Filme (Vorjahr: 145) aus 33 Ländern zu sehen, darunter 36 Erstlingswerke und 14 Weltpremieren. Auch der Schweizer Film ist mit neun neuen Produktionen wieder prominent vertreten. Nicht zu reden vom Schweiz-weit erneut einmaligen Staraufgebot.

Arnold Schwarzenegger, Mr. Olympia, Terminator und der 38. Gouverneur von Kalifornien, holt sich am 30. September den Golden Icon Award ab und erzählt im Filmpodium von seiner unvergleichlichen Karriere. Der Deutsche Armin Mueller-Stahl, auch er zwischen Europa und Hollywood pendelnd, erhält den Lifetime Achievement Award. Der britische Regisseur Mike Leigh ist der Preisträger des diesjährigen A Tribute to… Award, und die Schauspielstars Kiefer Sutherland und Liam Hemsworth werden mit dem Golden Eye Award ausgezeichnet.

 

Daneben stellen renommierte internationale Regiestars wie Alejandro Amenábar (REGRESSION), Todd Haynes (CAROL), Scott Cooper (BLACK MASS), Stephen Frears (THE PROGRAM), Anton Corbijn (LIFE), Jean-Jacques Annaud (WOLF TOTEM) und Florian Gallenberger (COLONIA), die französischen Regisseurinnen Maïwenn (MON ROI) und Alice Winocour (MARYLAND) oder die Schweizerinnen Sabine Boss (VERDACHT), Sabine Gisiger (DÜRRENMATT – EINE LIEBES-GESCHICHTE) und Léa Pool (LA PASSION D’ AUGUSTINE) ihre neuen Filme am ZFF persönlich vor.

Aber auch Schauspielstars geben sich in Zürich die Klinke in die Hand. Der zweifache Oscar-Preisträger Christoph Waltz wird im Anschluss an das Screening von INGLOURIOUS BASTERDS über seine Zusammenarbeit mit Quentin Tarantino sowie seine einmalige Karriere sprechen. Joseph Fiennes kommt mit dem Film STRANGERLAND, Ellen Page mit FREEHELD und Maria Furtwängler mit der Weltpremiere DAS WETTER IN GESCHLOSSENEN RÄUMEN. Mit Mona Petri, Anatole Taubman oder Xavier Koller ist auch die einheimische Filmprominenz am ZFF vertreten.

Und schon bei der Eröffnung mit der Europapremiere THE MAN WHO KNEW INFINITY könnte es mit Regisseur Matthew Brown, Produzent Edward R. Pressman, den Darstellern Jeremy Irons, Dev Patel, Stephen Fry und Devika Bhise sowie Stadtpräsidentin Corine Mauch und Bundesrat und Kulturminister Alain Berset eng werden auf dem Grünen Teppich.

 

Regisseurinnen aus Frankreich 

Auch die weiteren Filmreihen zeigen aktuelles und politisch relevantes Kino. Die Sektion Neue Welt Sicht stellt in Spiel- und Dokumentarfilmen die jüngste Generation iranischer Filmemacher vor. Die Filmreihe Border Lines, die in Zusammenarbeit mit Médecins Sans Frontières (MSF) entsteht, weist mit sozial engagiertem Kino auf Notlagen in den weltweiten Krisengebieten hin. Und das neue Window to the World präsentiert Filme unserer Partner-Festivals in San Sebastian und Hong Kong sowie La nouvelle vague au féminin mit Werken junger Regisseurinnen aus Frankreich. ZFF TVision hält Pilotprogramme bereit, und bei ZFF für Kinder gibt’s grosse Emotionen für die Kleinen.

 

Zum umfangreichen Rahmenprogramm gehören etwa die öffentlichen ZFF Masters im Filmpodium, die ZFF Talks im Festivalzelt sowie der Internationale Filmmusikwettbewerb, inzwischen eines der angesagtesten Events am ZFF: Neben zwei Showblöcken gibt es für das Publikum hier erstmals die Möglichkeit, bei der Generalprobe dabei zu sein. Der Wettbewerb ZFF 72, bei dem die Teilnehmenden in 72 Stunden einen bis zu 72 Sekunden langen Clip produzieren, erlebt seine zweite Auflage.

 

 

 

Eröffnung des Zurich Film Festivals am 24. September 2015

Mit dem historischen Spielfilm THE MAN WHO KNEW INFINITY, der wahren Geschichte des indischen Mathematik-Genies Srinivasa Ramanujan, ist am Donnerstagabend das 11. Zurich Film Festival eröffnet worden.

 

In Anwesenheit des 13-köpfigen Filmteams mit den beiden Hauptdarstellern Jeremy Irons und Dev Patel an der Spitze begrüssten Bundesrat Alain Berset und die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch sowie die Festival-Co-Direktoren Nadja Schildknecht und Karl Spoerri die zahlreichen Ehrengäste aus Kultur, Politik und Wirtschaft.

 

Kulturminister Alain Berset sagte in seiner Eröffnungsansprache, in einer Zeit, in der die Menschen mit Bildern überflutet werden, sei der Film wichtiger denn je. „Der Übermacht der Bilder können wir nur mit genaueren Bildern begegnen“, betonte Berset. Filme förderten unsere „soziale und politische Empathie, ohne die unsere Gesellschaft auseinanderdriften würde.“

Stadtpräsidentin Corine Mauch verwies auf einen inhaltlichen Bezug zum Film, nämlich die dramatische Situation, dass „unfassbar viele Menschen auf der Flucht nach Europa“ sind. „Es geht um die Tatsache, dass alle Bemühungen um eine gute Integration von Menschen Investitionen in die Zukunft unserer Gesellschaft sind.“

„Es ist diese universelle Sprache des Films, die uns alle jedes Jahr wieder hier zusammenführt“, betonen die beiden ZFF-Co-Direktoren Nadja Schildknecht und Karl Spoerri. „Wir freuen uns, während elf Tagen mit ihnen in die Magie der Filme einzutauchen und hoffen, dass sie möglichst viele Filme sehen können.“

 

 

Für die Europapremiere von THE MAN WHO KNEW INFINITY sind nicht weniger als 13 Beteiligte der Produktion nach Zürich gereist. Zusammen mit den Darstellern Jeremy Irons, Dev Patel, Stephen Fry und Devika Bhise zeigen sich am Grünen Teppich Regisseur Matthew Brown, die Produzenten Edward R. Pressman, Joe Thomas, Swati Bhise, Mark Montgomery, Pamela Godfrey, Min-Li Tan sowie die beiden mathematischen  Berater Ken Ono und Manjul Bhagavra. 

Das Bio-Pic THE MAN WHO KNEW INFINITY erzählt die Geschichte des indischen Mathematik-Genies Srinivasa Ramanujan (1887-1920), der sich seine Kenntnisse autodidaktisch beigebracht hat. Er wurde 1914 vom britischen Mathematikprofessor Godfrey Harold Hardy nach Cambridge ans Trinity College geholt. Ramanujan zeichnete sich durch aussergewöhnliche Fähigkeiten mit analytischen und zahlentheoretischen Fragestellungen aus.

Der Film führt das Publikum von den Slums von Madras zur ehrwürdigen Architektur der Universität Cambridge, wo der fromme Hindu Ramanujan seine brillanten Theorien dem exzentrischen Hardy vorlegt. Schnell aber rächt sich die kreative Intensität Ramanujans: Er stirbt im Alter von nur 32 Jahren an Tuberkulose und hinterlässt ein brillantes und inspirierendes Erbe, das bis heute nicht vollständig erforscht ist.

 
Christoph Waltz verleiht den mit CHF 100’000 dotierten Preis
Oscar-Preisträger Christoph Waltz hat am Samstagabend 27. September an einer Gala im Rahmen des Zurich Film Festival den ersten ‚Filmmaker Award‘ an die beiden Schweizer Regisseure Michael Steiner und Jan Gassmann verliehen. Michael Steiners Projekt UND MORGEN SEID IHR TOT erhielt CHF 75’000, Jan Gassmanns Projekt EUROPE, SHE LOVES erhielt CHF 25’000. Die beiden Gewinner wurden aus vier nominierten Projekten bestimmt.

 

Die Preisverleihung fand anlässlich des IWC-Galadinners ‚For the Love of Cinema’ im Rahmen des ZFF statt, zu dem die Schweizer Luxusuhrenmanufaktur VIP-Gäste aus Filmindustrie, Medien, Kunst, Politik und Wirtschaft eingeladen hatte. Der mit CHF 100’000 dotierte Förderpreis wurde vom Verein zur Filmförderung in der Schweiz initiiert, der gezielt vielversprechende Filmprojekte im Stadium der Produktion oder Postproduktion unterstützen will.

„Ich bin stolz darauf, diese für die Schweizer Filmlandschaft wichtige Auszeichnung persönlich überreichen zu dürfen“, freute sich Filmschauspieler Christoph Waltz. „Die Förderung von Filmschaffenden ist eine notwendige und bedeutungsvolle Aufgabe, die erheblich zur Vielfalt des Schweizer Films beiträgt“, kommentierte Waltz. Mit seinen Rollen in INGLOURIOUS BASTERDS und DJANGO UNCHAINED von US-Kultregisseur Quentin Tarantino avancierte Christoph Waltz zum Weltstar.

Das Projekt UND MORGEN SEID IHR TOT der Produzenten Bernhard Burgener und Norbert Preuss erzählt die wahre Geschichte der beiden Schweizer Daniela Widmer und David Och, die im Juli 2011 in Pakistan von den Taliban verschleppt wurden und denen nach acht Monaten in Gefangenschaft eine spektakuläre Flucht gelang. Der Start der Dreharbeiten ist für Februar 2016 geplant. Regisseur Michael Steiner wurde mit seinen Kinoerfolgen MEIN NAME IST EUGEN und GROUNDING bekannt.

 

Im Projekt EUROPE, SHE LOVES der Produzentin Lisa Blatter, das sich in der Postproduktion befindet, kämpfen fünf Paare im krisengeschüttelten Europa mit viel Witz und Liebe um ihr tägliches Überleben. „Die Drehbücher dieser Gewinnerfilme überzeugen durch starkes Storytelling und eine aussergewöhnliche Sensibilität, mit der die zwei sehr unterschiedlichen Geschichten erzählt und hoffentlich bald auf der Leinwand zu sehen sein werden“, sagte IWC-CEO Georges Kern anlässlich der Preisverleihung.

Für Regisseur und Jurymitglied Marc Forster ist der ‚Filmmaker Award‘ ein echter Meilenstein für die hiesige Filmszene: „Weil wir damit gezielt Projekte im Pre- oder Postproduktionsstadium unterstützen, leisten wir einen besonders wichtigen Beitrag zur Filmförderung“, erklärte er.

Ins Leben gerufen wurde der ‚Filmmaker Award‘ vom Verein zur Filmförderung in der Schweiz. Der gemeinnützige Verein war im Dezember 2014 von Marc Forster, IWC-CEO Georges Kern, den ZFF-Direktoren Nadja Schildknecht und Karl Spoerri sowie Ringier-CEO Marc Walder gegründet worden. Die Jury für den Filmmaker Award besteht aus Marc Forster, Georges Kern und Karl Spoerri.

 

 

 

Filmtipps

 

Wild Women, Gentle Beasts
rbr. Wie Mutter und Kind. Der Titel mag etwas reisserisch klingen, trifft aber das Thema auf den Punkt. Die Filmerin Anka Schmid hat sich zwar nicht auf Glatteis, aber in die Manege begeben, ist Frauen in Raubtierkäfigen gefolgt, hat sie in ihrem Alltag und bei ihren Auftritten im Zirkus beobachtet. Immer weniger Raubtiervorführungen werden geboten, in vielen Ländern sind sie verboten. Der Beruf der Dompteure wird wohl aussterben. Der bekannteste Schweizer Dompteur, René Strickler, hat quasi vorgebeugt und einen Raubtier-Park bei Solothurn installiert. Davon träumt auch Carmen Zander aus Deutschland, eine der vier Protagonistinnen in diesem Dokumentarfilm. Dazu kommen Anosa Kouta aus Ägypten mit Löwen. Aliya und Nadezhda Takshantova (Aliyas Mutter) aus Russland, die mit Bären arbeiten, und Namayca Bauer, Schweizerin aus Frankreich, die Löwen und Tiger vorführt. Anka Schmid hat diese Frauen begleitet, ist mit ihnen vertraut worden, hat hinter die Kulissen geschaut geworden. «Ich wollte Frauen, die ihre eigenen Tiere haben und sie von klein auf aufgezogen haben», unterstreicht die Filmkünstlerin aus Zürich. Man erlebt, wie innig die Dompteurinnen mit ihren Tieren leben, sie grossziehen, wie sie sich ihnen aussetzen und mit ihnen verbinden. Diese Wildtiere, die nie wild gelebt haben, sind den Frauen ans Herz gewachsen, sind mehr als ihre Kinder, nämlich auch ihre Existenzgrundlage. Sicher klammert der Film einiges aus – etwa die behördlichen Kontrollen, die Nackenschläge in der Dressur, den Tourneestress. Man spürt das gefährlich Moment, das Risiko, aber vor allem die grosse Liebe der Bändigerinnen zu ihren Löwen, Tigern oder Bären. «Wild Women, Gentle Beasts» ist eine Liebeserklärung an die Raubtierdressur, ein Dokument über Hingabe, ungewöhnlicher Beziehungen und betörende zirzensische Momente – mit atemberaubenden Bildern (Kamera: Peter Indergand).
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We Are Your Friends
rbr. Falsche Freunde. Da geht die Post ab, wenn DJs den Sound hochfahren und 128 Beats ansteuern. Solches und Ähnliches will uns der Streifen über Elektronische Tanzmusik (EDM) und Nightlife in Danceschuppen in und um Los Angeles weismachen. Der 23-jährige aufstrebende Cole Carter (Zac Efron) und seine drei Freunde hangeln sich durch Tanzschuppen und Clubszene in und um Los Angeles. Es wird gedealt und gesoffen und aufgerissen. Die befreundete Viererband hofft, dass irgendwann der Groschen bzw. der Dollar fällt und sie Erfolg haben. Cole ist ein talentierter Elektro-DJ, der von Star-DJ James (Wes Bentley) unter seine Fittiche genommen wird. Doch Freund James ist nicht nur reich, alkoholsüchtig und smart, sondern auch Partyheld, der seine Freundin Sophie (Emily Ratajkow) aushält und benutzt. Und der ist dann erbost, dass sein «Zögling» Cole eine Liebesaffäre mit Sophie beginnt – in Las Vegas notabene.
Diese gebremste Liebesgeschichte ist ein Handlungsstrang. Der Aspekt der Freundschaft, gerät mehr und mehr in den Hintergrund, bis einer von Coles Gefährten an Drogen und Alkohol stirbt. Regisseur Max Joseph verstärkt dagegen den Fokus auf Soundtüftelei. Schönes Wetter, schöne Frauen, satter Sound, Party-Power, böse Abstürze und Läuterung – Josephs DJ-Schnulze, die am Ende mit Sozialgewissen und Gutmensch-Botschaft aufwartet, ist so falsch wie der Titel. Ein Sozial-Märchen mit viel Beats, in dem der Schönling Zac Efron, bekannt aus den TV-Serien wie «CSI: Miami» oder «Entourage», als DJ eine schwärmerische Figur abgibt.
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Still the Water

rbr. Liebes- und Meeresrauschen. Das Meer – Sinnbild und Lebenssinn, Gefahr und Gefährte, Lebensraum und Existenz. Unzählige Male wurde es besungen, beschworen, beschrieben. Eine Leiche mit Schlangentatoos findet sich am Strand der japanischen Insel Amami-Oshima. Der 16-jährige Kaito (Nijirô Murakami) entdeckt den toten Fremden und schweigt wie auch Kyoko (Jun Yoshinaga), die mit ihm verabredet ist. Doch das ist nur eine Nebenepisode. Im Kern geht es der japanischen Regisseurin Naomi Kawase um die Geschichte der beiden Teenager, Nachbarskinder, die viel Zeit miteinander verbringen – am Strand, auf dem Velo in trauter Zweisamkeit. Kyoko liebt das Meer, fühlt sich ihm verbunden – emotionell wie physisch. Ihr Gefährte Kaito ängstigt sich dagegen. Beide spüren sexuelle Begehren, doch erst tragische Ereignisse lösen ihre Fesseln. Das Meer als Sehnsucht und Gefahr, am Ende wird es zum Liebesbett. Dieses zärtlich-poetische Coming-of-Age-Werk in wundersam einnehmenden Bildern ist Spiegelung eines Mikrokosmos, Familien- und Sittengemälde. Kyokos totkranke Mutter geht fröhlichen Sinnes ins Jenseits. Kyokos «heile» Familie wird den zerrütteten Verhältnissen entgegengestellt, mit denen Kaito leben muss. Seine Mutter, vom Mann verlassen, der in Tokio ein Künstlerleben führt, sucht Befriedigung bei anderen. Ist einer ihrer Liebhaber der Tote am Strand? Kyoko, die Emanzipierte, und Kaito, der Unsichere, sind auf dem Weg, sich zu finden, sich ihrem Begehren, der Liebe zu öffnen. Kawases Film ist ein spirituelles Gedicht, das Mensch und Natur verbindet, Leben und Tod, Sehnsucht und Vertrauen.
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Härte
(rbr) Teufelskreis. Ein Kerl voller Saft und Kraft – auch nach markanten Höhen und Tiefen und bald 60 Jahren. Er ist ein Kind der späten Fünfzigerjahre, der Wirtschaftswunderzeit in der BRD. Doch Andreas Marquardt wird Opfer seiner Eltern. Sein Vater, ein Schläger, liess die Familie früh im Stich. Und seine Mutter missbrauchte ihn und hielt sich den Sohn quasi als Liebhaber. Diese geschundene Kindheit prägte ihn, seinen Hass gegen Frauen, schürte seine Gewaltbereitschaft. Im Berliner Rotlichtmilieu stieg er zum gefürchteten Brutalo-Zuhälter auf. Er schikanierte die Frauen, die für ihn anschaffen mussten, schlug sie und beutete sie aus. Eine von ihnen, Marion Erdmann, liebte ihn, litt und konnte trotz seiner Schläge und Brutalität nicht von ihm lassen. Er fiel auf die Schnauze und landete im Knast für acht Jahre. Hier lernte er, sich zu öffnen, sich einem Therapeuten anzuvertrauen und seiner Vergangenheit zu stellen. Heute ist der Kampfsport-Champion in einer Neuköllner Sportschule tätig, betreut Kinder und engagiert sich sozial. Dem Dokumentarfilmer Rosa von Praunheim («Meine Mütter», «Die Jungs vom Bahnhof Zoo») gelang der Spagat: Er verknüpfte Gegenwart (farbig) mit Vergangenheit (schwarzweiss). Die Protagonisten Andreas Marquardt und seine Partnerin Marion können sich erklären. Und das tun sie offen und offensiv. Vor allem Marquardt beschönigt nichts. Andererseits inszeniert Praunheim die Kindheitsgeschehnissen, die unheilvolle Luder-Zeit in Berlin und die Opferrolle Marions und ihr Liebes-(Triumph). In den Schauspielern Hanno Koffler («Freier Fall») als Macho-Zuhälter und Luise Heyer («Westwind») als geschundenes Lamm fand er ideale Partner. Aber auch Katy Karrenbauer («Cloud Atlas») agiert als Mutterbiest vortrefflich. Die Dokufiktion basiert auf Marquardts autobiographischem Buch «Härte: Mein Weg aus dem Teufelskreis». Fraglos gehört «Härte» zu den besten Kinoarbeiten des bekennende Schwulen von Praunheim. Ein packender authentischer Film über Kindsmissbrauch und die Folgen, aber auch über Läuterung und (positive) Entwicklung.
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Dog Men
(rbr). Am Ende. Der Mensch steht am Abgrund. Die Erde ist leer gefischt oder leer gejagt. Man ernährt sich von den letzten verbliebenen Tieren wie Hunden. Die Gebrüder Mirko und Dario Bischofberger entwerfen in ihrem zweiten Spielfilm ein spartanisches Endzeit-Szenarium. Zwei Männer (Daniel Mulligan, Gioacchino Balistreri) stromern durch einen verwilderten Steinbruch – auf der Suche nach Nahrung. Ein Hund gerät in ihre Falle. Ein Blinder (Nils Althaus) stochert im Gelände herum und händigt ihnen einen Film aus Kolonialzeiten aus, als Weisse in Afrika auf Foto- und andere Jagd gingen und Massai einen Löwen mit Speeren erlegten. Im Spielfilm der Schweizer Brüder Bischofberger geht es nicht um Grosswildjagd, sondern um Ressourcen und einer Zivilisation am Ende. Zwei Typen, einer davon mit einem Baseballschläger bewaffnet, jagen Essbares. Beobachtet werden sie von einem «geisterhaftes» Wesen, das freilich eher einer Ballettratte (die Polin Irmina Kopaczynska ist tatsächlich ausgebildete Tänzerin, die am Zürcher Opernhaus engagiert ist) ähnelt, denn einem E.T. «Dog Men» ist ein geradezu stummer SF-Film. Der Streifen beschreibt eine auf sich selbst zurückgeworfene Welt – gegen alle Hollywood-Bombastik. Spröde inszeniert in karger Kulisse (gedreht auf der Insel Favignana/Sizilien) und archaisch reduziert auf wenige Figuren. Bruchstücke einer Geschichte bleiben in Erinnerung, aus der man freilich mehr hätte machen können.

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Mr. Kaplan

(rbr) Stranden am Strand. Ein normales Leben ist nicht alles, findet der 76jährige Jakob Kaplan (Héctor Noguera) und beschliesst nochmals etwas Grossartiges, Aussergewöhnliches zu leisten. Der alte unbefriedigte Mann mit jüdischer Vergangenheit, den es aus Nazi-Deutschland nach Montevideo verschlagen hat, nimmt sich also vor, gemeinsam mit seinem Kumpel Wilson (Nestor Guzzini), einem ehemaligen Polizisten, einen vermeintlichen Nazi dingfest zu machen. Mr. Kaplan hat einen verdächtigen Deutschen (Rolf Becker) aufs Korn genommen, Die beiden Partner observieren ihn und laueren dem Untergetauchten auf. Doch so einfach, gradlinig und gerecht ist Geschichte und das Tun der Guten nicht. Álvaro Brechner, 1976 in Uruguay geboren und aufgewachsen, führt zwei Senioren vor, die ins Geschichtsrad eingreifen wollen und erzählt eine Geschichte mit Schalk und Sinn für skurrile Typen und Situationen. Seine Komödie um End-Sinn des Lebens, um Vermutungen und Verfolgung, Strafen und Stranden amüsiert sanft und nachsichtig.
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Straight Outta Compton

(rbr) Gangsta-Rap wird Kult. Sie mischten in den Achtzigerjahren die Musikszene Los Angeles, dann in den USA und weiter auf. Eine Protestbewegung aus der Gosse wird zum Kult. Farbige waren Mitte der Achtzigerjahre in L.A., speziell im Getto Compton Freiwild für weisse (auch farbige) Cops. Im Grunde genommen hat sich daran bis heute zu wenig geändert. Fünf junge Typen um Ice Cube, Dr. Dre und Eazy-E. gründeten die Band N.W.A. (Niggaz With Attitudes) und liessen 1988 mit dem aggressiven Album «Straight Outta Compton» aufhorchen. Besonders der Song «Fuck tha Police» weckte staatliche Aggressionen und Übergriffe und begeisterte die Jugend. F. Gary Gray, Kenner der Szene und Kumpel von Ice Cube, setzte die Aktionen der HipHopper, die den Gangsta Rap erfanden, in Szene – ungehobelt, deftig, ziemlich ungefiltert und unkritisch. Das effektheischerische Bandporträt bedient vor allem Fans und Rap-Enthusiasten. Die Jungschar der unbekannten Darsteller überzeugt mehr oder weniger. Dass die Rapper Ice Cube und Dr. Dre als Koproduzenten beteiligt sind, dient einer distanzierten Beschreibung der gesellschaftlichen Ereignisse kaum. So kommen die Maulhelden als Prolo-Rebellen rüber, die Frauen als Lustobjekte betrachten, die gierig, geltungsbedürftig und durchaus gewalttätig scheinen. Dem Jung-Kinopublikum gefällt’s: Hauptsache laut, rüde und rough. So spielte der Musik-Streifen in den ersten beiden Wochen in den USA über 111 Millionen Dollar ein.
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Boychoir
rbr. Himmlische Töne auf Zeit. Die amerikanische Geschichte und das amerikanische Kino ist voll von Aufsteigern – vom Tellerwäscher zum Millionär oder so. Ben Ripley (Drehbuch, «Source Code») erzählt den wundersamen Aufstieg des zwölfjährigen Stet vom rebellischen Raufbolden zum Chorsolisten. Die Eliteschule mit dem American Boychoir in Princeton (New Jersey) ist Realität. Das Internat für Knaben, 1937 gegründet, drohte freilich Insolvenz. Es konnte aber soweit Mittel beschaffen, dass im Herbst 2015 die Schule öffnen kann. Im Kinofilm wirken einige Chormitglieder als Hintergrundsänger mit und der musikalische Schuldirektor Fernando Malvar-Ruiz arbeitete mit Regisseur François Girard zusammen. Doch die Schule, gedreht wurde in Connecticut, ist nur Schauplatz und Bühne, ihre tatsächliche Lage und Geschichte ist nebensächlich. Der launige Einzelgänger Stet ist weder von Lehrern noch von seiner alkoholsüchtigen Mutter zu bändigen. Nach ihrem Unfalltod wird der aufsässige schwererziehbare Bengel dank der Fürsprache der Schulleiterin (Debra Winger) und seines Vater (Josh Lucas), der seinen unehelichen Sohn gegenüber der eigenen Familie verheimlicht, mehr aus schlechtem Gewissen denn aus Fürsorge, an besagte Eliteschule transferiert. Weder der geniale Chorleiter Carvelle (Dustin Hoffman) noch sein neidischer Mitarbeiter Drake (Eddie Izzard) sind vom Sonderfall Stet erbaut. Doch Carvelles Gehilfe Wooly (Kevin McHale) und Internatsleiterin (Kathy Bates) sind von Stets Talent überzeugt und fördern ihn. Am Ende kommt es auf den Zögling selber an, sich gegenüber arroganten, auch neidischen Mitschülern zu behaupten und die eigene Bestimmung zu finden. Auch wenn das Adoleszenzdrama mit Klisches gepflastert ist – von Skeptikern und mütterliche Leiterinnen bis zu bösen Mitschülern – gehen einem die «die Stimmen des Herzens» (deutscher Verleihtitel) tatsächlich zu Herzen. Girard gelingt es virtuos, auf der Tastatur der Gefühle zu spielen und gleichwohl kritische Töne anzuschlagen. Da ist einmal ein namhaftes Ensemble mit Dustin Hoffman als schier gnadenlosem Meister mit Widersprüchen, aber einem guten Herzen an der Spitze. Die Jungen überzeugen durch die Bank, allen voran Garrett Wareing in seinem Spielfilmdebüt als Stet, der die Chance seins Lebens erkennt. Und nicht zuletzt bringt der Film einem Knabenchormusik nah und verschweigt nicht, dass diese Phase der Sängerknaben nur ein Zwischenspiel, eine Begabung auf Zeit ist. Himmlisch rührend.

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El botón de nácar
rbr. Sanfte Geschichtslektion. Perlmuttknopf (so der deutsche Filmtitel) symbolisiert zwei verschiedene Geschichtsepochen, ist Zeugnis chilenischer Entwicklung und Mahnung zugleich. Im Zuge der Kolonialisierung und Zivilisierung der Ureinwohner Chiles wurden Bewohner Patagoniens um 1830 nach England verschleppt. Einer von ihnen, Jemmy Button, wurde mit einem Perlmuttknopf belohnt, zivilisiert, zumindest äusserlich. Nach der Rückkehr in seine Heimat, legte er die zivilen Klamotten ab, liess sein Haar wieder wachsen und wurde aber nie mehr der Ureinwohner, der einst war. Er verstarb 1864 in Feuerland. Einen anderen Perlmuttknopf fanden Taucher in Meerestiefe – aktuell. Er gehörte einem Opfer der Militärjunta, das wie Tausende anderer getötet und an Eisenstücken gebunden im Meer versenkt wurde. Der Chilene Patricio Guzmán taucht in seinem magisch schönen, beredten Dokumentarfilm «El bóton de nácar» in den 4200 km langen Küstenstrich Chiles ein, beschreibt Geschichte und Kultur der Indogines, der Völker, die nahezu ausgerottet wurden. Im 18. Jahrhundert soll es noch 8000 Angehörige des Wasservolks gegeben haben, heute sind es noch etwa 20. Guzmán lässt etwa die 73-jährige Gabriela Paterito zu Worte kommen. Sie ist die letzte Nachfahrin der ethnischen Gruppe Kawésqar und kennt in ihrer Sprache – auf Anfrage des Regisseurs – kein Wort für Gott und Polizei. «Errungenschaften» unserer Zivilisation sozusagen. Der aussergewöhnliche Film beschreibt die Bedeutung des Meeres für seine Bewohner und Anwohner in Patagonien (Feuerland), die fatale politische und gesellschaftliche Entwicklung des Andenstaates, der die schlimme Pinoche-Diktaturepoche längst noch nicht überwunden hat. Er weckt Erinnerungen an gestern für morgen, ist Mahnmal und Poem. Die Quintessenz des Regisseur: «Man sagt, das Meer habe ein Gedächtnis. Ich weiss, es hat auch eine Stimme. »
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The Wolfpack
rbr. Ein Wolfsrudel – abgeschottet inmitten von New York. Sie sehen aus wie die dreifachen Bluesbrother – nur ohne Hut. Sonnenbrillen, dunkler Anzüge, weisse Hemden, dunkle Krawatten. Doch die sechs Burschen haben mit den legendäre Blues Brothers aus dem bekannten Film so viel zu tun wie Will Smith und Tommy Lee Jones als «Men in Black» mit der Rappergang N.W.A. in «Straight Outta Compton». Diese sechs Teenager haben 14 Jahre ausschliesslich in einer New Yorker Sozialwohnung gelebt, gelernt, gespielt. Die Eltern – der Vater Oscar, ein Peruaner, und die Mutter Susanne, ein Hippiemädchen aus dem Mittleren Westen – erlebten 1996 in der Bronx einen Schusswechsel vor ihrer Haustür. Der Vater beschloss aus (übersteigerter) Fürsorge und Angst vor Gewalt draussen «Stubenarrest» für die Familie, die Kinder durften die Wohnung nicht mehr verlassen. Erst im Januar 2010 durchbricht Mukunda, hinter einer Michael-Meyers-Maske verborgen, die Regel und verlässt die Wohnung allein – im Alter von 15 Jahren. Er ist der Vorreiter: Mukunda Angulo, der heimliche Anführer seiner Brüder, wagte den Schritt nach draussen. Der 20-Jährige arbeitet heutzutage in verschiedenen Filmteams, will Autor und Regisseur werden. Bhagavan (heute 23), der älteste Angulo-Sohn, seine Zwillingsbrüder Govinda (22) und Narayana,Krsna (18) und der Jüngste, Jagadisa (16), sind besessen von der Filmwelt, spielten Szenen aus Filmen «Batman» oder «Pulp Fiction» nach. Sie lernten Dialoge auswendig, schneiderten sich Kleider, kreierten Masken. Das Brüder-Sextett hat eine Schwester Visnu, die älteste, sie ist geistig behindert und ist nur kurz im Film zu sehen. Die Filmerin Crystal Moselle lebt in New York und hat zufällig die Angulo-«Gang» in Manhattan getroffen, ihr Vertrauen gewonnen, auch das ihrer Eltern. Sie hat die Jungs fünf Jahre begleitet und Material aus dem Archiv der Angulos eingebaut. Ein einzigartiges Dokument einer Familiengeschichte, einer gewaltlosen «Befreiung». Der Aus- und Aufbruch war nicht nur für die Fünferbande, die als «Wolfsrudel» durch Manhattan ziehen, zusammenhalten wie Pech und Schwefel (zumindest im Film) ein Akt zur Selbständigkeit, auch für die Mutter, die zu grossen Teilen das Familienleben getragen und gesichert hat, begann ein neues Kapitel. «Die Eltern standen dem Gedanken, ihr Familienleben zu dokumentieren, sehr offen gegenüber», berichtet Crystal Moselle. «Ich glaube, sie sahen darin eine Chance für ihre Kinder.» «The Wolfpack» gewann am Sundance Filmfestival 2015 den Grand Jury Prize.
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Amnesia
rbr. Musik überwindet und verbindet. Nach ihrem stummen Auftritt in Richard Dindos Literaturverfilmung «Homo Faber» nach Max Frischs berühmten Roman bot Barbet Schroeder der Schweizer Schaupielerin Marthe Keller eine idyllische Bühne. Ibiza in den Neunzigerjahren, abseits von der Urlauber- und Partyszene. Martha (Marthe Keller) lebt seit über vierzig Jahren in einem Haus an der Küste, abgeschieden, allein, scheinbar mit sich und der Welt im Reinen. Doch ihr kleines Paradies ist bedroht (sie soll es demnächst räumen). Ihre selbst gewählte Einsamkeit wird indes durch einen jungen deutschen Musiker durchbrochen: Jo (Max Riemelt) fühlt sich von der einsamen Frau angezogen, kommt mit ihr ins Gespräch – auf Englisch. Denn die Deutsche Martha verachtet die deutsche Sprache – eine Reaktion auf die Taten der Nazis, des Zweiten Weltkriegs. Das holpert sprachlich wie dramaturgisch, mutet seltsam und weltfremd an. In Barbet Schroeders arg verklemmter Beinahe-Romanze überwindet und verbindet Musik Gegensätze, findet Martha die Sprache, sprich Einsicht, wieder – in Gesprächen mit dem DJ-Jungmusiker, der von einem Auftritt im angesagten Club «Amnesia» (einer riesigen, weltbekannten Disco auf Ibiza) träumt. Jos Grossvater (Bruno Ganz), der überraschend auftaucht, bringt den Stein ins Rollen, lüfte Marthas Geheimnis. Dass Joel Basman einen zappeligen Musikmanager abgibt, gehört zu den ärgerlichen Nebenepisoden wie einige Schmachtszenen mit der alternden Martha im selbstgewählten Exil. Der doppelsinnige Titel «Amnesia» – der Discoclub, wo das Leben toben soll, und die künstliche Amnesie, also die Verdrängung der eigenen Herkunft und des Deutschtums– verspricht mehr, als der Film dann einhält – zu durchsichtig, zu künstlich, zu aufgesetzt und langweilig.
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Die Demokratie ist los!
rbr. Des Volkes Wille? Die Direkte Demokratie kennt Referenden oder Volksabstimmungen, die den Willen des Volkes, heute meistens den von Parteien, durchsetzen sollen. Und so startet Thomas Islers Demokratie-Recherche logischerweise auf der Strasse, auf Plätzen und anderen Begegnungspunkten. Mann und Frau werben für Stimmen etwa für die Kampfjet-Initiative (Grippen), Das Ergebnis war für Schweizer Verhältnisse ungewöhnlich, fast einzigartig: Das Volk, in der Mehrheit stets stramm militärfreundlich, verweigerte für einmal sein Placet. Andere Volksabstimmungen weckten auch die Aufmerksamkeit im Ausland: die Minarett- und die Masseneinwanderungsinitiative, die am 9. Februar 2014 hauchdünn angenommen wurde. Besonders rechtspopulistische Kreise in Deutschland und Österreich bejubelte diesen Vorgang. «Volksentscheide à la Suisse wurden gefordert, dem Schweizer Volk applaudiert, das den Mut hat, dem Establishment die Stirn zu bieten», weiss Isler. Ursprünglich plante der Basler einen Dokumentarfilm über Rechtsextremisten und die Neue Rechte. Doch dann wurde sein Projekt praktisch von der Wirklichkeit überholt – mit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative. Isler veränderte den Fokus und legte den Schwerpunkt seines Dokumentarfilms auf der Schweiz. Dabei steht nicht so sehr die Frage der Umsetzung der Initiative im Mittelpunkt, sondern die nach Rechtmässigkeit. Isler deckt in seiner Recherche ein breites Meinungsfeld ab – vom SVP-Volkstribun Christoph Blocher über SP-Nationalrätin Amarelle Cesla bis zur Schweizer Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Helen Keller. Rechte Meinungsmacher pochen auf das Recht des Volkssouverän, andere wägen ab, bezweifeln die Rechtmässigkeit der Initiative, die dem Individuum nicht gerecht wird. Islers Film versteht sich nicht als Replik auf den Aktionismus und die fremdenfeindliche Politik der SVP, sondern als Denkanstoss. Er sowie einige Staatsrechtler kommen zum Schluss, dass Volkswille nicht Menschenrechte, die in der Verfassung verankert sind, brechen kann, dass dem Souverän Grenzen gesetzt sind. Ein Schweizer Manko wird klar angesprochen: In der Schweiz fehlt ein Bundesverfassungsgericht, dass möglicherweise Initianten und ihren Ambitionen auf die Finger schaut, bevor es zur Abstimmung kommt. Dieser vielstimmiger «Ameisenfilm» (Isler) wirkt aufklärerisch, nie polemisch, fesselt durch seine Statements und Kenntnis.
«Die Demokratie ist los!» ist ein weiteres positives Ergebnis des Migros-Kulturprozent. Isler gewann 2014 den Wettbewerb und konnte so innert kurzer Zeit seinen Film realisieren.
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Ich und Kaminski
(rbr) Visionen und Verhältnisse. Selten hat ein Kinofilm, dazu noch eine Literaturverfilmung, so irritiert und amüsiert, geschönt, gefälscht und gezaubert. Wolfgang Becker («Good Bye, Lenin!»), einst am Filmfestival Locarno 1988 für seinen Jungfilm «Schmetterlinge» mit einem Goldenen Leoparden geadelt, meldet sich mit einem irrlichternden Road- und Kunstmovie zurück. Basierend auf der Romanvorlage «Ich und Kaminski» (2003) von Daniel Kehlmann, schickt er Daniel Bühl als recherchierenden Autoren Sebastian Zöllner auf eine Reise zu einem «blinden Maler», eben dem sagenhaften Kunstgenie Manuel Kaminski (Jesper Christensen). Zöllner will die absolute, finale Biografie über diesen alten Mann schreiben und ihn vielleicht gar als sehend entlarven. In dieser «Beziehungskiste» zwischen dem «versunkenen» Maler und dem Sensationsjournalisten kommt es nicht auf die Geschichte, die Reise an, welche die beiden unternehmen vom Engadin bis nach Belgien, sondern auf Verhältnisse und Visionen, Fake und Fantasie. Dauernd fragt man sich dabei, was ist filmische Fabulierkunst, was ist real gemeint, was Schein und was Erscheinung. Der Film, gespickt mit raffinierten Bilder- und Fotocollagen (mit Picasso, Warhol, aber auch den Beatles), Anspielungen und Spiegelungen, bietet eine Palette – kauzig, komisch, karrikiert – aus Satire, Schnurren und Spinnerei. Ob man diesen intelligent bis naiven Trip zu den Wurzeln oder zu sich selbst auch als Kritik an der geschäftigen Kunstwelt interpretieren will, sei dahin gestellt. Der filmischen Fabulierlust Beckers tut dies keinen Abbruch. Ein Schelmenstück mit Höhen und Tiefen, köstlichen, aber auch billigen Momenten – und respektablem Ensemble dank Geraldine Chaplin, Josef Hader, Stefan Kurt, Bruno Cathomas, Andrea Zogg oder Karl Markovics (als Zwillingspaar).
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Ricki and the Flash

rbr. Rock statt Rockzipfel. Sie hat schon einige tolle Rollen gespielt und wurde dreimal mit dem Oscar belohnt. Meryl Streep ist eine Kino-Ikone. Und nun beweist sie sich als Rock-Matrone. Ihre Performance als Sängerin ist absolut hitverdächtig, wenn sie Songs von Bruce Springsteen, Pink oder U2 ins Kneipenpublikum schmettert. Respekt. Doch der Film unter der Regie Jonathan Demmes ist leider nur eine sentimentale bis schmalzige Familiengeschichte à la Hollywood. Ricki eigentlich Linda (Meryl Streep) hat ihre Familie – ihren Mann Pete (Kevin Kline), Tochter Julie (Mamie Gummer, Streeps Tochter) und ihre Söhne – vor Jahrzehnten verlassen, um ihrer Leidenschaft zu frönen, der Musik. Die alternde Rockröhre Ricki, aufgetakelt wie eine «Trucker-Nutte» (so die Tochter Julie über ihre Mutter), reist nach Indianapolis, um ihrer Tochter beizustehen, die aus Liebeskummer just einen Selbstmordversuche unternommen hat. Die unangepasste Rock-Mutter, von ihren Kindern verachtet, jobbt als Verkäuferin und blüht abends als Sängerin der Rockband The Flash in einer Musikkneipe im San Fernando Valley bei L.A. Sie hatte einst ihre Kinder aus Eigeninteresse im Stich gelassen und sucht nun die Annährung. Ein harscher Weg, aber Hollywood ist gnädig. Am Ende kann Ricki endlich ihre Bestimmung zeigen und ausleben, kann mit ihrer Musikleidenschaft auch die Herzen der Familie erwärmen. Diablo Codys Buch versucht drei Beziehungsstränge zu vereinen: Das schwierige Verhältnis Rickis zu ihren Kindern, vor allem zur Tochter, zu ihrer Familiennachfolgerin Maureen und zu ihrem Bandpartner (Rick Springfield), ausserdem stehen sich die gutbürgerliche Luxuswelt ihre Ex-Mannes Pete und ihre eigene bescheidene Existenz diametral gegenüber. Das gutgemeinte Familienmärchen funktioniert nicht, dürfte zwar teilweise weiche Gemüter erweichen, wirkt aber phasenweise schlicht peinlich, von der Rickis Maske oder ihrer Ausstattung ganz zu schweigen. Wie erwähnt, das Beste an dieser Familienzusammenführungs-Melodram, von Komödie kann keine Rede sein,  sind die Gesangsauftritte Meryl Streeps, auch zusammen mit Rick Springfield. Das lässt sich sehen und hören!

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Photo/Film