Haymon Verlag, Innsbruch-Wien 2011
Klaus Merz, Foto © Franziska Messner-Rast «Die Lamellen stehen offen» Gedichte von Klaus Merz 1963-1991»
«Die Lamellen stehen offen» Gedichte von Klaus Merz 1963-1991»
Von Ingrid Isermann
Der erste Band der Werkausgabe umspannt den lyrischen Bogen von den Anfängen der Sechziger- bis in die frühen Neunzigerjahre. Zahlreiche Gedichte aus dem Frühwerk von Klaus Merz, die zum grössten Teil noch vor seinem Buch-Debüt 1967 entstanden, werden hier erstmals veröffentlicht. Ebenso enthält der Band ein bislang unveröffentlichtes, in den 1980er Jahren entstandenes Lyrik-Manuskript aus dem Schweizerischen Literaturarchiv.
Subtile Wegmarken sind es, die die Gedichte von Klaus Merz kennzeichnen, keine lauten Stimmen, eher verhaltene Töne zwischen den Zeilen, von leiser Melancholie getragen.
Skizzen aus dem gewöhnlichen Alltag, Zwischen-
menschliches, das in die eine oder andere Richtung kippt, Beobachtungen, die mitunter auch nichts an Schärfe vermissen lassen, dann wieder fatalistische Bemerkungen über Situationen und das Leben, dass es eben so sei, das Leben…
In diesen Gedichten lassen sich Stimmungen und Atmosphären wiederfinden, die jedem schon begegnet sind, in Worte gefasst behalten sie ihren Aktualitätswert.
September
Ich sammle die Pupillen
fremder Menschen ein
und spiele Marmel
auf den Spiegeln weiter Säle.
Es rollen braun und blau die Augen
entlang der groben Festlichkeit.
Erdalt fiel vorhin schon mein Herz
aus allen Spiegeln in die Einsamkeit.
Nacht
Die Lamellen stehen offen.
Die Stadt wirft Lichtgirlanden herein
legt Scheinkronen auf
vergoldet den Tüll.
Das Glück wird sichtbar
durch einen Spalt.
Der Atem, der dich anfliegt
zieht uns hindurch.
Distanzen
Von Auge zu Auge
vom Aug zum Mund
von Mund zu Mund
vom Mund zur Hand
von Hand zu Hand:
Das unübersetzbare Mass
von Distanzen
es misst uns aus.
Wider-Sehen
Im Wegschauen sehen.
Im Weghören hören.
Wahrnehmen, was
durch Vorzeigen nicht
sichtbar wird.
August
Die Felder entlang
werden wieder die Gerüchte
des Klatsch-Mohns vernehmbar
lassen mich nachts
nicht mehr schlafen.
In den Mäulern der Grossmütter
die Dreschflegel von neuem erwachen
während ich
ohne Erinnerung bin
ohne Sprache.
Sommer um Sommer
muss ich mich neu
übersetzen.
Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in Unterkulm. Er debütierte Mitte der Sechzigerjahre mit Gedichten, seither sind über dreissig Veröffentlichungen hinzugekommen: Gedichtbände, Kurzprosa und Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke, Novellen und kurze Romane, Bildbetrachtungen und essayistische Arbeiten.
Klaus Merz wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hermann-Hesse-Preis der Stadt Karlsruhe (1997) und dem Gottfried-Keller-Preis (2004) für das gesamte Werk. Seine Texte wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Band I der vorliegenden Werkausgabe versammelt die frühe Lyrik von Klaus Merz, Gedichte aus den Jahren 1963-1991 sowie bisher unpublizierte Gedichte unter dem Titel „Weisse Gedanken“, die noch vor seinem Debütband „Mit gesammelter Blindheit“ erschienen sind.
Merz betreute auch die Herausgabe der Gedichte seines früh verstorbenen Bruders Martin Merz (Zwischenland, Haymon 2003). 1997 schaffte Klaus Merz mit „Jakob schläft. Eigentlich ein Roman“ den internationalen Durchbruch. Die Novelle „Der Argentinier“ stand 2009 mehrere Wochen an der Spitze der Schweizer Bestsellerlisten.
Merz gilt als „Meister der Lakonie“, der das Pulsieren der Zeilen, den Zündstoff der Gedanken in wenigen Worten unmittelbar aufscheinen lässt.
Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung 1979, 1997 und 2005, dem Aargauer Literatur- und dem Kulturpreis 1992/2005, dem Solothurner Literaturpreis 1996, dem Prix littéraire Lipp 1999.
2007 Ausstellung „Der gestillte Blick. Der Schriftsteller Klaus Merz“ im Strauhof Zürich.
Klaus Merz
Die Lamellen stehen offen
Frühe Lyrik 1963-1991
Werkausgabe Band 1,
herausgegeben von Markus Bundi.
ISBN 978-3-85218-654-2
240 S., Hardcover mit Schutzumschlag
CHF 35.90. 24.90 Euro.