FRONTPAGE

«Die Magie surrealistischer Spiegelbilder»

Von Ingrid Isermann

Den Spiegelungen der Natur, Wahrnehmungen zwischen Realität und Wirklichkeit, Fiktion und Wahrheit, gelten die vielfarbigen Vexierbilder in Marion Poschmanns neuen Gedichten «Geistersehen», für die sie mit dem diesjährigen Peter- Huchel-Lyrikpreis ausgezeichnet wurde. Die Lyrikerin wurde 1969 im Ruhrgebiet in Essen geboren und lebt heute in Berlin.

Geisterfahrer sind bedrohlich vom Weg auf die Gegenfahrbahn abgekommen. Geister sehen gehört zum Wesen der Esoterik, übersinnlicher Phänomene und der Mystiker. Marion Posch- mann nähert sich über Sichtbares dem Unsichtbaren an, ihr lyrisches Ich begibt sich an die Ränder der Unschärfe, der Leere, der Zeit, den Gründen und Abgründen des Ichs und beobachtet, wie Wirklichkeit entsteht und sich wieder auflöst, das Verstörende im Vertrauten, das Abgründige im Nahe-liegenden, das Ungewisse und Unheimliche im Gemütlichen.
Es sind die «Minusmengen», die sie im Gedicht bespiegelt, «wir wanderten / auf absinkenden Jahresscheiben, / heute noch / überlebensgross / die Schatten, die uns folgten / heute noch»; im «Niveau-Gefühl» beschreibt sie: «der milchige Eindruck des Brustbilds / verstärkte sich, / unscharfe Ränder des Lächelns / wie Spähtrupps des Unterbewusstseins» oder in «vage Einsichten»: «sofern es mich hier gab, in diesem Raum voll Schäumen / war ich ein Badewahn vor weisser Kachelwand / und meinem Spiegelbild, es schien mir unbekannt, / ein heller Widerstand in unsichtbaren Träumen».
Wer sich ihren Spähtrupps des Unterbewusstseins anschliesst, über Testbilder, Störbilder und Kanäle dieser mystischen und betörend magischen Dichtung folgt, überschreitet «versenkbare Sperrpoller».
Mit Glanz und Dampf, Schall und Rauch und fluider Intelligenz unterwegs, «tapferen Doppelgängern, / die uns beständig entgegenkamen, / ohne uns je zu erkennen»; // «als hätten wir das alles ausgeatmet: / ein Restaurant aus rauchig getönten / Scheiben, in denen Gesichter somnambul / Zeremonien vollführten, sacht / hin- und herrückten, Lebendschach». /
Raumkrankheit: «es war das Naheliegende, an das sich / niemand erinnern konnte / Herden von Gemsen eilten über die Berge / wie etwas gänzlich Unkluges, wie Wellen // dann verharrten sie in übertriebenem / Wetterleuchten, umstrahlt von unserem / bewundern- den Blick, wir umgaben sie im Geiste mit Edelweiss und Enzian, // stille Teilhaber an ihrer speziellen / Art von Bescheidenheit, die nur manchmal / erschreckt zurücksah, damit wir die Frassspuren / nicht bemerkten, den Forstverbiss».
Der Gedichtband ist in neun Zyklen gegliedert. Im Zyklus «Trugbilder: Herbarium» werden botanische Lehrstücke des verschollenen Kräuterwissens präsentiert, auf den Spuren einer Hildegard von Bingen, wie beispielsweise in «Chamaemelum mobile (Rö¨mische Kamille)»: «wir tranken Tee aus dem Erbporzellan der Äbtissin, gedachten der Vorgängerinnen, Wap- pen entfalteten an allen Wänden verschlungene Schwingen, bewegten sich raubvogelhaft durch den Raum».
In ihren «Bildnissen» zeichnet Poschmann skurrile Porträts:
Selbstporträt als Innozenz (nach Bacon) «als Propfreis pflege ich mich auf die Sessel zu pflanzen; / Veredelungsriten im Rohstoff der Merkmale, meiner selbst / ungewiss vor dem Gestänge geschwächter Säle; herrisches / Pudeldunkel umgibt mich, Räume so selbstlöschend, / grenzenlos nachsichtig, immer erst im Entstehen / begriffen, mir unähnlich, aber doch ähnlich mit ihren / kleinen herausgefilterten Plätzen; wie mein Gesicht, / gecrushtes Eis hinter den Gitterstäben eines Kinderbetts».
Auch im abschliessenden Kapitel «Lehrpfad der Abwesenheit» erschliesst sich die Wahrnehmungskunst Marion Poschmanns: «der Wiedehopf auf Truppenübungsplätzen // verscharrte Munition, verwehte Panzerwege / aus Sand und nochmals Sand, / die eisen- harte Noth, die Altlasten, die Weite, // das Ungere- gelte und seine Wetterseite».
Die Gedichte funkeln wie lichtvolle Sprenkel in einem Kristall: «Geistersehen» als Metapher des träumenden Bewusstseins.

 

Hinweise zur Erderwärmung

 

störrisch im Gegenlicht stehen
die Wintertiere mit Goldrand
sie kauen ein Amt, eine Bürde
wir wollten uns wärmer fühlen
noch haben wir alle Sonne für uns

 

der leichte Rauchgeruch aus ihren Hufen
liegt tiefer als sonst, wie kneifen
die Augen zusammen, behelligt, geblendet,
und später ergibt es sich, und wir
stopfen die Ritzen zwischen ihnen zu

 

so entsteht ein Gefühl von unverhoffter Freude
wie sehr stark durchgeführte Flüsse
die Winterhitze, noch ist sie rosa
etwas Zänkisches treibt säuberlich abgepackt
in dieser Polarnacht aus Zellophan.

 

«Geistersehen»
Marion Poschmann, Suhrkamp, Berlin 2010, 126 S., CHF 30.90. ISBN 978-3-518-42129-1

 

Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Slawistik und lebt heute in Berlin. Sie wurde mit mehreren Preisen, u.a. mit dem Villa Massimo-Stipendium und dem Literaturpreis Ruhrgebiet ausgezeichnet. Im April 2011 erhielt sie den Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik vom Bundesland Baden-Württemberg und dem Südwestfunk (SWR).

 

© Erstveröffentlichung in neuland-mag.net Nr. 3/01.2011.

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