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«Die Eule über dem Rhein: eine Hommage an Basel»
Von Hansjörg Schneider
Man kennt seine Fasnacht, seine Museen und seine Pharmariesen, aber sonst? Basel ist ein Fremdling in der Schweiz geblieben. Der Schriftsteller Hansjörg Schneider, dessen Hunkeler-Kriminalromane in Basel spielen, über eine Stadt, die sich der Öffentlichkeit verweigert.
Wo sich der Rhein nach einem Rechtsknick in die oberrheinische Tiefebene ergießt, sitzt oben auf der Pfalz eine zweitausend Jahre alte Eule, die Basilea heißt. Sie hockt auf dem Chordach des ehemaligen Heinrichsmünsters, das gestützt wird von phantastischen Steinelefanten, die der uralten Handschrift des Hortus Deliciarum nachempfunden sind. Sie schaut über den Fluss ins Kleinbasel hinüber, auf den Schwarzwald dahinter.
Nur selten ruckt sie mit dem Kopf nach links Richtung Vogesen, dann nach rechts Richtung Jura. Sonst bewegt sie sich kaum. Sie scheint zu schlafen. Manchmal, in seltenen Vollmondnächten, lässt sie sich fallen und gleitet auf leisen Schwingen rheinwärts bis nach Birsfelden. Dort kehrt sie um, denn das Baselbiet ist ihr nicht mehr geheuer. Sie fliegt nordwärts bis zu den Schleusen von Kembs, dem Sog der Tiefebene folgend. Aber bei den hell beleuchteten Schleusentürmen macht sie kehrt, weil sie Heimweh hat. Am liebsten sitzt sie daheim auf dem Münsterdach und spielt den versteinerten Vogel, kaum wahrnehmbar auf dem hellroten Sandstein. Den scharfen Schnabel versteckt sie im Gefieder.
Basel ist eine Stadt
dazwischen. Zwischen
Schwarzwald, Elsass
und der Schweiz.
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Den packt sie nur einmal aus im Jahr, an den drei Tagen der Fasnacht. Dann hört die ganze Schweiz zu, wie sie ihre kunstvoll gepfefferten Spottverse in den Äther krächzt. Basel ist eine geheimnisvolle, heimliche Stadt. Es ist eine Stadt dazwischen. Zwischen Schwarzwald, Elsass und der Schweiz. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und zwischen Spott und Melancholie. Es ist die eigentümlichste, unbekannteste Stadt der Deutschschweiz, die zwar 1501 der Eidgenossenschaft beigetreten ist, weil sie sich dadurch militärischen Schutz versprach. Aber richtig eingeschweizert hat sie sich nie.
Die Schweizer Kultur ist eine Bauernkultur.
Basel hingegen ist eine alte, durch und durch urbane Reichsstadt. Der erste Bischof, mit Sitz im benachbarten Kaiseraugst, ist aus dem 4. Jahrhundert bezeugt. Im Jahre 740 ist einer seiner Nachfolger nach Basel umgezogen. Außerhalb der Mauern, im St. Alban-Tal, wurde 1083 Basels erstes Kloster gegründet, dessen Kreuzgang noch heute zu besichtigen ist. Ein mittelalterliches Sprichwort besagt, dass von den rheinischen Bistümern Konstanz das größte sei, Köln das heiligste, Straßburg das edelste und Basel das lustigste.
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Die Basler sind keine Kriegsgurgeln. Die Stadt hat ihren Erfolg nie ihrer militärischen Macht verdankt wie etwa die alten Orte der Innerschweiz oder Bern. Sie hat lieber verhandelt als dreingeschlagen. Was ihr die Nachfahren der alten Eidgenossen, die Habsburg und Karl den Kühnen besiegten, noch heute heimlich vorwerfen.
Aber Hauen und Stechen muss ja nicht unbedingt ein Zeichen von Intelligenz sein. Mit schlauer Diplomatie ist möglicherweise mehr zu erreichen. Basel ist jedenfalls im Laufe seiner stolzen Geschichte nie besetzt und geplündert worden, sieht man vom Überfall der Magyaren im Jahre 917 einmal ab. Davon zeugt ein mächtiger Steinsarg, der im Münster liegt. »Von den Ungarn erschlagen« steht drauf.
Es war denn auch der Basler Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein, der im Westfälischen Frieden von 1648 erreicht hat, »dass die Stadt Basel Und die übrigen Schweizer Kantone im Besitze völliger Freiheit und dem Reich und seinen Gerichten in keiner Weise unterworfen seien«, wie es im Vertrag heißt.
Das liebste Hobby des Baslers ist das Geldverdienen. Sein zweitliebstes sind Kultur und Kunst.
Als im Jahre 1833 die baselländischen Untertanen aufmuckten und sich als freie Schweizer selbst regieren wollten, probierten es die Baselstädter doch mit Waffen. Es bekam ihnen schlecht. Nach einem kurzen Gefecht bei Pratteln rannten sie in panischer Angst zurück in ihre Mauern. 65 von ihnen blieben tot zurück. Seitdem gibt es die beiden Halbkantone Baselland und Baselstadt. Und noch heute ist zwischen den beiden nicht immer gut Kirschen essen.
Basel ist eine Stadt ohne Land (außer den beiden rechtsrheinischen Gemeinden Riehen und Bettingen). Die Basler gelten als hochnäsig, schlau und geldgierig. In Franz Schnyders Gotthelf-Filmen wird der Bösewicht aus der Stadt stets von einem Basler gespielt.
Frau Oeri, die als hervorragende Präsidentin des FC Basel waltet, ist von einem Zürcher Boulevardblatt wiederholt als verwöhntes, dummes Tötschli diffamiert worden, das mit seinem Geld den Schweizer Fußball ruiniert. Und Alex Frei wurde in auswärtigen Stadien ausgepfiffen, als er aus der Bundesliga zum FCB zurückkehrte. Basel hat eben ein schlechtes Image in der Eidgenossenschaft. Hier wird weder gehornusst noch geschwungen. Gejodelt wird bloß von den Auswärtigen. Und in den heimischen Gassen wird ein Idiom gekrächzt, dass es dem Herrgott graust. Und das sollen echte Schweizer sein?
Das liebste Hobby des Baslers ist das Geldverdienen. Sein zweitliebstes sind Kultur und Kunst. Basel ist ein wirtschaftliches Erfolgsmodell. Hier stand der erste Bahnhof auf Schweizer Boden, der die Stadt mit Straßburg verband. Dank der Seidenbandindustrie, für welche die Posamenter im Baselbiet arbeiteten, gab es eine Nachfrage nach Färbemitteln. Daraus entstand die chemische Industrie, der Basel heute seinen Reichtum verdankt. Novartis baut dicht an der Grenze zum Elsass einen Campus, ein Forschungszentrum von Weltformat. Die Roche hat vor, einen 175 Meter hohen Büroturm zu errichten. Bis 2020 sollen in der Region 40 000 neue Arbeitsplätze entstehen. Basel ist EU-freundlich. Das hat nichts mit Verrat der vaterländischen Werte zu tun, sondern mit Vernunft. In der oberrheinischen Region entsteht eine EU im Kleinen. Die Landesgrenzen werden hier als Anachronismus verstanden. Hier wächst tatsächlich ein Gebiet zusammen, das zusammengehört. Zehntausende Arbeitnehmer aus dem Elsass
und dem Markgräflerland, sogenannte Grenzgänger, fahren jeden Tag in die Nordwestschweiz zur Arbeit. Im
Allgemeinen kommt man gut aus miteinander. Man redet schließlich einen ähnlichen Dialekt. Eine Phobie gegen Deutsche gibt es hier nicht. Man lebt schon so lange zusammen, dass man sich aneinander gewöhnt hat. Übrigens sind auch Elsässer und Markgräfler froh, dass sie in Basel so reden können, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Die Nordwestschweiz hilft ihnen, ihren Dialekt zu behalten.
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Ein Teil des Geldes, das Basel verdient, wird in die Kultur gesteckt. Für das Jahr 2010 wurden 113 Millionen Franken budgetiert. Es gibt hier das Kulturangebot einer Großstadt. Und was in den Museen hängt, ist Weltklasse. Die Geschichte der Fondation Beyeler etwa ist ein Märchen, wie es nur in Basel wahr werden kann. Da hat es ein unbemittelter Galeristenlehrling fertiggebracht, einen Banker zu überzeugen, ihm Geld zu leihen, damit er Bilder kaufen konnte. Als er im Februar 2010 starb, besaß Ernst Beyeler eine Kunstsammlung allerersten Ranges. Die Ausstellungen in der Fondation Beyeler sind so gut wie die im Centre Pompidou. Und das alles findet in einem Dorf namens Riehen statt.
Das Sammeln von Kunst hat Tradition in Basel. Bereits 1661 kaufte die Stadt das Amerbach-Kabinett auf, womit sie eine der ältesten öffentlichen Kunstsammlungen besitzt. Die Basler waren schon immer kühle Rechner, die ein Faible für gute Bilder hatten. Das Produzieren von Kunst interessiert sie nicht, das überlassen sie den Auswärtigen. Sie selber interessieren sich bloß für das Produkt. Deshalb nahm man hier seit je besonders gern Menschen auf, die «rych oder kunstrych» waren, wie es in einem Fremdenerlass von 1546 heißt.
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Um 1500 war Basel eine Druckerstadt, offen und tolerant. Hier hat Erasmus von Rotterdam zum ersten Mal die griechische Originalfassung des Neuen Testaments gedruckt herausgegeben. Hier erschienen die lateinische Fassung des Korans und der Bestseller Das Narrenschiff des Elsässers Sebastian Brant. Heute kann von einer Druckerstadt nicht mehr die Rede sein. Das gedruckte Wort hat in Basel kein Brot mehr. Es gibt fast keine erzählende Literatur aus dieser Stadt. Die großen Autoren des 19. Jahrhunderts hießen hier nicht Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf, sondern Jacob Burckhardt und Johann Jakob Bachofen: Es waren Geisteswissenschaftler. Romane hält man am Rheinknie für überflüssiges Zeug, das nichts einbringt. Und wenn man Lust auf Poesie hat, macht man halt selber ein paar Schnitzelbänke.
Die großen Verlage für Zeitungen und neue Literatur sind alle in Zürich.
Radio und Fernsehen auch. Kürzlich wurde auch noch die Basler Zeitung verkauft. An einen Financier, Gott sei’s
geklagt. Als ob in Basel kein Geld vorhanden wäre, um das Lokalblatt selber zu bezahlen. Offenbar ist es den Baslern egal, wer über sie berichtet. Und ob überhaupt berichtet wird. Sie genügen sich selbst. So kommt es, dass in den Zeitungen fast nichts über die Stadt am Rheinknie zu lesen und im Fernsehen fast nichts zu sehen ist. Die Redaktionen sitzen alle in Zürich, deshalb berichten sie über Zürich. Wenn in Basel die Post abgeht, interessiert sie das nicht. Viel lieber berichten sie über den Deutschenhass der Schweizer. Worüber der Basler nur lachen kann.
Eine seltsame Stadt, wie gesagt. Eine Stadt, die sich der Öffentlichkeit verweigert. Ein großes Dorf, in dem man sich zwar kennt, aber dem Fremden gegenüber eigenartig reserviert bleibt. Man gibt nichts preis von sich, man macht höchstens einen spöttischen Spruch. Man zeigt sich nicht oder höchstens hinter einer Larve. Man tanzt nicht in den schönen alten Gassen – höchstens an der Fasnacht, dann aber im militärischen Gleichschritt.
Für einen Aargauer, wie ich einer bin, ist es manchmal kalt hier. Dann bin ich froh, ins Elsass oder in den Schwarzwald abhauen zu können. Dort wohnen Leute wie ich. Es klebt offenbar ein Stallgeruch an mir, den ich selber nicht wahrnehmen kann. Aber der Basler wittert ihn sogleich. Das stört manchmal, das eckt an. Denn einem Bauern gegenüber versagt des Baslers Diplomatie. Er wird unsicher, er ahnt urchiges Brauchtum, urtümliche Kraft, wo bloß Neugier ist. Und er antwortet mit Ironie. Ich wohne schon über fünfzig Jahre hier. Ich bin noch immer ein Fremder. Dieses Fremdsein hat indessen enorme Vorteile. Man lässt mich in Ruhe, so dass ich mich vogelfrei fühle. Das schafft die Distanz, die ich zum Schreiben brauche.
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Wer auf der Autobahn durch Basel fährt, sieht nichts außer einer Betonröhre. Die bringt man in zehn Minuten hinter sich. Wer durch Basel schwimmt, sieht eine der schönsten Städte Europas. Man steigt oben beim Birskopf ein, an einem schönen Gestade. Man legt sich auf den Rücken und lässt sich treiben, die Ohren unter Wasser, damit man das Rieseln der Kiesel auf dem Grund hört. Begleitet von dieser zauberhaften Musik schaut man zu, wie die Stadt an einem vorbeigleitet. Links die Kirche St. Alban, die noch aus karolingischer Zeit stammt. Rechts die niedrige Häuserfront Kleinbasels. Wieder links die Pfalz mit dem romanischen Münsterchor. Die stolzen Paläste der Augustinergasse, die alte Universität, darüber die Martinskirche. Dann unter der Mittleren Brücke durch, wo Leute stehen und winken. Und schon wittert man die Weite der Tiefebene. Man kann im Rheinbad St. Johann bequem an Land gehen, einen Kaffee trinken und etwas essen. Man kann sich auch weitertreiben lassen Richtung Meer. Manchmal in einer Mondnacht ist auf dem Dach des Münsters tatsächlich eine Eule zu sehen. Sie ist kaum zu erkennen, das Licht ist zu schwach. Ihr macht das nichts aus, sie sieht auch in der Dunkelheit. Sie äugt zum Wasser hinunter. Und gleich wird sie losfliegen, vielleicht.
Courtesy Diogenes Zürich 2011. www.diogenes.ch
Hansjörg Schneider, * 27. März 1938 in Aarau, wuchs in Zofingen auf und studierte an der Universität Basel Germanistik, Geschichte und Psychologie. Er promovierte 1966 und arbeitete zunächst als Lehrer und Journalist sowie als Regieassistent am Theater Basel. Schneider hat zahlreiche Theaterstücke sowie Romane und Erzählungen verfasst. In letzter Zeit ist er mit seinen Kommissär Hunkeler-Krimis, die auch vom Schweizer Fernsehen verfilmt wurden, einem breiteren Publikum bekannt geworden.