Zwischen Wut und Depression: Meret Oppenheim posiert für den Fotografen Man Ray, 1933.
«Die enteignete Schamanin»
Von Daniele Muscionico
Sie war verhext attraktiv und künstlerisch unbeherrschbar, das hatte Folgen: Meret Oppenheim (1913–1985), die Schöpferin der «Pelztasse», wurde zur Surrealisten-Muse stilisiert. Der jugendliche Geniestreich wurde ihr zum Fluch. Arifé Aksoy (Illustration)
Das Mädchen, das Meret Oppenheim für diesen Abend ausgesucht hat, ist hübsch. Nicht so hübsch wie die Zeremonienmeisterin, die bei diesem «Frühlingsfest»
das Zepter führt, das Haar millimeterkurz, die Kleidung extravagant. Sie hat, was sie trägt, zwar nicht selber entworfen wie üblicherweise, ein Cape, aus dessen Rückenteil der Schwanz einer Echse lugt, einen Pullover mit Taschen für die Brüste – kein Modehaus wollte ihre Entwürfe realisieren. Dabei hätte Meret das Geld dringend gebraucht. Ihr Look ist Unisex für ein drittes Geschlecht, doch mindestens vierzig Jahre zu früh. So lange wird es dauern, bis Jean Paul Gaultier an der Avantgardistin massnehmen wird und Modegeschichte schreibt.
Im April 1959 legt Meret Oppenheim in Bern das nackte hübsche Mädchen auf einen hübschen Tisch. Sie bettet es auf Waldanemonen und bemalt es mit Ofenbronze und Vaseline.
Und dann beginnt sie zu dekorieren: Kandierte Früchte flicht sie ins Haar, Langusten setzt sie auf die Schenkel, Schlagrahm und Schokolade tupft sie auf eine Brust, Schlagrahm und Himbeeren auf die andere – Zuckerveilchenschmücken alles andere, was noch blank daliegt.
Dann muss die alte Kodak her, um das Tableau festzuhalten. Jetzt ist das Mahl bereit, an den Tisch setzen sich männliche und weibliche Gäste. Auf ein geheimes Zeichen hin beginnt man zu essen, mit blossen Händen, am hungrigsten vermutlich das lebende Requisit. Meret Oppenheims «Frühlings-Fruchtbarkeits-Ritual» ist eine exotisch-erotische Caprice.
Fragwürdiger Ruhm als Künstlermuse.
Doch dabei bleibt es nicht, leider. André Breton hört davon, der Papst der Surrealisten, man kennt sich aus Paris, Merets Anfänge als Künstlerin. Er wünscht sich das Bankett von und auf einer Nackten an der Vernissage der Ausstellung «Exposition inteRnatiOnal du Surréalisme» (EROS) in der Pariser Galerie Cordier. Ob sich das Gelage nicht wiederholen lässt? Sie zögert, hat Bedenken, Bretons Bitte erinnert sie an die Ereignisse um ihre «Pelztasse», vor langer Zeit.
Die «Pelztasse» der damals 23-jährigen Künstlerin, Breton taufte das Werk umgehend, «Déjeuner en fourrure», und der MoMA-Direktor Alfred Barr kaufte es aus der surrealistischen Ausstellung in Paris für 200 Franken für seine junge Sammlung. Die Arbeit wurde dem Namen der Schöpferin und ihrer Absicht entfremdet, den Surrealisten zugeschrieben, es wird ihr meistzitiertes Werk. Mit Folgen für die enteignete Autorin: Sie stürzt in eine Lebens- und Schaffenskrise, die achtzehn Jahre dauern wird.
In Bern, glücklich verheiratet, hat sich Meret endlich aus dem Dunstkreis der durchwegs männlich bestückten Pariser Surrealisten- Stammtische befreit. Sie hat sich von ihrer Vergangenheit, vom fragwürdigen Ruhm als Künstlermuse, abgesetzt und ist ins eigene Land vorgestossen. Sie hat eine eigene Grammatik gefunden für ihr eigenes Werk. Und nun das Begehren Bretons. Widerstrebend gibt sie ihrem Freund die Erlaubnis, ihr Werk für seine Zwecke zu benutzen.
Doch es kommt, wie es kommen muss: In den Pariser Galerieräumen wird ihr leicht gedachtes und gemachtes Frühlingsritual zum bombastischen, bedeutungsschweren Kitsch.
Es ist Merets letzte Beteiligung an einer surrealistischen Manifestation. Zu offensichtlich ist die Distanz zur Gruppe geworden. Doch das Etikett einer surrealistischen Künstlerin brennt ihr zeitlebens auf der Stirn. Früh weiss sie, was sie werden will: Malerin. Der Gedanke ist gross, doch in einem Elternhaus, in dem Künstler ein und aus gehen, naheliegend.
Merets Tante, ein Vorbild für das Kind, ist verheiratet mit Hermann Hesse, man trifft sich im Haus von Merets Grossvater in Carona oft. Merets Grossmutter ist die international erfolgreiche Schriftstellerin Lisa Wenger, sie illustriert eines der populärsten und schönsten Kinderbücher der Schweiz, «Joggeli söll ga Birli schüttle». Die Enkelin ist vierzehn, als sie beginnt, ihre Träume aufzuschreiben, durch ihren Vater, einen Arzt, wird ihr die Psychologie von C.G. Jung vertraut. Mit sechzehn zeichnet sie die Gleichung «X=Hase», die später, 1957, in der Zeitschrift Le Surréalisme, même mit dem Titel «Le cahier d’une écolière» abgebildet wird. Es ist ein Bild für den Vater, denn er soll erkennen, wie sehr die Tochter doch bereits Künstlerin ist! Die Basler Kunstkreise sind ihr zweites Zuhause, und eine Klee-Ausstellung ist faszinierender als der Besuch des Gymnasiums.
Mit achtzehn Jahren, endlich, die Befreiung:
Sie reist mit ihrer älteren Freundin und Malerin Irène Zurkinden in die französische Kunstmetropole, nach Paris.
Die beiden trinken sich auf der Bahnfahrt einen Pernod-Rausch an, und, kaum angekommen und noch mit ungewaschenen Händen, stürmen sie die Bastion der Künstler, das «Café du Dôme». Hier – später auch im Kreis um André Breton, im Stammlokal der Surrealisten, im «Café de la place Blanche» – bahnt sich das Unglück an, das sich zunächst als Glück tarnt:
Merets Schönheit, Intelligenz, Lebenshunger und Freiheitsdrang, eine schamanische Mischung, bezirzen die berühmten Männer und gefeierten Kunstgenies. Ihre Bewunderer Alberto Giacometti und Hans Arp überreden sie zur Teilnahme an der Gruppenausstellung im Salon des Surindépendants. ManRay bittet sie, für Fotografien zu posieren. Die Serie der Aktaufnahmen mit dem Druckerpresse-Rad gilt heute als Jahrhundertleistung, doch trotz Merets wesentlicher Beteiligung nennt sie Ray «Erotique voilée» – und nicht «Porträt Meret
Oppenheim». Wie kann die junge Frau in diesem Umfeld eine eigene Stimme werden? Meret beginnt, an Depressionen zu leiden, Gefühle der Minderwertigkeit, die an ihr reissen.
Je länger, umso heftiger.
Billiges Geschirr mit Gazellenfell 1936, ihre erste Einzelausstellung, in Basel. Max Ernst, sie war kurzzeitig mit ihm liiert, schreibt für die Einladung den Text. «[. . .] Wer überzieht die Suppenlöffel mit kostbarem Pelzwerk? Das Meretlein. Wer ist uns über den Kopf gewachsen? DasMeretlein [.. .].»
Ja, Meret hat ihre Väter 1936 künstlerisch in den Schatten gestellt, nur vorübergehend zwar, doch einen Donnerhall auslösend mit der «Pelztasse». Billiges Geschirr, überzogen mit chinesischem Gazellenfell, Meret fabriziert, um Geld zu verdienen, Pelzarmbänder für Schiaparelli und entwickelt die Idee spielerisch weiter. Doch die «Pelztasse» wird okkupiert von den Surrealisten als ihr höchsteigener Gral.
Der Fluch des jugendlichen Genies verfolgt die Künstlerin auf ihrem Weg.
Aus Paris muss sie weg, wird sie in Bern heimisch?
Die Künstlerin wechselt ihre Haut fast täglich, sie zeichnet, malt, modelliert, näht, klebt, fotografiert, schreibt Gedichte. Sie arbeitet an der Aufhebung der Grenzen zwischen Natur und Kultur, Mann und Frau, Traum und Wirklichkeit.
Doch ihre Vielseitigkeit wird ihr als Makel ausgelegt, und ihr Werk schwankt zwischen Wut und Depression, ist stolz und verzagt in einem.
Ein letztes Mal erhitzt sie die Gemüter 1983 mit ihrem Brunnen auf dem Berner Waisenhausplatz.
Ein Schandmal sei er, ein Pissoir, Fabrikschlot – ein Minarett!
An ihrem 72.Geburtstag sagt sie, ohne krank zu sein: «Ich sterbe noch mit dem ersten Schnee.» Einen Monat später ist sie tot. Meret bleibt für die Nachwelt die weglose Fährtenleserin des Unbewussten. Erst wenige sehen über den Teetassenrand.
Meret Oppenheim (6. 10. 1913 in Berlin bis 15. 11. 1985 in Basel) war Malerin,Objektkünstlerin und Lyrikerin. 1936 schuf sie die Pelztasse «Déjeuner en fourrure», die sie in den Kunstolymp katapultierte. Sie emanzipierte sich von der Surrealisten-Muse und kämpfte für die Anerkennung der Frau als selbstständige Künstlerin.
1974 Kunstpreis der Stadt Basel, 1982 Grosser Preis der Stadt Berlin, Teilnahme an der Documenta 7 in Kassel.
Erstveröffentlichung © Weltwoche Nr. 8.11/47. Der Limmat-Verlag Zürich veröffentlicht im August die Porträt-Serie der Schweizer Frauen, die Geschichte schrieben, von Daniele Muscionico.