«Die mannhaft Unsichtbare»
Von Daniele Muscionico
Tags ist sie Lehrerin, nachts tanzt sie öffentlich so wild, dass das Publikum nach der Polizei ruft: Sophie Taeuber-Arp (1889–1943), Architektin der Sixtinischen Kapelle der Moderne, ist eine grosse Vergessene der Kunstgeschichte.
Die Königin tanzt! Sophie Taeuber tanzt Hugo Balls «Gesang der Flugfische und Seepferdchen», und es ist ein Tanz voller Spitzen und Gräten. Eine Narretei, eine ironische Glosse, eine Kaprize – Dada eben, das bedeutende Nichts, an dem nichts etwas bedeutet. Die Dada-Königin Sophie, eine Schülerin des Tänzers Rudolf Laban, fühlt sich in ihrem Element. Alles, was der jungen, zurückhaltenden Textilgestalterin sonst schwerfällt, hier kann sie es ausdrücken: Temperament, Sinnlichkeit, Fantasie.
Sophie tanzt mit ihrer Freundin Mary Wigman in Labans Atelier an der Zürcher Seehofstrasse und im Sommer auf dem Monte Verità – doch am liebsten tanzt sie heute und hier: 1917 im Cabaret Voltaire an der Spiegelgasse, getreu dem Motto von Hans Arp: «Man soll seinen Viktor nicht unter den Scheffel stellen.» Ein Protest gegen die Raserei des Weltkriegs durch Provokation. Das Publikum wird nach der Polizei rufen, nach dem Irrenarzt, nach dem Verbandskasten …
Für Sophie Taeuber ist Dada nur ein Teil ihres Lebens. Sie ist die Einzige in der Dada-Gruppe, die einen soliden Beruf ausübt und regelmässig Geld verdient. Die Tochter eines preussischen Apothekers und einer Appenzellerin, die ihre Kinder nach dem Tod ihres Ehemanns allein aufzieht, in Trogen die «Pension Taeuber» eröffnet und führt, unterrichtet an der Textilklasse der Zürcher Kunstgewerbeschule: Komposition, Sticken und Weben. Ein Beruf, der Berufung ist.
Sie will bei jungen Menschen Verständnis wecken für die Kunst, die Moderne vor allem. Dass einer ihrer Studenten der spätere Avantgardist Max Bill ist, wird in Sophies Zukunft einmal schwer wiegen. Doch noch besucht sie mit ihrer Klasse Museen, Ausstellungen und auch die Soireen des Cabaret Voltaire. Die Direktion schäumt. Dada, ist das jugendfrei? Vereinbar mit dem Erziehungsauftrag einer Lehrerin? Direktor Alfred Altherr verbietet der Lehrerin die Teilnahme an dadaistischen Veranstaltungen, doch sie tanzt weiter – versteckt hinter den furchterregenden schamanistischen Masken von Marcel Janco.
In ihrem Unterricht ist sie bestrebt, «ihren Schülerinnen einen Begriff von den Problemen der Zeit zu vermitteln, so dass diese nicht ins sinnlos Kunstgewerbliche abglitten…» So sah es in der Rückschau Max Bill. Ein anderer ist spöttischer: «Scharen junger Mädchen […] mit dem brennenden Wunsch, unaufhörlich Blumenkränze auf Kissen zu sticken. Die grauenhaftesten Vorbilder spukten in diesen rosigen Jungfrauen, doch Sophie gelang es durch Sanftmut und Güte, die meisten zum Quadrat zu führen.» Das Quadrat ist ihr bevorzugtes Sujet, wie es unabhängig von ihr auch Mondrian, Malewitsch oder ihr Landsmann Johannes Itten entwickelt.
«Güte» und «Sanftmut» will Hans Arp in Sophie entdeckt haben, zumindest postum. Der Elsässer ist nicht nur ein talentierter Maler und Bildhauer, er ist auch ein ausserordentlicher Charmeur. 1915, Sophie ist 26 Jahre alt, gerät auch sie in seinen Bann. Die beiden gestalten fortan gemeinsam geometrische Collagen und Holzplastiken. Später wird sie Arp heiraten und mit diesem Entschluss besiegeln, dass sie sich in seinen Schatten stellt, ihn finanziert, ihn organisiert, ihm selbst die Fahrkarten löst, er fühlt sich dazu nicht imstande … Eine Freundin, Claire Goll (bürgerlich Claire Studer), beschreibt die Sophie jener Tage: «Sie macht keinen Unterschied zwischen Geschirrspülen und Dichten, Sticken und Schuheputzen.» Ein Leben im Einklang zwischen ihrer Bestimmung als modernistische Künstlerin und der Rolle als Hausfrau? Sophie Taeuber und Hans Arp, ein Paar von heiterer Harmonie? Für ihre Freunde wirkt es so, man ist fasziniert von der Symbiose zweier verwandter Seelen, die mit ihrer Kunst «das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle wieder herstellen» wollen.
Arp ist als Künstler und animateur culturel in ganz Europa unterwegs, Taeuber verdient derweil im heimatlichen Zürich den gemeinsamen Lebensunterhalt. Kein Widerspruch für eine eigenständige Frau? Sophie scheint dazu da, Widersprüche auszugleichen. In ihrer winzigen Wohnung stellt sie in ein und demselben Jahr (1918) scheinbar Unvereinbares her: einen eiförmigen, als Hutständer zu gebrauchenden Dada-Kopf, versehen mit dem grotesken Porträt ihres Mannes und zur selben Zeit: fantastische, auf geometrische Grundformen reduzierte Marionetten für die dadaistische Adaptation von Carlo Gozzis «König Hirsch» – noch vor Schlemmers «Triadischem Ballett»! Ein feierliches Triptychon, das sich heute im Kunsthaus Zürich befindet, das wohl erste ungegenständliche Beispiel dieser Gattung. Sie ist bienenfleissig und kreativ! Gründe genug, dass Hans Arp sie nach ihrem Tod in seinen zahllosen, verklärenden Hymnen «eine fleissige Arbeiterin, eine fleissige Träumerin» nennt.
Bald ist die Fleissige nicht mehr nur Lehrerin, sie geniesst internationale Anerkennung und gibt eine eigene Zeitschrift heraus, Plastique, die in Paris und New York erscheint und über die amerikanische und europäische konkrete Kunst informiert.
Sophie Taeuber präsidiert diverse Künstlervereinigungen und wird, in Paris, in London (hier auf Einladung von Marcel Duchamp), mit allen Grossen der Konstruktivisten ausgestellt, zumeist als einzige Frau. 1926 übersiedeln die Arps nach Strassburg und erwerben die französische Staatsbürgerschaft. Sophie erhält den Auftrag, in der ehemaligen Kaserne ein zweistöckiges Vergnügungslokal zu gestalten, die «Aubette». Sie wird als die «Sixtinische Kapelle der abstrakten Kunst» in die Geschichte eingehen.
Mit dem Erlös aus diesem Auftrag baut sie für ihren Mann und sich in Meudon bei Paris ein Haus mit einem nach konstruktivistischen Grundsätzen angelegten Garten. Ihre Abendgesellschaften sind euphorisch, moderne Komponisten und surrealistische Dichter, eine Atmosphäre von Champagner, in der die Ideen perlen, die Arps als Zentrum und Katalysatoren …
… bis ein wahnsinniger Österreicher ihre Kunst als «entartet» diffamiert. Am Tag der Besetzung von Paris flieht das Ehepaar nach Südfrankreich und strandet nach einer langen Odyssee in Grasse. Die materielle Not ist gross, und die Sendungen von Max Bill, Sophies ehemaligem Schüler, werden überlebenswichtig. Sie selbst hilft Verfolgten bei der Flucht aus Frankreich. Wird auch ihnen die Flucht in die USA glücken, wie dem Malerfreund Max Ernst?
Über Nacht marschieren die Nazis auch in Grasse ein, im letzten Augenblick entkommen die Arps in die Schweiz: ein jähes Ende von Sophies Karriere, an die sie allmählich zu glauben begann. In Zürich wohnt sie bei Freunden, ihre Gesundheit ist labil, wird ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängert?
In der Silvesternacht 1942, im Haus von Max Bill, wirft sie bei einer spiritistischen Séance zweimal ihr Todeszeichen. Zwei Wochen später ist sie tot.
Es ist Januar und kalt, sie hat in Bills Atelier gearbeitet. Dinge, die es noch zu vollenden gilt, «man weiss nie». Für eine Heimkehr ist es zu spät, sie wird über Nacht hierbleiben und zündet den Kanonenofen an. Ist sie so müde, dass sie vergisst, die Luftklappe zu öffnen? Ist sie lebensmüde? In der Luft sammelt sich Kohlenstoffdioxid an. Hans Arp findet Sophie am anderen Morgen, sie scheint friedlich zu schlafen.
Daniele Muscionico
Starke Schweizer Frauen
24 Porträts
Vorwort von Margrit Sprecher
Limmat Verlag Zürich 2011
ISBN 978-3-85791-637-3
Sophie Henriette Gertrud Taeuber-Arp (geb. 19. 1. 1889 in Davos, gest. 13. 1. 1943 in Zürich) war Malerin, Plastikerin, Architektin, Dadaistin und Pionierin der konstruktiven Kunst. Sie unterrichtete Textiles Entwerfen an der Zürcher Kunstgewerbeschule und gilt mit ihrem Werk als eine der innovativsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Taeuber ist als einzige Frau auf einer Schweizer Banknote, der 50-Franken-Note, abgebildet.
Anmerkung Redaktion Literatur & Kunst: Zum 70. Todestag von Sophie Taueber-Arp erinnert auch ein Dokumentarfilm von Marina Rumjanzewa des Schweizer Fernsehens Sternstunde Kunst an die unbekannte Berühmte. Eine DVD ist auf Ende 2013 geplant.