«Die Emotionalität der Geschichte zum Schwingen bringen»
Von Rolf Breiner
1958 – Wiederaufbau, Wirtschaftswunder. In Deutschland will man vergessen, die Vergangenheit verdrängen. Erst ein junger Staatsanwalt öffnete der deutschen Öffentlichkeit die Augen und initiierte die Auschwitzprozesse. Er ermittelte gegen KZ-Betreiber und Aufseher. Ein aufwühlendes starkes Justizdrama – ohne Prozess: «Im Labyrinth des Schweigens».
Giulio Ricciarelli, Regisseur italienischer Abstammung, hat mit seinem beeindruckenden Spielfilm ein Geschichtskapitel aufgeschlagen, das wesentlich zur Vergangenheitsbewältigung Deutschlands beitrug. Wir sprachen mit dem Regisseur Giulio Ricciarelli und dem Hauptdarsteller Alexander Fehling.
Sie sind 1965 in Mailand geboren, liessen sich in Deutschland ausbilden und haben als Schauspieler an diversen deutschsprachigen Bühnen von Berlin über Stuttgart bis Basel gearbeitet. «Im Labyrinth des Schweigens» ist Ihr Kinospielfilmdebüt als Regisseur und Autor. Wie vertraut sind Sie mit der jüngsten deutschen Geschichte?
Giulio Ricciarelli: Ich war mit den NS-Verbrechen durchaus vertraut, nicht aber mit diesem Teil der jüngeren Geschichte, wie lange es nämlich gedauert hat, diesen Prozess anzukurbeln, bis 1963 eigentlich, als man mit dem kollektiven Aufarbeiten der Geschichte begann. Das hat mich verblüfft. Elisabeth Bartel, mit der ich das Buch geschrieben habe, hatte die Idee, diesen Stoff zu verfilmen. Wir haben uns zusammen an ihren Küchentisch in München gesetzt und haben den Grossteil des Buches zusammen geschrieben.
Haben Sie sich an diesem Stoff abgearbeitet?
Es war extrem komplex, dieses Buch zu verfassen, und extrem schwierig, aus diesem historischen Thema einen Film zu machen.
Es gibt eine Unmenge Material, allein 400 Stunden Tonmaterial von den Prozessen. Wie haben Sie das bewältigt?
Ein Film vermag etwas, was in einem Buch oder Dokumentarfilm nicht funktioniert: Er kann einen in solche eine Welt reinholen und die emotionalen Aspekte einer Geschichte zum Schwingen bringen. Es war unsere Aufgabe, die Leute abzuholen und in eine Zeit zu holen, wo eine unglaubliche Naivität geherrscht hat, wo die Jungen gar nichts wussten. Die Täter haben geschwiegen und die Opfer auch. Die meisten, die etwas geahnt hatten, haben verdrängt.
Eine Dokufiction kam nicht in Frage…?
Nein. Wir arbeiten nicht mit Dokumentaraufnahmen. Die Zeugen (und Schauspieler) sprechen für sich, sie erzählen, schildern die Verbrechen. Wir zeigen sie aber nicht. Wir wollten dem Zuschauer einen Anstoss geben, um dann seine Phantasie anzuregen.
Das ist eine der grossen Stärken des Films; das Auslassen. Sie haben verdichtet und sich gleichwohl an die historische Basis gehalten.
Der Film stimmt hundertprozentig. Es gibt den Journalisten, der tatsächlich in Auschwitz war. Natürlich Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der eine massgebliche Rolle beim Zustandekommen der Frankfurter Prozesse spielte, im Film von Gert Voss verkörpert. Ich wollte kein Biopic liefern, deswegen haben wir diese Figur des jungen Staatsanwalts Johann Radmann geschaffen. Er steht für diese junge Bundesrepublik.
Wie interpretieren Sie den Filmtitel «Im Labyrinth des Schweigens»? Deutet er an, dass der ermittelnde Staatsanwalt sich verlieren könnte?
Es gab mal den Arbeitstitel «Im Labyrinth der Schuld», aber wir mochten das Wort Schuld nicht. Der Staatsanwalt begibt sich in ein Labyrinth, und sein Mentor, Fritz Bauer, warnt ihn vor dem Verlieren, Verirren. Für mich persönlich bleibt unverständlich, was damals geschehen ist. Ich konnte es als kleiner Junge nicht begreifen. Und heute weiss ich, was passiert ist, aber verstehen kann ich es nicht.
Sie hängen Ihren Film an Personen auf, deren Geschichte beziehungsweise ihre Konfrontation mit der jüngsten Vergangenheit. Es ist kein eigentliches Justizdrama, denn der Film endet vor den Prozessen in Deutschland. Ihr Staatsanwalt ist ein Rechtsritter, ein Idealist, dessen schwarzweisses Gut-Böse-Bild zerbricht.
Wir haben ganz bewusst keinen Film über die absoluten Täter und Opfer gemacht, sondern über Menschen in der Mitte. Was bedeutet es, wenn man wegschaut, nicht nachfragt, wohin Familien aus dem Haus verschleppt werden? Was heisst da Schutzhaftlager? Es gibt ja den zweiten Staatsanwalt Otto Haller, gespielt von Johann von Bülow, der sagt: Wir hätten nur die Augen aufmachen müssen. Eine bürokratische Figur, die sich aber wandelt und begreift, dass man weiter recherchieren muss.
Was war Ihr Ziel, was soll Ihr Film bewirken?
Ich wollte, dass der Zuschauer am Ende einfach den Film im Kopf hat. Wir wollten nicht Schauspieler oder die Musik von Niki Reiser und Sebastian Pille, die fantastisch ist, in den Vordergrund stellen, sondern die Geschichte.
Aus meiner Sicht ist der Film nüchtern und sehr sachlich, aber auch sehr stimmig. Was erhoffen Sie sich vom Publikum?
Der Film ist wie ein Schiff, das man baut und dann vom Stapel läuft. Man hofft, dass es schwimmt. Ich komme vom Theater und hoffe, dass das Kinopublikum gepackt wird und die emotionalen Bögen und Reise mitmacht. Wir haben auch bei jungen Leuten ein positives Feedback bekommen. Der Film versucht, eben mit Nüchternheit und Klarheit, die Emotionalität aufzubauen.
Wie beurteilen Sie das Schweizer Publikum?
Ich war zwei Jahre am Theater in Basel engagiert, habe in der Schweiz gelebt. Ich weiss, dass es in der Schweiz viele Cineasten gibt, die das Kino lieben. Und das hoffen wir auch für unsern Film.
Alexander Fehling, 1981 in Berlin geboren, kommt vom Theater, hat aber auch schon einige Filmrollen gespielt, beispielsweise in «Buddenbrocks» (Heinrich Beloer), «Inglourious Basterds» (Quentin Tarantino) oder in «Buddy» (Michael Bully Herbig). Er spielt «Im Labyrinth des Schweigens» den Jungjuristen Johann Radmann frisch von der Uni, der sich in Frankfurt die Sporen abverdienen und mit Verkehrsdelikten beschäftigen soll. Er wird hellhörig, als der Journalist Thomas Gnielka (André Szymanski) von einem ehemaligen KZ-Aufseher berichtet, der jetzt unbehelligt als Lehrer tätig ist. Als Radmann insistiert, wird er von seinem direkten Vorgesetzten, Oberstaatsanwalt Walter Friedberg (Robert Hunger-Bühler), zurückgepfiffen. Auch Kollege Otto Haller (Johann von Bülow) ist skeptisch. Allein der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (Gert Voss) bestärkt ihn und hält ihm den Rücken frei. Schritt um Schritt gräbt der junge Humanist Radmann in der jüngsten deutschen Vergangenheit, nimmt Kontakt mit dem Document Center der US-Army auf, besucht Opfer, die den Holocaust überlebt haben. Er findet Spuren vom KZ-Arzt Josef Mengele und SS-Mann Adolf Eichmann, der für die Deportation und Ermordung Millionen von Juden verantwortlich war.
Die Geschichte der Aufdeckung, der Verfolgung der Nazi-Täter, um ihnen den Prozess zu machen, beruht auf Tatsachen. Fritz Bauer, Richter und Staatsanwalt, hat tatsächlich gelebt. Zusammen mit jungen Staatsanwälten hat er gegen untergetauchte Nazis recherchiert und das Rechtsbewusstsein der Bundesrepublik entscheidend beeinflusst.
Wir sprachen mit dem Schauspieler Alexander Fehling, der Radmann spielt, anlässlich des Zurich Film Festivals.
Wie sind Sie an den Stoff herangegangen? Waren Sie vertraut mit diesem Teil der Nachkriegsgeschichte?
Alexander Fehling: Ich wusste nicht so viel über die Frankfurter Auschwitz-Prozesse. Den Namen Fritz Bauer hatte ich schon mal gehört, wusste aber nicht um seine Bedeutung und was er geleistet hat. Ich habe mit dem Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt zusammengearbeitet, habe mich mit Historikern dort unterhalten, und wir hatten 400 Stunden Tonmaterial. Denn während der Prozesse durfte nicht gefilmt werden. Und diese Prozess-Dokumente sind wirklich eindrucksvoll.
Wie beurteilen Sie Ihre Figur?
Meine Figur ist eigentlich eine Kombination dreier Anwälten, die in meinem Alter waren. Einer davon ist der Staatsanwalt Gerhard Wiese. Mit dem habe mich über die Zeit damals unterhalten. Und irgendwann, wenn man das ganze Wissen angehäuft hat, beschäftigt man sich wieder mit dem Drehbuch. Und man spielt diese Figur, denn Wissen kann man nicht spielen.
Wie schätzen Sie diesen jungen aufstrebenden Staatsanwalt, diesen Idealisten ein?
Ich tue mich immer schwer mit Adjektiven. Die sind immer bewertend. Man guckt dann von oben herab. Aber das ist nicht mein Job, ich kann nur sagen, was er tut oder was er will. Er hat eine gewisse Naivität, will Verantwortung übernehmen und ist ehrgeizig. Vor allem hat er eine klare Vorstellung von Gut und Böse, richtig und falsch und im Zuge der Ermittlung auch von schuldig oder nichtschuldig. Auf seiner Reise gelangt er zu einer gewissen Demut, und die Einsicht, dass die Begrifflichkeit, mit der er sich eingerichtet hat, möglicherweise gar nicht so stimmt. Die Dinge sind komplexer.
Wohin führt die Reise, worum geht’s eigentlich?
Fritz Bauer hat mir gesagt: Es ginge hier nicht um Bestrafung, nicht nur um die Vergangenheit, sondern um einen Weg in die Zukunft. Es geht darum, dass man Verantwortung übernimmt und nicht nur um Bestrafung.
Was brachte Ihnen diese spezielle Filmerfahrung?
Es war spannend. Ich lern immer etwas dazu. Durch diese Arbeit muss ich mir Dinge aneignen, die ich noch nicht kenne. Und sonst gar nicht machen würde.
Filmtipps
Von Rolf Breiner
The Hunger Games – Mockingjay Teil 1
Eine (kommerzielle) Unsitte macht sich breit. Das Finale einer Filmreihe, einer Trilogie wird ausgewalzt und in zwei Partien serviert – bei den Hobbits, bei Harry Potter. Nun sind die finalen Teile der Trilogieverfilmung «The Hunger Games» (Die Tribute von Panem) angesagt, Portion 1 jetzt 2014, das Finale des Finals, eben Teil 2, dann 2015. Na, danke! Überschrieben ist das doppelte Endspiel mit «Mockingjay». Im Deutschen klingen Namen wie «Hunger Games – Hungerspiele» oder eben «Mockingjay – Spotttölpel» eigenartig und absurd. «Panem»-Kenner wissen, dass dies eine Vogelart des Panem-Universums ist, eine Kreuzung zwischen Spottdrossel und Schnattertölpeln, die zur Symbolfigur der Rebellen wurde, eben Spotttölpel. Viel Besonderes um nichts. Ein Blick zurück zu den Anfängen 2012 macht übrigens mehr Spass als das neuste Produkt: Jennifer Lawrence alias Katniss hatte noch etwas Babyspeck, Liams Hemsworth (Gale) und Josh Hutcherson (Peeta) wirken wirklich wie unschuldige Jünglinge. Aber das nur nebenbei. Zum aktuellen Film: Miss Everdeen (Lawrence) landet im District 13, wo unterirdisch die Rebellion gegen das tyrannische Capitol organisiert wird. Katniss Everdeen soll als Aushängeschild, eben als Mockingjay, dienen und agiert als Modell für eine Werbekampagne der Widerständler. Die Heroin und Siegerin der «Hunger Games» hat ein Problem, sie sehnt sich nach ihrem Geliebten Peeta, der freilich dem Capitol-Tyrannen Snow (Donald Sutherland) ausgesetzt ist und, einer Gehirnwäsche unterzogen, gegen die Rebellen redet, sie aber auch warnt. Kurzum: «Mockingjay 1» kommt schwer in Fahrt. Der Gefühlsschmus dauert gut eine Stunde, bevor es kurz zur Sache geht im Streifen von Francis Lawrence. Auch dann bedarf es Erläuterungen, Kriegserklärungen und Befindlichkeiten um Gale und Peeta, Katniss Schwester und einem Kater. Bomben fallen, der Krieg beginnt. Fortsetzung folgt 2015. Der SF-Streifen im modischen Dystopie-Trend ist kein Highlight, auch wenn Jennifer Lawrence als gequälte Heldin überzeugt, Julianne Moore als District-Präsidentin eine gute zwielichtige Figur macht und Philip Seymour Hoffman als Plutarch gekonnt im Hintergrund agiert – seine letzte Rolle. Ein kommerziell raffiniert angelegtes Kinoprodukt für Eingefleischte – aber reicht das?
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A Walk Among The Tombstones
Eine gescheiterte Existenz, Alkoholiker und einsamer Wolf: Der Ex-Cop Matt Scudder (Liam Neeson) versucht, tödliche Fehlschüsse in einer Polizeieinsatz zu ertränken, im Alkohol, und lässt sich als Privatdetektiv auf eine diffuse Sache ein. Die Frau eines Drogendealers (Dan Stevens) ist brutal ermordet worden, Scudder soll ermitteln. Weitere Morde folgen. – Wenn ein Thriller das Prädikat «cool» verdient, dann diese Krimiverfilmung von Scott Frank. Schauplatz ist New York. Auch wenn sich die Vorgeschichte des Cops in den Neunzigerjahren ereignet, spielt das Geschehen heute und doch hat der Streifen den Geruch der Vierziger- oder Fünfzigerjahre, als Hardboiled-Helden wie Philip Marlowe oder Sam Spade das Kino in Spannung hielten. Der Film wirkt wohltuend altmodisch, verzichtet auf hektische Actionkrawalle und Spektakel. Dass dem alten Fuchs Scudder der agile junge Gossen-Schnösel TJ (Brian Bradley) zur Seite gestellt wird, sorgt für nette Intermezzi und Sozialkomponente, ist aber weder zwingend noch logisch oder erhellend. Unbestritten ist Liam Neeson («Schinderler’s List») eine Idealbesetzung. Das könnte eine andere coole Kinoserie werden. Neeson ist nicht abgeneigt und der New Yorker Autor Lawrence Block hat 17 Matthew-Scudder-Thriller geschrieben von 1976 bis 2011. Der Roman «A Walk Among Tombstones» (Endstation Friedhof) erschien 1992. Da ist noch eine Menge Stoff drin.
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The Riot Club
Verwöhnt, verkommen, verdorben: Der arrogante Eliteclub «Riot Club» an der Universität Oxford ist schlimmer als die Polizei erlaubt, aber das wissen nur Eingeweihte. Studienanfänger Miles (Max Irons) soll aufgenommen werden – nach (widerlichen) Tests. Freundin Lauren (Holliday Grainger) ist skeptisch und rät ab, aber Miles kann dieser Image-Verlockung nicht widerstehen. Und die Hagestolze unter Führung des Clubpräsidenten James (Freddie Fox) planen das alljährliche Dinner in einem Landgasthaus. Es wird geprasst, gesoffen und randaliert. Doch Wirt Chris und seine Tochter Rachel (Jessica Brown Findlay) ahnen nicht, was ihnen von den zehn ausgelassenen, hemmungslosen Gästen blüht. Nicht nur dass ein Callgirl auftaucht und abtaucht, dass Miles’s Freundin Lauren perfid herbestellt wird und sich nur mühsam den Übergriffen der Saufbrüder erwehren kann, die ganze Bande aus «gutem Hause» rastet auch noch aus, demoliert die Einrichtung – und den Wirt. – Grundlage des Films bildete das Bühnenstück «Posh» (2010) von Laura Wade. Die Dänin Lone Scherfig hat das grimmige, abschreckende Drama mit Verve und perfidem Understatement in Kinoszene gesetzt. Die Sprösslinge dieser High Society sind schier unerträglich und haben doch einen realen Hintergrund. So kann man diesen «Riot Club» als böses Spiegelbild einer englischen Upper-Gesellschaft interpretieren, die Recht dehnt, Macht missbraucht und keine Moral kennt. Besser als jede Sozial- und Gesellschaftskunde!
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My Old Lady
Der Mittfünfziger Mathias Gold (Kevin Kline) will in Paris ein Erbe antreten. Eine verkrachte Existenz. Sein Leben war bisher ein Fiasko: Seine Ehen gingen in die Brüche, seine Kindheit war unglücklich, seine Mutter hat sich umgebracht, und er ist mittellos. Nun also die Villa in Paris, doch er hat die Euro- und Erbschaftsrechnung ohne die rüstige 92-jährige Lady (Maggie Smith) und eine französische Eigenart, die Immobilienrente (rente viageré), gemacht. Das alte Stadthaus hat zwar Millionenwert, aber einen Haken. Denn Bewohnerin Mathilde, die sich bester Gesundheit erfreut, hat lebenslanges Wohnrecht, verfügt von Max, Mathias Vater und Mathildes ehemaligem Geliebtem. Ohne die alte Lady läuft nichts. Der kapitalklamme Gold sieht seine Felle davonschwimmen und sich wieder als Verlierer. Ausserdem liegt er im Clinch mit Cloé (Kristin Scott Thomas), Mathildes Tochter. Es ist nicht alles Gold, was glänzt, schon gar nicht im Falle des Alkis Gold. Doch natürlich besteht Hoffnung, eine kleine Bühne für grosse Mimen wie Maggie Smith, Kevin Kline und Kristin Scott Thomas – amüsant, liebenswert und sehr lebensinnig in der Alters-und Liebeskomödie von Israel Horovitz, der sein eigenes Bühnenstück, das 2002 erfolgreich am Broadway lief, für die Leinwand adaptiert hat. Der Autor und Regisseur hat ein wenig dazu gepackt (Pariser Szenerie), hat ausgebaut, etwa die Figur von Chloé, und die ganze schöne Immobilienkiste. Das ist ihm mit Charme und exzellenten Darstellern gelungen.
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Hin und weg
Die Jugendbande, inzwischen im reifen Alter um die 40 Jahre, rüstet zur traditionelle Velotour. Hannes (Florian David Fitz) und seine Frau Kiki (Julia Koschitz) haben als Ziel Belgien bestimmt. Da greifen sich Stimmungskanone und Prolo-Frauenheld Michael (Jürgen Vogel) und das Pärchen Mareike (Victoria Mayer) und Dominik (Johannes Allmayer) an den Kopf. Spinnt der Hannes? Belgien ist doch langweilig – ausser Pommes nichts gewesen? Doch da ist noch etwas, nämlich Hannes‘ heimlich geplante letzte Reise. Er ist krank, todkrank, er leidet an ALS, einer unheilbaren Krankheit, die das Nervensystem angreift. Er will nicht wie sein Vater enden, sondern seinen Tod selbst bestimmen, in Ostende eben. Das hat er bereits arrangiert, nur seine Partnerin Kiki und die Mutter Irene (Hannelore Elsner) sind eingeweiht. Als Hannes Bruder Finn (Volker Bruch) vom wahren Reiseziel erfährt, will er nicht mitmachen, schliesst sich aber später doch der Gruppe an. Dank Michaels Aktivitäten gesellt sich die Belgierin Sabine (Miriam Stein) hinzu. Und so radelt das Trüppchen der Endgültigkeit entgegen – zwischen Spass und Gelage, Schock, Trauer und Hilflosigkeit. Christian Zübert hat diese letzte Tour mit Gespür für Emotionen inszeniert. Er dosiert alberne Zwischenspiele und Liebesgeplänkel, jongliert zwischen Lebensfreude und –leid. Ins Zentrum seiner Tragikomödie stellt er indes nicht das beschlossene Sterben oder den Tod des Freundes, sondern den Umgang mit dieser Entscheidung. Die Sterbehilfe durch einen belgischen Arzt bleibt ein Nebenthema, das eigentlich nicht behandelt wird. Das Ende ist endgültig, wenn auch etwas verkitscht und süsslich melancholisch. Die Botschaft bleibt: Feiern wir das Leben!
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Das Salz der Erde
Er ist ein Mann der Bilder, hat die Fotografie für sich entdeckt, der grosse Filmer Wim Wenders. Schon vor Jahren hatte er den brasilianischen Fotokünstler Sebastião Salgado für sich entdeckt und kam dann mit ins Dokuspiel. Der Sohn Juliano Ribeiro hatte seinen Vater auf mehreren Fotoreisen begleitet, gefilmt, doch es fehlte noch ein Beobachter von aussen, um Leben und Werk des Bildermachers Salgado auf den Punkt, auf Bild und Wort zubringen. Wenders führte zahlreiche Interviews mit dem Brasilianer. Anfangs noch als Interviewer im Bild, hat er später er eine andere einleuchtende Methode entwickelt: Er hat die Teleprompter-Dunkelkammer erfunden, Selgado vor seine Fotografien gesetzt und blieb selber im Hintergrund. Zusammen – Vater und Sohn Salgado und Wenders – haben so nicht nur ein faszinierendes Künstlerporträt geschaffen, sondern das Werden und Wirken von Bildern unserer Erde in eine persönliche Geschichte und Entwicklung eingebettet. Die Reise von Goldminen in Brasilien führt zu Kriegsschauplätzen in Afrika, Asien, Nahost und Europa, zu schier unberührten Flecken auf der Erde (Südamerika, Sibirien, Antarktis) und letztlich zum Umweltprojekt auf dem Anwesen der Salgados. Hier hat sich der Bildkünstler für die Aufforstung und Rekonstruktion des Regenwaldes eingesetzt und ein Stück Natur quasi wiederbelebt, nachdem er von all dem menschlichen Leid so beelendet war, dass er in eine Lebenskrise geriet. Der Dokumentarfilm von Wender und Salgado erweist sich als einzigartige Genesis – überwiegend in Schwarzweissbildern. Meisterlich.
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And So It Goes
Komödienspezialist Rob Reiner («When Harry Met Sally») setzt auf Bewährtes: eine eingängige Story mit zwei unterschiedlichen Charakteren, Liebe im Clinch und zwei Stars, die munter in dieser Romanze mitmischen, nämlich Michael Douglas und Diane Keaton. Das ist ganz nett anzuschauen, bleibt aber letztlich eine Seifenblase, die rasch zerplatzt. Der deutsche Titel «Das grenzt an Liebe» ist ebenso irreführend wie die (durchschaubare) Konstellation: Das Ekel Immobilienmakler Oren Little (Michael Douglas), irrt sich und verguckt sich dann in seine energische Nachbarin und Sängerin Leah (Diane Keaton). Er wandelt sich und hilft ihr auf die Performancesprünge. Ein Märchen der kitschig-schönen Art. Das Beste daran sind die Auftritte der Keaton als Sängerin, die dank Little an sich glauben lernt.
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Liebe und Zufall
Eigentlich ist die Geschichte hinter der Geschichte des Films interessanter und spannender als das Leinwandprodukt selber – leider. «Liebe und Zufall» – so heisst ein Roman, den Fredi M. Murer am 90. Geburtstag seiner Mutter geerbt hat (sie starb mit 94 Jahren). Akten voller handbeschriebener Blätter, die sie heimlich niedergeschrieben hatte: vier Romane und eine Art Autobiographie, heisst es in den Anmerkungen des Regisseurs. Und eine Geschichte – man könnte von einer unerfüllten Jugendliebe sprechen – hat Murer fürs Kino adaptiert. Sie spannt sich vom Zürichberg bis nach Texas. Die 76jährige Elise (Sybille Brunner) verguckt sich eines Tages in einen jungen Tierarzt, der ihrer Jugendliebe unglaublich gleicht. Derweil ihr Ehemann Paul (Werner Rehm), auch nicht mehr der Jüngste mit 79 Jahren, einen Mann mit seinem Maserati-Oldie anfährt und sich mit dem Verunfallten anfreundet. Er reist ins Tessin, um in Ascona endlich reinen Tisch mit seinem ehemaligen Partner zu machen, der ihn einst über den Tisch gezogen hat. Das (theatralische) Tüpfelchen auf die rückwärts gewandten Aktionen ist jedoch das theatralische Intermezzo, das sich die korpulente Haushälterin Angela (Silvana Gargiulo), eine Wuchtbrumme aus Neapel, leistet. Ihre Leidenschaft fürs Theater wird endlich belohnt, als Spielleiter Enrique von Moos (Ueli Bichsel) sie für sein Kleintheater anheuert. Angela quittiert den Dienst, aber auch Elise und Paul sehen neue Horizonte. Jeder wird irgendwie von der Vergangenheit eingeholt und bricht zu neuen Ufern auf. Das alles vernetzt Murer zu einem Altersliebesdrama, mit komödiantischem spitzbübischen Einschlag. Man muss schon sehr aufmerksam sein, um all die Verquerungen und Verwirrungen einzuordnen, um den Faden nicht zu verlieren. Spassig wird’s vor allem dann, wenn Bichsel und Gargiulo, die auch neben dem Film ein real existierendes Bühnenpaar bilden. Hier vermengt Murer Realität mit Theatralik und Fiktion. Schade nur, dass dieses Senioren-Coming-out zu viele Verästelungen mit sich bringt und ausufert. Weniger wäre einmal mehr gewesen. Da kann man nur hoffen, dass dies nicht sein letzter Kinofilm gewesen ist, wie Murer andeutete.
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Mr. Turner
Er war ein Vorbereiter der Moderne – im 19. Jahrhundert. Joseph Mallord William Turner, so sein vollständiger Name, war als Maler seiner Zeit voraus. Seine See- und Landschaftsbilder sind vielen vielleicht präsent. Nicht seine Thematik, sondern sein Stil, seine Entwicklung haben den Impressionismus eingeleitet. Turner starb 1851. Seine letzten Worte: «The sun is God». Der 71jährige Altmeister Mike Leigh («Vera Drake», «All Or Nothing») nahm sich das zu Herzen. Sein Kameramann Dick Pope hat dem «Meister des Lichts» seine Referenz erwiesen und fotografiert, als ging es um Turner-Gemälde. Sensationell sehenswert. Regisseur und Autor Leigh reiht locker Episoden aus den letzten Lebensjahrzehnten des Malers aneinander (ab 1826). Sein Porträt pendelt zwischen künstlerischen Ambitionen und Umfeld sowie um den exzentrischen Menschen, der eine Doppelbeziehung führte – mit seiner geduldigen und opferbereiten Haushälterin Hannah (Dorothy Atkinson) in London und der properen Witwe Mrs. Sophia Booth (Marion Bailey) in Margate, einem Küstenstädtchen im englischen Südosten. Dieses Verhältnis hielt Turner geheim. Der radikale Ergomane ist nicht gerade ein Sympathieträger, aber Mann mit Weitsicht. Leigh verklärt ihn nicht, aber wird ihm gerecht in Bild und Darstellung, auch dank des phänomenalen Schauspielers Timothy Spall, als bester Schauspieler am Filmfestival Cannes ausgezeichnet.
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Kuzu
Ein ärmliches Bergdorf in Ostanatolien, in dem die Zeit scheinbar stehen geblieben ist. Ismail (Cahit Gök) ist einer der Ärmsten. Der arbeitslose Handlanger kann seine Frau Medine, das Töchterchen Vicdan und den Sohn Mert kaum durchbringen. Wesentlich zum Unterhalt trägt Medine bei, die Weidenreuten sammelt und als Brennholz verkauft. Nun steht das traditionelle Beschneidungsfest für den Sohn an. Ein Lamm muss her, aber woher nehmen, wenn man keine Mittel hat? Die Mutter verzweifelt schier. Und der Vater? Er bekommt kurzfristig einen Job und wirft den ersten Lohn der Künstlerin (und Prostituierten) Safiye in den Schoss. Es zieht ihn wieder und wieder zur Liebesdienerin. Was soll nur aus Mert und dem wichtigen Fest werden? Alle Bettelei nutzt nichts, die Dorfgemeinschaft verweigert sich, aber die Mutter gibt nicht auf . In archaischen Bildern beschreibt Filmautor Kutluĝ Ataman die Leidensgeschichte des Versagens, der Verantwortung und einer Emanzipation. Sein dokumentarisch anmutendes Familiendrama «Kuzu» schildert den Konflikt modernen und traditioneller Kräfte – eindrücklich. Dabei rückt die Frau – hervorragend Nesrin Cavadzade als Medine – immer stärker in den Mittelpunkt und erweist sich als starke treibende Kraft, während die Männer im Alten verharren:
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Maze Runner – Die Auserwählten im Labyrinth
Der junge Thomas (Dylan O’Brien) wird mit einem unterirdischen (?) Fahrstuhl ans Licht geschossen und landet in einer Lichtung, wo eine Jungenbande haust, die ihn als Neuling in Empfang nimmt. Er weiss nicht, wer er ist (erst später erinnert er sich an seinen Namen), wo er und wozu er hier ist. Dieser lichte Ort mit Wald ist von gigantischen Mauern umschlossen, dem Labyrinth. Nur die so genannten Läufer sind befugt, tagsüber das Labyrinth zu erkunden, bevor abends die unheimlichen Mauern schliessen. Der Neuling will dazu gehören, aber auch das Geheimnis des Labyrinths aufdecken und ausbrechen. Er gewinnt das Vertrauen des Anführers Alby (Ami Ameen) und macht sich bei einigen unter der 50-,60-kopfigen Horde junger Leute unbeliebt, weil er die Ordnung in diesem Mikrokosmos in Frage stellt und rebelliert. Weitere Unruhe bringt das erste Mädchen, Teresa (Kaya Scodelario), das neu ankommt. Im Labyrinth lauern Monster, und Thomas kann eines erledigen, Das weckt Hoffnung. Tatsächlich kommt ein Trüppchen dem Geheimnis näher, aber der Zuschauer wird auf die Fortsetzung vertröstet. – Nach bewährtem System (siehe «Hunger Games – Die Tribute von Panem» oder Marvel Comics) greift Hollywood immer häufiger auf mehrteilige Geschichten und Comics zurück. Die Romantrilogie «The Maze Runne» von James Dashner liegt nun als erster Filmteil vor. Der mit der Materie nicht vertraute Zuschauer wird über den Weg der jungen Ausbrecher, über Hintergründe dieses offensichtlichen Sozialexperiments (noch) im Dunkeln gelassen, das recht mysteriös daherkommt. Wurden die Teenager in eine archaische Gesellschaftsform der Jäger und Sammler zurückkatapultiert, um die Welt retten? Dieses dystopisches SF-Abenteuer, Teil 1, bietet (noch?) wenig Sinn, aber einige Schauwerte im Labyrinth.
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Schweizer Helden
Das offene Piazza-Publikum in Locarno mochte den Film von Peter Luisi («Der Sandmann»). Aber ob national-patriotische Kreise diese Emigranten-Farce goutieren, ist eine andere Frage. Die Geschichte: Die frustrierte Sabine (Esther Gemsch) kriegt den Weihnachtsblues, heisst: frisch vom Mann getrennt und von ihren Freundinnen beim St.Moritz-Trip ausgesperrt, hofft mit ihrem Sozialeneinsatz, Befriedigung und Anerkennung zu finden. Sie heuert kurzfristig als Sprachlehrerin in einem Durchgangszentrum in der Innerschweiz an und ist erstaunt (!), dass die ihr anvertrauten Asylanten kaum Deutsch können. Gleichwohl greift sie eine Idee der erwachsenen Schüler auf und will den Schillerschen «Wilhelm Tell» inszenieren. Nach anfänglicher Skepsis sind die Asylbewohner mit Herz bei der Sache. Dank des selbstverliebten Theaterhasen Helmut (Klaus Wildbolz), nimmt das Projekt Formen an. Doch als man den Hauptdarsteller, den schwarzen Rastamann Punishment (Komi Mizrajim Togbonou), ausgeschafft, wird das ganze «Tell»-Theaterunternehmen in Frage gestellt. Doch das Multikulti-Trüppchen steht zusammen, sogar der renitente widerspenstige Elvis (Karim Rahoma) macht mit. – Es muss ja nicht immer bewährter Komödienstoff um Liebe und Familie wie in «Monsieur Claude und seine Töchter» oder in «And So It Goes» (mit Diane Keaton) sein, hat sich der Zürcher Peter Luisi gesagt. Bereits 2002 hätte er sich mit einer Geschichte ums Asylwesen in der Schweiz befasst, erklärt der Filmer. Seine Multikulti-Komödie beweist Engagement und doch hätte man ihr etwas mehr Mut und Bissigkeit gewünscht. Die durch und durch sympathischen «Schweizer Helden» sind allzu nett und bieder geraten. Das beginnt mit der arg naiven Lehrerin Sabine, die Gutes für sich und andere tun will, geht über das klischeehafte Ensemble (durchweg Schauspieler in den Sprechrollen) bis zur Softstory. Klar, Luisi hatte keine Dok-Comedy oder einen Politfilm im Sinn, aber etwas mehr Schärfe und Schroffheit hätte dem unterhaltsamen Kinostück gut getan. So blieb es bei wenigen guten Ideen, etwa in dem ein Schwarzer den Tell spielt und viel von Freiheit die Rede ist, die aber den Asylanten verwehrt wird.
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Before I Go to Sleep
Diese Konstellation ist ein beliebtes Kinomotiv: Ein Mann oder eine Frau verliert das Gedächtnis und wird zum Spielball von Manipulation, von Schein und Sein. Es sei erinnert an «Vergiss mein Ich» (2014) mit Maria Schrader oder «Mulholland Drive» (2001) von David Lynch, an die Bourne-Actionstreifen mit Matt Damon, an «Der Mann ohne Gedächtnis» (2002) von Aki Kaurismäki oder eben «Spellbound» (1945) von Alfred Hitchcock. In diesem Fall geht es um die 47-jährige Christine (Nicole Kidman), die anscheinend nach einem Unfall (Vorfall) vor gut 20 Jahren ihr Gedächtnis verloren hat. Tagtäglich hämmert ihr Mann Ben (Colin Firth) ihr morgens ein, wer sie ist und was sie zu hat. Sie kann sich am nächsten Tag an nichts erinnern und kommt nur dank Videos und der Behandlung durch den Psychologen Dr. Nash (Mark Strong) ihrer Vergangenheit auf die Spur. Mit dem quälenden aufwühlenden Horrortrip in die Vergangenheit bringt sie sich selbst in Gefahr. Wem kann sie trauen, wer ist sie? Hat sie Kinder? Ist der Mann, an dessen Seite sie morgens aufwacht, tatsächlich ihr Ehemann? Nach dem Bestseller «Before I Go To Sleep» von S.J.Watson inszenierte Rowan Joffe einen klaustrophobischen Psychothriller, in dem Nicole Kidman eine meisterliche Performance an den Tag legt. Dabei verzichtet der Filmautor fast gänzlich auf billige Horrortricks und schildert eine Psychoreise durch die Nacht, bis es endlich ein Erwachen gibt.
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