«Evelyn Braun: Die begnadete Interviewerin und die brillanten Feingeister»
Von Ingrid Schindler
Die Basler Autorin Evelyn Braun hat im Januar ihren zweiten Roman herausgebracht. «Die Interviewerin» vermittelt einen Einblick in das Leben einer begnadeten Journalistin Ende der 90er Jahre und verstrickt die Protagonisten in ein fesselndes Schicksalsdrama.
Jaa, doch, er liest sich gut, dieser Roman über «Die Interviewerin», deren Interview nicht zustande kommen will. Wenn man sich mit Evelyn Brauns ganz eigentümlichem, nüchtern-nahem Stil und ihrer Vorliebe für Schachtelsätze anfreunden kann, sogar sehr gut. Konzentriert auf einen kurzen Ausschnitt im Leben der Basler Journalistin Mathilde Maas geht es um die Liebe und das Leben, um das Schicksal der Hauptfiguren, das sich in wenigen Märztagen Ende der 90er Jahre in München entscheidet.
Evelyn Braun, Jahrgang 1956, kennt das Metier. Die studierte, französisch- wie deutschsprachige Juristin wechselte früh ins Zeitungsfach, schrieb für Lokalmedien und verfasste als freie Journalistin Reportagen, Porträts und Interviews für annabelle, Weltwoche, BaZ, Bolero u.a., bevor sie Reden für Basler Politiker schrieb und in die Kommunikationsabteilung des Gesundheitsdepartements Basel-Stadt wechselte. Dass ihr das Schreiben und das Leben als Journalistin viel bedeuten, ist in jeder Zeile des Romans spürbar. Man fragt sich, wieviel von Evelyn Braun in der Hauptfigur steckt.
Das Drama nimmt seinen Lauf
G. ist ein Gigant des deutschsprachigen Literaturbetriebs. «Ein Mythos war dieser Mann, beinahe ein Gerücht.» Unschwer zu erkennen verbirgt sich Günther Grass hinter dem Schriftsteller im khakibraunen Cordanzug. Für ein Interview mit ihm setzt die junge, attraktive «Reporterin mit Aufträgen, um die sie nicht selten beneidet wird», alle Hebel in Bewegung. Für das Gespräch fliegt sie nach München und sitzt im Flugzeug neben dem stadtbekannten Psychiater Professor Igor L., bei dem ihr platonischer Freund Johnny Lachmann wöchentlich dreimal auf der Couch liegt. Bis anhin kannten sich IL und MM nur aus Johnny’s Schilderungen. Die Begegnung in und mit der Realität hat Folgen für alle Beteiligten.
Dichterfürst G., Professor L. und Mathilde Maas steigen im Münchner Luxushotel Fünfjahreszeiten ab. So sehr sich Mathilde und Pressedame Margarethe Pichelsteiner auch bemühen, das Interview klappt aufgrund der Termindichte, Eskapaden und Launen des Schriftstellers nicht. Wir erfahren auf anschauliche Art, wie Pressekonferenzen, Lesungen, Signierstunden und das ganze Medientamtam ablaufen, und vor allem, was für ein egomanisches Ekel in G. steckt.
Derweil verstricken sich, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, die Schicksalslinien von Mathilde, Professor L. und Johnny ineinander. Mathilde ist Johnny’s Muse, Johnny ist Mathildes Seelentröster, Professor L. wiederum Johnnys Seelentröster. Ein klassisches Drama bahnt sich an. Als auf dem Höhepunkt der Irrungen und Wirrungen Johnny die Bühne betritt, spitzt sich die Handlung rasant zu, bis der Knoten platzt und sich die Stränge entknoten.
Heldin im Doppelpack
Die Geschichte, abwechselnd aus der Perspektive der Heldin und eines allwissenden Erzählers erzählt, entwickelt einen ganz eigenen Sog. Evelyn Braun legt ihr Augenmerk, wie der Titel nahe legt, nicht auf das Interview, sondern auf die Hauptperson, die es führen will. Mantraartig wiederholend charakterisiert sie Mathilde Maas als schön, begehrenswert, «samthäutig, braunäugig, für ihre respektlose Schreibe bewundert». «Wenn sie auf der Strasse an einer Baustelle vorbeikommt, kann sie sicher sein, dass ihr nachgepfiffen wird.» Sie ist «in jeder Beziehung im besten Alter», eine makellose Erscheinung, die Sonia Rykiel, Jean Paul Gaultier und als Markenzeichen – «comme c’est mignon» – ein pinkfarbenes Aktenköfferchen trägt und derart mit Vorzügen gesegnet ist, dass es arg dick aufgetragen anmutet.
Verstärkend tritt in Mathildes Kopfgesprächen und Rückblicken ihre Grossmutter Auguste Mathilde von Gurten-de Zut als alter Ego auf den Plan. Die französischsprachige Oma – Mathilde nennt sie AuMa – ist immer präsent und lebt in der Protagonistin weiter. Sie ist «aus demselben Holz geschnitzt». Eine «äusserst unkonventionelle und lebenstüchtige Person», die, um ein Beispiel zu geben, für die erfolgreiche Entjungferung der Enkelin gesorgt hat: «Durch einen Mann mittleren Alters, mit Eleganz und Charme, auf dass mir nicht durch ein pickligen, unerfahrenen Jungen der Spass für immer geraubt würde.» Die Lebensgeschichte der selbstbewussten Juristin, die Aston Martin und Alfa Romeo fuhr und mit ihrem Werk «Adam’s Rippe», einem späteren Standardwerk feministischer Literatur, ihrer Zeit weit voraus war, lässt an die Basler Juristin, Journalistin und Frauenrechtlerin Iris von Roten denken.
Brillante Feingeister
Die Autorin blendet die ungewöhnliche Vita der männlichen Protagonisten ebenfalls in Rückblicken in den Handlungsgang ein. Hinreissend ist der Erzählstrang über Mathildes und Johnny’s , ein «umwerfendes Double von Gregory Peck, nur sehr viel intelligenter», kennenlernten. Johnny und seinem Gegenpart Professor L. haftet ebenfalls ein besonderer Glorienschein an, während G.’s zuerst so strahlender Glanz zusehends verblasst. Überhaupt sind alle so brillant: Distinguierte Ästheten, Paradiesvögel und vom Zeitdiktat ungebeugten Frei- und Feingeister. Sie beherrschen derart das Figurentableau, dass der Roman elitär, ein wenig schnöselhaft und selbstverliebt wirkt. Sie heben sich ab von «dämlichen Prominenten», arroganten Presseleuten und gewöhnlicheren Zeitgenossen wie G.’s Verlagsgouvernante Margarethe Pichelsteiner, die die Hausmannskost schon im Namen trägt.
Nichtsdestotrotz schafft Evelyn Braun ein reizvolles Wechselspiel von Nähe und Distanz, scharfer, beissender Beobachtung und Redundanz durch Repetition der Eigenschaften ihrer Helden.
Evelyn Braun
Die Interviewerin
Roman
312 S., CHF 34.80
Xanthippe Verlag, Zürich 2021
«Glitzer und Ääähms…»
Benjamin von Stuckrad-Barre und Martin Suter unterhalten sich von Freund zu Freund. 16 Plaudereien über «Verstopfung der Gesprächspausen», ihre Freundschaft und dies und das sind als Buch erschienen, unter dem Titel «Alle sind so ernst geworden».
Man liebt ihn oder verachtet ihn: Benjamin von Stuckrad-Barré, den Bremer Popliteraten, Moderator und publikumssüchtigen Selbstbekenner, und Martin Suter, den Schweizer Ex-Werber, Business-Class-Kolumnisten und piekfeinen Bestsellerautoren. Nervös sprudelnd, quecksilbrig, rasant der eine, ruhig, langsam, besonnen der andere.
2018 haben sich die beiden Anzugträger im Grand Hotel Heiligendamm in Badehosen kennengelernt. Aus den dortigen Gesprächen ist eine Freundschaft und ein gemeinsames Projekt entstanden, ein Gesprächsbuch. Darin salbadern die beiden als Salonlöwen des Gebrabbels über Badehosen, Glitzer, Ibiza, Nicht-Bezahlen von Rechnungen, das Schreiben, Freundschaft oder den Literaturbetrieb. Sie streifen immer wieder Abgründe, vor allem Stuckrad-Barre, und plaudern mit Leichtigkeit, manchmal mit Witz, darüber hinweg. Das kann Charme haben oder nerven.
Eine Scheibe Glanz
Durch die Bank heben sich die Freunde gegenseitig in den Himmel. Stuckrad-Barre, dem, wie zu erwarten, ein weit höherer Redeanteil zufällt, umschwänzelt den 27 Jahre älteren Suter als aktuelle Vaterfigur, wodurch der sich in eine Reihe mit Helmut Dietl, Thomas Gottschalk und Udo Lindenberg stellen kann. Stuckrad-Barre beweihräuchert den Erfolgsautor nicht nur, weil dessen Bücher fabelhaft seien und sich wahnsinnig gut verkauften, sondern «weil Nähe so oder so gewinnbringend sein könnte». Selbstironie? Ernst? Die Frage stellt sich oft.
Muss man sich das Lesen dieser «wortreich aufbereiteten Nullsummengespräche mit neuer Doofheitsdimension» (Peter Henning, St. Galler Tagblatt) antun? Oder rettet einem dieses Buch den Tag, wie Ferdinand von Schirach im Klappentext schreibt? Ein Kompliment vorneweg an die Verlagsmitarbeiter, die die Gespräche transkribierten und lektorierten – eine Leistung! Ein kleiner Auszug aus Plauderei Nr. 3 mit dem Titel «Äähm» zur Kostprobe:
BvSB Sollte man dann nicht besser die Klappe halten?
MS Wenn man nichts zu sagen hat?
BvSB Andererseits – vielleicht entwickelt sich ja trotzdem was, gerade aus dem Nichts heraus. Zumal beim Äähmen mit Freunden. Man sollte aufs Geratewohl doch immer weiterrhabarbern. Oder?
….
MS Aha. Das ist auch eine Art Äähm, dieses Aha. Vordergründig bedeutet man dem anderen zwar: Ich verstehe. Man sagt damit aber vielmehr: Das verstehe ich nicht.
BvSB Aha. Ha, es stimmt! Du hast recht! Mein Aha gerade war ein nur notdürftig getarntes Hääääääää?. Und nun muss ich hier ein ganz grosses Äh einfügen – weil ich gerade überhaupt nicht mehr weiss, was ich sagen soll. Ich verstehe nicht mal mehr, was ich selber sage.
MS Und damit, meine Damen und Herren, haben wir, äähm, das Thema Äähm abgeschlossen.
BvSB Erschöpft mehr als erschöpfend. Aus Äähm wurde Äääääh – aber beherzt wollen wir schliessen: Äähm.
MS Vielleicht noch etwas präziser?
MvBS Na gut – ähmmm.
MS Das war jetzt ein bisschen sehr brutal, oder?
BvSB Das ganze Gespräch war brutal, also passt das doch ganz gut.
MS Ist der Rest Schweigen?
BvSB Ääh – ja. Ähm – nein. Halte ich nicht aus. Ich gehe.
MS Ja, äähm, gut.
Unterhaltung in Coronazeiten
«Alle sind so ernst geworden» trifft den Corona-Nerv der Zeit. Ein Plauderbuch als Ersatz für das Fehlen durchzechter Beizennächte und leichtfüssigen Party-Smalltalks, wonach sich manch einer im Lockdown sehnt? Wie gern wäre man beim tabu- und absichtslosen, unbeschwert wuchernden Reden unter Freunden in diesen Zeiten dabei, wenn man zuhause nach Zoomkonferenzen im Schlafzimmer vom Partner am Treffpunkt Nespresso-Maschine nur «Was gibt’s Neues? – Nichts, und bei Dir?» hört.
Kein Wort im Buch über Pandemie, auch keines über Trump, Verschwörungstheorien oder Demokratieverlust, kein politisches Statement, nur «konzeptionsloses Gelaber». Stattdessen erfahren wir einiges über Martin Suter, zum Beispiel, dass ihn Diskos und Spiele nicht interessierten, er keine Jeans besässe oder ein Rezeptkoch sei, und vieles über Stuckrad-Barre, wie dass er extra deshalb drogenabhängig geworden wäre, damit seine Bücher stimmten. Der Verdacht liegt auf der Hand, dass sich hier Kunstfiguren so inszenieren, wie es jeweils dem Bild, das sie von sich in der Öffentlichkeit geschaffen haben, entspricht.
Ist das lustig? Die Vermarktung auf jeden Fall
Das Gegenteil von ernst ist lustig. Stuckrad-Barre und Suter nehmen sich nicht ernst, wenn sie im Strandkorb des Grand Hotels Heiligendamm oder in Suters Zürcher Wohnung ihr Mundwerk spazieren gehen lassen. Aber ist das schon unterhaltsam? Fans und Friends der beiden schreien Jaaaa! Wehe dem Leser, der sich nicht amüsiert. Der klug gewählte Titel gibt’s vor.
Damit niemand Gefahr läuft, sich als humortote Spassbremse zu outen, kann man bei Suter und Stuckrad-Barre auf Website und Instagram abschauen, wie cool Künstlerkollegen auf das Buch reagieren. Schöneberger, Milberg, Liefers, Kebekus, Mädel, Stadelhofer, Welke und mindestens vier Dutzend weitere Voll-, Halb- und Noch-nicht-Promis tun das, egal, ob sie den Inhalt kennen oder nicht. Von Influencerin Xenia Adonts bis Tagesschausprecherin Linda Zervakis halten sie brav das Buch in die Kamera und sagen den Titel auf, um dafür zu werben. Comedian Hazel Brugger gibt zwei Empfehlungen plus einen Blurb auf dem Buchdeckel ab, denn sie habe weniger gelesen, als sie gemocht habe. Stellt man sich ihre ungerührte Miene beim Thema Äh und Äähm vor, wird’s in jedem Fall uhuure komisch.
Fazit: Wenn der PEN-Club nach Stuckrad-Barre «geistig Krefeld» ist, besteht die Leistung dieses Werks in seiner Vermarktung. Und dazu lernen wir locker nebenbei, dass sich Bastelgeschäfte für richtigen Glitzer in Nebenstrassen befinden und sich mit «Präsprachgeräuschen» und «Silbengekotze» Pausen gut füllen und Gesprächsräume prima zurückerobern lassen. Ein wohltuend unterflüssiges Buch.
Martin Suter, Benjamin von Stuckrad-Barre
Alle sind so ernst geworden
Diogenes, Zürich 2020 ,
272 Seiten, CHF 30.-.
«Lockdown in Paris»
St. Gallen – Gossau – Flawil – Uzwil – Will – Winterthur – Zürich Flughafen –
Oerlikon –Zürich – Basel –St. Louis – Mulhouse – Colmar – Selestat – Strasbourg – Paris Est –
Paris Gare de Lyon – Dijon – Mulhouse – Basel – Zürich – Oerlikon –Zürich Flughafen – Winterthur – Wil – Uzwil – Flawil – Gossau – St. Gallen.
Von Ingrid Schindler
Raus! Ich muss einfach raus. Endlich wieder reisen und das Gefühl haben, frei zu sein. Und so nehme ich die Abholung von japanischen Farbholzschnitten, die ich im November online in Paris ersteigert habe, als Grund, am Rosenmontag einen Trip nach Frankreich zu unternehmen. Klar, ich hätte mir die Drucke auch schicken lassen können, aber das wäre nicht dasselbe und teurer.
Ich war schon oft in Paris. Wegen Ionesco, Sartre, Jazz und Chansons. Wegen Molières Tartuffe oder einem Saucen-Kochkurs im Ritz. Wegen Kommissar Maigret, der Pariser Bistroküche, Ausstellungen, den besten Pommes Frites und oft einfach nur so, zwecks Anregung, Spass oder Zwischenstopp. Zu allen Jahreszeiten, aber noch nie im Lockdown. Deshalb plane ich dieses Mal nur einen Tagestripp, TGV sei Dank. Denn was bringt das Übernachten angesichts von Ausgangssperre ab 18 Uhr, geschlossenen Museen, Theatern und Restaurants. Abends in einem winzigen Hotelzimmer sitzen und hoffen, dass man wenigstens im Zimmer essen kann? Das bringt Frust und sonst nichts.
Die Vorbereitung dauert länger als die Reise
Die Reisevorbereitungen sind aufwändig wie noch nie. Allein schon, mich im Internet durchzugoogeln, um die richtigen Formulare zu finden, macht mich konfus. Danach bin ich immer noch nicht schlauer, welche Auflagen gerade aktuell gelten, um die Quarantäne zu vermeiden. Sicherheitshalber gehe ich aufs Ganze. Mein Reisedossier enthält einen PCR-Test vom Freitag für die Einreise, eine eidesstattliche Erklärung, frei von Covid-19-Symptome zu sein, die der französische Staat für das Betreten und Verlassen der Metropol-Region verlangt, ein Zertifikat für grenzüberschreitende Reisen, eine Online-Registrierung beim BAG für die Einreise in die Schweiz und einen zweiten PCR-Test vom Montagmorgen, dessen Ergebnis mir im Laufe des Tages zugemailt wird, denn der erste Test ist bis zur Einreise in die Schweiz älter als 72 Stunden. Vorsichtshalber habe ich noch zwei Auftragsbestätigungen für die Reise dabei. Denn privat geht gar nichts, nur «zwingend notwendige berufliche Reisen sind zulässig», wie ich im Netz lese, und «das zwingende Motiv muss durch einen Nachweis bescheinigt werden».
Dies ist die bürokratische Seite, die praktische eine andere. Ich stelle mir ein Notfall-Kulturset zusammen, denn wer weiss, vielleicht strande ich ja trotz allem in der Quarantäne, und eine Notverpflegung für den langen Tag. Im TGV werden zur Zeit weder Snacks noch Getränke serviert.
Der TGV fährt ab – ohne mich
Selten habe ich in der Nacht vor einer Reise so schlecht geschlafen. Selbst früher banale Kurztrips sind durch Corona aufregend geworden. Es ist noch dunkel und bitterkalt, als ich zuhause losfahre. Ich bin so früh am St. Galler Hauptbahnhof, dass ich sogar den früheren Zug nach Zürich nehmen könnte, und freue mich auf die Käsebrezel von Brezel König. Der hat noch zu. Na ja, vielleicht schaffe ich es noch, in Zürich beim Umsteigen in den TGV eine zu kaufen. Aber der frühere Zug nach Zürich fällt aus.
Jedesmal, wenn ich als passionierte Autofahrerin mit dem Zug reise, ereignet sich ein Malheur. Diesmal kündigt sich es sich aus dem Lautsprecher an: Beim 6.07-Uhr-Zug muss «wegen vereister Gleise und einer Blockade durch einen liegen gebliebenen Zug zwischen Will und Winterthur mit Verzögerungen gerechnet werden». Mir schwant Übles. Besser nicht nochmal nachschauen, wieviel Zeit in Zürich zum Umsteigen bleibt, das macht noch nervöser. Mir bleibt die leise Hoffnung, dass die Verspätung nicht so gross sein würde. Jetzt schon abbrechen, nach all dieser Vorbereitung, das kommt nicht in Frage.
Die Minuten werden lang und länger, während der Zug hinter Wil zum Stehen kommt. Das wird knapp. Dann hält er noch in Oerlikon, obwohl er inzwischen am ZHB sein müsste. Um 7.32 Uhr fährt mein Zug schliesslich im unteren Bahnhof ein, 7.34 Uhr geht der TGV oben ab. Noch zwei Minuten! Mit FFP2-Maske und meinem Koffer in der Hand renne ich durch die Gänge und die Treppen hinauf. Der TGV steht noch, gerade wird die Abfahrt angekündigt, ausser Puste hetze ich an drei geschlossenen Wägen entlang, die Uhr zeigt 7.34 Uhr, der Pfiff ertönt und der Zug setzt sich, meine Hand schon an der Tür, in Bewegung. Ich stehe daneben, sehe ihn ausfahren, eine riesige Wut im Bauch. Ich fühle mich wie der Skirennläufer, der gestern um eine Hundertstelsekunde den Sieg versäumt hat. Der Schaffner, den ich noch einsteigen sah, hat mich doch auch gesehen!
Zeit für Kaffee und Brezeln
Keuchend, hustend, fluchend schleppe ich mich ins Bahnservicecenter. Alle Schalter sind frei. Der Beamte schüttelt den Kopf, der TGV fährt pünktlich ab. es gibt keinen TGV mehr an diesem Tag, mit dem ich rechtzeitig in Paris ankommen würde. Alles auf Start und es morgen wieder versuchen? Nein. Ich denke an die Bescheinigungen, die nur heute gelten. Ich will fahren. Dann gibt es nur eine langsame Variante, meint der Mann hinter der Glasscheibe, denn die Zahl der TGV-Abfahrten wurden coronabedingt reduziert.
Haben Sie dem Conducteur nicht gesagt, dass Sie den TGV nehmen?, will er wissen. Er hätte anrufen und damit einen klitzekleinen Aufschub bewirken können. Ein Schaffner kam aber nicht vorbei. Ungerührt bedauert er mein Pech und verwaltet eine Stunde lang den Fall. Schliesslich habe ich neue Tickets für drei verschiedene Züge in der Hand und genug Zeit und einen Gutschein für den Brezelkönig. Umsteigezeiten eingerechnet, verdoppelt sich die Fahrzeit beinahe, für Paris bleiben nur noch knapp vier Stunden Zeit.
Schweizer, französische und deutsche Züge
Um 8.59 Uhr setzt sich der ICE nach Basel in Bewegung. In Basel ist es eiskalt, trist und grau. Kein Mensch kontrolliert mich am Französischen Bahnhof, verlassen liegt er da. Mit einem Regionalzug geht es weiter. Die französischen Bahnhöfe sehen viel trister aus als in der Schweiz. Mulhouse scheint bankrott zu sein, sonst würde man den Bahnhof doch sanieren. Auf den Bahnsteigen blättert der Putz grossflächig von den fleckigen Decken ab, es sieht so gar nicht nach Grande Nation aus. In Strasbourg zieht der kalte Wind noch schneidender ins Fleisch, der Bahnhof ist aber schöner. Im deutschen ICE von Mannheim geht es weiter nach Paris. In diesem Zug gibt es erstaunlicherweise Getränke und Essen im Bordrestaurant. Da eine Reservierung in der gebuchten 1. Klasse nicht möglich war, habe ich einen Platz in der voll besetzten 2. Der ist aber schon belegt und so lande ich doch in der leeren 1., die freundliche deutsche Schaffnerin hat ein Einsehen. Um 14.21 Uhr erreiche ich den Gare de l’Est. Niemand will während der Reise meine Papiere sehen, auch nicht bei der Ankunft.
Ungemütliche Atmosphäre
Eigentlich wäre ich am Gare de Lyon angekommen. Zum Glück habe ich einen Stadtplan dabei, mit dessen Hilfe ich mich bis zum Antiquitätenviertel rund um die Rue Drouot durchschlage. Auch Paris empfängt mich heute abweisend, trist und grau. Keine Spur von Rosenmontag. Die schmutzigen Strassen wirken so düster und schlecht gelaunt wie die Passanten hinter ihren Masken. Hier und da stehen ein paar finster blickende Männer vor arabischen, türkischen oder asiatischen Take-aways und essen auf der Strasse. Stühle, Bänke oder Stehtische sind nirgends zu sehen. Ausser in geschlossenen Restaurants und Cafés, wo sich demonstrativ Bistrostühle hinter den Fensterscheiben stapeln. Kleine Krämer- und Elektroläden sind geöffnet, die meisten Geschäfte haben die Rolläden heruntergelassen. Ich stecke meine ID, EC-Karte und ein paar 50er-Noten in die Hosentaschen, mir ist nicht wohl in meiner Haut. Die Gegend wirkt zwielichtig auf mich, gefährlich – vielleicht ist das der Grossstadtschock nach langer Pause. Die Frauen, denen ich begegne, tragen ihre Taschen von einer Hand geschützt vorm Bauch. Bis ich mich akklimatisiert haben werde, ist die Zeit schon rum.
Im Quartier der Kunst- und Antiquitätenhändler, Galeristen und Auktionshäuser werden die Strassen bürgerlicher und aufgeräumter. «Wir machen Expertisen», «Lassen Sie ihre Kunstwerke schätzen!» lese ich in vielen Schaufenstern. Rechtzeitig vor Büroschluss betrete ich das Auktionshaus. Meine Geschäfte erledigen sich ziemlich zügig, die Bilder lassen sich mit Drücken und Würgen im Koffer verstauen. Ein paar Mitbringsel haben noch Platz. Nun beginnt der vergnügliche Teil des Ausflugs, die Shoppingtour.
Stilles Örtchen gesucht
Es fängt an zu regnen. Da nur noch eineinhalb Stunden fürs Einkaufen bleiben, steuere ich direkt die Grands Magasins an. Bis zu den Galéries Lafayette ist es nicht sehr weit, ich gehe zu Fuss. Wenn sich unterwegs eine Toilette fände, wäre das wunderbar. Aber dasselbe Bild wie vorhin, alles ist zu. Der Drang wird stärker wird, die Einkaufslust nimmt ab. Die meisten Schaufenster sind verhängt, leer oder werden gerade umdekoriert. Die Eingänge der grossen Kaufhäuser sind mit eisernen Vorhängen verriegelt, auch die der Galéries Lafayette. Nur Lebensmittelläden, Apotheken, Kioske, Kosmetik- und Billigklamotten-Ketten, wie es sie in jeder Fussgängerzone gibt, haben geöffnet, Kunden stehen in langen Schlangen davor. Zum Glück hat das Gourmethaus der Galérie Lafayette am Boulevard Haussmann offen, wenigstens kann ich etwas Feines mit nach Hause nehmen!
Ich stromere durch den Gourmettempel, das Wasser läuft mir im Mund zusammen, aber ich denke nur noch an ein WC, meine Blase rebelliert. In der dritten Etage, die dank «click & collect» zugänglich ist – hier kann man online gekaufte Haushaltswaren abholen –, finde ich ein geöffnetes Kunden-WC. Danach geht es schnell, ich fülle den Koffer mit Delikatessen, die sich gut im Koffer transportieren lassen.
Die Zeit reicht noch für eine grosse Runde um die Oper. Hunger meldet sich. Just jetzt sehe ich nirgends einen Take-away, nur eine Filiale von Lindt im Haus von Suisse Tourisme, also stelle ich mich in eine Nische an der Strasse und esse den Rest der Zürcher Käsebrezeln unter dem grauen Pariser Himmel auf. Ich drehe die Runde um die Oper weiter. Am Haupteingang sitzen junge Menschen mit und ohne Masken auf den Stufen, ein Strassenmusiker macht Musik davor und Paris sieht in dieser Szene ein kleines bisschen farbiger aus.
Schwarze Raben in der Nacht
Gegen 17 Uhr nehme ich ein Taxi zum Gare de Lyon. Wer weiss, ob es später noch freie Taxen gibt, wenn ganz Paris um 18 Uhr zuhause sein muss? Der Taxifahrer schimpft über die Ausgangssperre, «le couvre-feu, c’est la catastrophe!» Die Strassen sind dann menschenleer, wer noch angetroffen wird, wird von der Police kontrolliert. Wer keinen guten Grund oder Ausnahmegenehmigung hat, zahlt 350 Euro Busse. «Für Berufstätige, die einen weiten Arbeitsweg haben, einkaufen und die Kinder von der Schule oder vom Hort abholen müssen, nicht zu schaffen», grummelt er. Nachts gibt es für ihn keine Arbeit mehr und tagsüber hat er ein Problem. Weil keine Bar, kein Café, kaum ein Hotel, Museum, einfach gar nichts geöffnet ist, kann man nur noch «pissen wie ein Hund. Zwischen Autos oder an einen Baum.» Taxifahrerinnen haben’s echt schwer.
Die Rückfahrt im TGV nach Zürich verläuft ohne Störung. Unterwegs sind Strassen und Bahnhöfe menschenleer. Das Abteil ist mit nur drei Personen schwach besetzt. Wieder will niemand auf französischer Seite meine Genehmigungen sehen. Die freundlichen Schweizer Grenzpolizisten studieren dagegen im Zug das online-Einreiseformular genau. Sie wollen auch meine mitgebrachten Waren sehen und staunen nicht schlecht über die «Schwarzen Raben in der Nacht» und die anderen japanischen Farbholzschnitte. Für so etwas gibt man Geld aus und setzt sich einen Tag lang in den Zug? Mir hat der Ausflug nach Paris einen grossen Energieschub gebracht. Die Grenzen sind doch auf eine Art offen, ich fühle mich frei und ein banales Reisli wird in der Pandemie zur grossen Sache.