FRONTPAGE

«Die Büchse der Pandora»

Von Hedi Wyss

Vor mir an der Kasse presst der Mann die Büchsen aus Aluminium an die Brust. Preiswertes Bier ist darin, er wird wohl feiern mit seinen Kollegen. Fleisch und Kartoffeln grillen auf Aluschalen. Und wenn er dann Sodbrennen hat, wird er nach dem rezeptfreien Medikament greifen. Auch darin ist Aluminium.
Was aus dem Autofenster auf die Strasse kollert, was glänzt an einer futuristischen Fassade, Aluminium, das Metall, ist ungemein vielfältig brauchbar. Überall ist es, in der Sonnencreme und im Deodorant, im Kochtopf und in der Zahnpasta. In Flugzeugen reduziert es das Gewicht; und den Gartentisch macht es resistent gegen Wind und Wetter.
Aluminium ist in kleinsten Mengen fast überall auf der Welt vorhanden. Aber anders als alle anderen Elemente, anders als alle anderen Metalle – und das überrascht die Wissenschaft – spielt es im Kreislauf des Lebens, im ökologischen Austausch keine Rolle. Es wurde erst im zwanzigsten Jahrhundert in grossen Mengen verfügbar, weil es schwierig zu gewinnen ist. Das gelingt auf komplizierte Weise fast nur aus Bauxit.

Ich, die ich jahrelang mit Aluminium hantierte – vom alten italienischen Kaffeekännchen bis zu der Folie, die ich über eine angebrauchte Sellerieknolle stülpte – erfahre erst in diesem Dokfilm, was es damit auf sich hat. Nie hab ich bis jetzt in diesem Fall den Rat befolgt, den Douglas Thomkins, der Naturschützer, jedem gibt. Jedesmal, wenn man etwas benutzt, vom elektrischen Licht bis zum Plastikbecher, sollte man sich darüber informieren, woher das alles kommt. Wo der Ursprung liegt, wie es gefertigt wurde. Ich bin betroffen von dem, was ich da sehe:
Riesige Flächen unberührter Regenwald in den Tropen werden gerodet, um Bauxit abzubauen. Wiederum riesige Flächen werden mit rotem hochgiftigem Abbauschlamm bedeckt. Riesige Mengen Energie werden bei den verschiedenen komplizierten Schritten der Produktion gebraucht, bis das glänzende Aluminiummetall verfügbar ist, oder die Aluminiumverbindungen, die von der Wasserreinigung bis zur Verwendung in verschiedensten Medikamenten gebraucht werden.
Doch immer öfter zeigt sich, dass nicht nur der Abbau, die Produktion, die komplizierte Verarbeitung problematisch sind, sondern auch die Verwendung: Krebs, Alzheimer, Allergien? Wissenschaftler versuchen, dem nachzugehen, doch Geld für solche Forschung gibt es kaum. Denn wer könnte daran verdienen, wenn sich Negatives zeigte? Aluminium ist ein zu toller Werkstoff!
Aber Unfälle, bei denen der hochgiftige Abfall, der rote Schlamm mit Tier und Mensch in Berührung kam, richteten schon Verheerungen an. Und beim illegalen Abbau von Bauxit, wie das in den Bergen Tansanias gemacht wird, werden ganze Gegenden zu unfruchtbaren Wüsten, abgeholzt oder von riesigen giftigen Deponien bedeckt. Dort in Tansania, droht für ein grosses, von hunderttausenden von Menschen bewohntes Gebiet, die Verseuchung des Grund- und Trinkwassers, so informieren NGOs. Dort gräbt der Abbau das Wasser für den geschützten Bergwald ab, und zerstört so ein einzigartiges Oekosystem.

 

Das schöne glänzende Metall hat als Gebrauchs-„Mittel “ riesige Nebenwirkungen, so zeigt es sich. Die rasant sich entwickelnde Technik hat im zwanzigsten Jahrhundert viele andere solche „Mittel“ hervorgebracht: Heilmittel, Verkehrsmittel, Kommunikationsmittel, Mittel zur Energieerzeugung, Hilfsmittel jeder Art.

Nach der antiken Sage öffnete Pandora unerlaubt den Behälter, den Zeus ihr gegeben hatte, und liess damit die damals bekannten Plagen der Menschheit entweichen: Krankheiten, Kriege, Naturkatastrophen.

Am Beginn der Neuzeit wurde sie nochmals geöffnet, diese Büchse der Pandora.
Es sind neue Plagen darin. Sie haben ein doppeltes Gesicht, waren von der Menschheit entwickelt, entdeckt worden, sind ursprünglich „Mittel“, um das Leben besser, bequemer, sicherer und üppiger zu machen
Doch nun zeigen sich ihre dunklen Seiten. Wo sie in riesigen Mengen erzeugt und verwendet werden, sind ihre Auswirkungen nicht nur für die Menschheit, sondern für alles Leben auf der Erde fatal. Das reicht vom Öl aus dem Stoff riesiger Reserven versunkener Urlebewesen, das unsere Wirtschaft und Mobilität am Leben hält, bis zu all den chemischen Mitteln, die unser Leben verlängern, unsere Häuser reinhalten, und unsere elektronischen Geräte zum Funktionieren bringen. Aluminium gehört dazu, und das für uns so praktische Plastik, das im Meer alles Leben gefährdet, und nicht mehr daraus entfernt werden kann.

 

 

Der französische Philosoph Bernard Stiegler analysiert diese Zusammenhänge. spricht wie Platon vom „Pharmakon“, von dem dieser schon in der Antike zeigte, wie es sich vom Heilmittel zum Gift wandelt, wenn damit nicht Mass gehalten wird. In der Pandora-Büchse der menschlichen Zivilisation sind es die „Pharmaka“ – die Wundermittel der Technik und der Zivilisation -, die in den letzten Jahrzehnten gefährliche Nebenwirkungen zeigen. Nach Bernhard Stiegler hängt diese Entwicklung mit einer Wirtschaftsform zusammen, die keine Begrenzung kennt, mit einem Kapitalismus, der immer wachsen muss, immer mehr erzeugt und verbraucht. Und weil in dieser Wirtschaft Reichtum nur in Geld gemessen wird, also eigentlich virtuell ist. Um Geld anzuhäufen wird verbraucht was nicht als Wert verbucht wird: Natur, ihre Schönheit, die Vielfalt des Lebens, bis hin zu den fundamentalsten Lebensgrundlagen. Je mehr die „Mittel“ liefern müssen, je schneller die Spirale von Produktion und Konsumismus sich drehen muss, desto grösser zeigen sich ihre giftigen Nebenwirkungen.

Wir befinden uns in einer Übergangszeit, so die Analyse von Bernard Stiegler. Er diagnostiziert den Neoliberalismus, der sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer mehr durchgesetzt hat, als die Ursache dafür, dass diese Wirtschaftsform buchstäblich entartet ist. Die ökonomische Krise ist das erste Symptom, dass dieses Mittel, das vorher Wohlstand brachte, in vielen Ländern nun seine schlimmen Nebenwirkungen zeigt.
In den Ländern, die durch diese Art des Neoliberalismus zahlungsunfähig sind, besteht die Gefahr, dass das in Bürgerkriege, oder in eine menschenverachtende rechtsextreme Diktatur mündet. Beides zeichnet sich da und dort schon ab.

Die ökologische Krise folgt: Klimaveränderung, Langzeit-Schäden durch Unfälle in Atomkraftwerken, sind die ersten Symptome. Kriege um Wasser sind zu erwarten. Wenn Reichtum nur Geld ist, so spekuliert man mit Nahrungsmitteln, macht Wasser zum bezahlten Konsumgut, das die Armen nicht mehr bezahlen können. Die immer effizientere Ausbeutung der natürlichen Ressourcen mit technischen Mitteln ruiniert die Fischgründe im Meer, – rationelle Massenproduktion von Fleisch geht auf Kosten von Tier, Klima und Umwelt.
Und dort wo Kapital in den Ländern des Südens grosse Landstriche für die reich werdenden Schwellenländer aufkauft, werden die vertriebenen Bauern in Völkerwanderungen und Aufständen um ihre Existenz kämpfen.

 

 

In dieser Situation, so schreibt Stiegler, müsse sich das Wertsystem und damit das Wirtschaftssystem grundsätzlich ändern.
Was Stiegler heute sagt, haben seit Jahren schon viele andere gefordert: Der Club of Rome vor rund vierzig Jahren – „die Grenzen des Wachstums“, hiess ihre Studie. Vom Schweizer Ökonomie -Professor Hans-Christoph Binswanger hörte ich in einem Vortrag vor mehr als dreissig Jahren die Warnung, dass durch diese Art von Wachstumskapitalismus schlussendlich die Welt in Geld und Abfall verwandelt würde. Professor David Korten in USA, Paul Hawken, und noch früher Ivan Illich und Erich Fried, und viele andere seit Henry David Thoreaus „Walden“ schrieben Bücher mit ähnlichen Analysen und Forderungen.
Umkehr? Veränderung? Wir sind an einem Punkt angelangt, wo sie sicher unausweichlich wird. Aber wie soll das gehen, wenn nicht alle mitmachen, mitmachen können? Wenn selbst Philosophen wie Bernard Stiegler zwar ein Umdenken fordern, auf Information setzen, aber auch nicht genau wissen, was im Detail genau zu tun wäre? Doch es wird weiter gehen, es wird grundlegende Änderungen geben, ungewollte, unerwünschte wahrscheinlich. Denn die „Mittel“ die „Pharmaka“ mit ihren Plagen, ihren Schattenseiten können wir nicht mehr in die Büchse der Pandora zurück verschliessen.

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