© Tanja Dorendorf / T+T Fotografie
Corinna Harfouch © PD
«Schauspielhaus Zürich: Die Schwerelosigkeit der Physiker»
Von Ingrid Isermann
Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Sinn und Irrsinn auch. Dürrenmatts abgründige Komödie «Die Physiker» ist im Schauspielhaus Zürich zu sehen: Die Inszenierung von Regisseur und Bühnenbildner Herbert Fritsch kalauert gegen die Schwerkraft, Wahrheit und Wissenschaft.
Am Premierenabend trifft sich ein urban gemischtes, generationenübergreifendes und junges Publikum im Foyer des Schauspielhauses. Man kommt in Jeans oder auch als Paradiesvogel. Wer eine traditionelle Version des 1962 mit Therese Giehse erstmals aufgeführten Theaterstücks «Die Physiker» von Friedrich Dürrenmatt erwartete, wurde enttäuscht. 1980 überarbeitete Dürrenmatt das Stück zur Tragikomödie und Groteske, in der auch Maria Becker am Schauspielhaus Zürich ihren grossen Auftritt hatte.
Die Definition «Komödie» des Stückes von Dürrenmatt zwischen Realität und Wahn hat Herbert Fritsch ernst genommen. Die Inszenierung ist ein schrilles Lifestyle-Spektakel mit schwarzem Humor. Obwohl, Humor ist überwundenes Leiden an der Welt (Jean Paul). Die Protagonisten klettern wie Zombies behende die Wände rauf und runter, wobei sich die jungen Pfleger als Muskelprotze hervortun (Jan Bluthardt, Joel Eggimann, Michael Stuber), die mit Purzelbäumen & Pantomime für ihre tolle Performance Applaus auf offener Szene einheimsen. Das Bühnenbild zeigt den möblierten Salon der Irrenanstalt als giftgelbe Gummizelle, unmöbliert natürlich, mit dicker Tresortür. Die käsigen Physiker Einstein, Newton und Möbius, Methusalems mit wehenden, langen Haaren in rosa oder lila Jumpsuits, werfen je nach Beleuchtung gespentisch oszillierende grüne Schatten.
Krimi & Slapsticks
Möbius (Milian Zerzawy), das ist der Physiker mit der Weltformel, die die Vernichtung der Welt bedeutet und die er im Irrenhaus verstecken will, erwehrt sich der Zuneigung der Krankenschwester, die ihn und die Wahrheit entlarvt hat, indem er sie kurzerhand beseitigt und danach trachtet, auch seine lästige Familie loszuwerden. Newton (Wolfram Koch) und Einstein (Gottfried Breitfuss) sind Meta-Gaga und dito nicht irre, tun ein Gleiches, ermorden ihre Krankenschwestern und sind als Agenten auf der Suche nach der Weltformel, als Verfolger ebenso kreativ und mordlüstern wie der Verfolgte. Was Kommissar Voss (Jean-Pierre Cornu) auf den Plan ruft, der wie ein TV-Krimi-Inspektor telegen mit Zigarre in der Hand auftritt, bewacht vom diensteifrig jonglierenden Feuerwehrmann (Benedict Fellmer).
Und wo bleibt der Ernst der Lage in den Parforceleistungen dieser schwerelosen Leichtigkeit, mochten sich manche Zuschauer fragen. Und sind gespannt auf die Chefin des Sanatoriums, die Irrenärztin Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd, verkörpert von der fulminanten Corinna Harfouch, die man so noch nie gesehen hat. Schmal, schlank und rank in Rapunzel-Haartracht mit eckigen, spastischen Bewegungen, ist auch sie imstande, behende die gepolsterten Wände zu erklimmen.
Die Möbiusschleife
Wem Dürrenmatts Komödie traditionell geläufig ist, hat sich in dieser Inszenierung in die Interpretationen des Anything goes einzufühlen, die der Zeitgeist diktiert. In der Social Media World der digital natives wird alles easy, transparent und leichthin gewogen. Ob es wirklich so ist, ist die zweite Frage. Und hier setzt die zuckersüss hingeworfene Ironie ein, wenn beispielsweise Fräulein Doktor von Zahnd wie ein Grashüpfer auf der hohen Mauerecke sitzt, auf der Mauer auf der Lauer, überhaupt dieses die-Wände-hochgehen oder der sinnfällige lange (Zwangsjacken-)Arm, der Krankenschwestern (Miriam Maertens, Julia Kreusch, Susanne-Marie Wrage) und Physiker umschlingen oder erdrosseln kann.
Die Arme von Dr. von Zahnd reichen am längsten und muten wie eine Möbiusschleife an. Sie ist es auch, die die Weltformel bereits kopiert, atomisiert und zur Nutzung an todbringende Fabriken vermarktet hat. Die wahnwitzige Leiterin des Irrenhauses ist die wahre Verrückte. Ihr Auftritt im roten Königinnenkostüm à la Marie Antoinette ist eine Pracht der Inszenierung, wie überhaupt die Kostüme von Victoria Behr umwerfend sind.
Parallelen zu Bereichen der Politik oder der Finanzwirtschaft sind rein zufällig. Sinnfrage hin oder her. Und ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode. Dass die Inszenierung mit den coolen Untoten, die nach ihren Auftritten scheppernd hinter die Bühnenwand kippen, nicht nur fürs Auge ein fulminanter Spass ist, als makabrer Tanz auf dem Vulkan, könnte auch Dürrenmatt gefallen haben, wir wissen es nicht.
Möbius sagt: «Ich bin nur Physiker geworden, um die Ordnung der Natur in eine höhere Ordnung zu bringen». Auch Herbert Fritsch wäre gern Physiker oder Wissenschaftler geworden, wie er im Programmheft in einem Interview mit der Dramaturgin Sabrina Zwach sagt.
«Meine Aufgabe besteht darin, über die Gravitation nachzudenken», sagt Newton.
Der auch noch nicht wissen konnte, dass das Higgs-Teilchen erwischt wurde und im CERN in Genf rund um die Uhr Teilchenexplosionen auf den Weg geschickt werden. Was uns das bringt? Die Physiker gehen die Wände hoch, bis die aberwitzige Weltformel gefunden ist und sind noch am Rätseln, was die Welt im Innersten zusammenhält. Währenddem Populismus und NSA-Abhörskandale (Stop watching us!) voranschreiten. Die Human Robots lassen grüssen. Die Verantwortung nicht nur der Wissenschaft an einer mehr und mehr nur auf ökonomische Werte beschränkte Welt bleibt. An welchem Systemfehler liegt es, sich nicht für den Lauf der Welt verantwortlich zu fühlen und nur darüber noch kalauern zu können? Ach ja, gerade ist ein zweites Sonnensystem entdeckt worden. Friedrich Dürrenmatt würde sich freuen.
Die Physiker
von Friedrich Dürrenmatt
Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Victoria Behr, Licht: Ginster Eheberg. Dramaturgie: Sabrina Zwach.
Mit: Corinna Harfouch, Wolfram Koch, Gottfried Breitfuss, Milian Zerzawy, Jean-Pierre Cornu, Friederike Wagner, Jan Bluthardt, Miriam Maertens, Julia Kreusch, Susanne-Marie Wrage, Joel Eggimann, Michel Stuber, Benedict Fellmer, Marc Baumann, Leandro Bärlocher, Cyrill Birchler, Alex Eastman, Leo Thomas.
1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
Aufführungsdaten: www.schauspielhaus.ch
Herbert Fritsch, *1951 in Augsburg, Schauspielausbildung in München. Anfang der 1990er-Jahre bis 2007 im Ensemble von Frank Castorf an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz als Schauspieler; parallel arbeitete Fritsch als Medien-Künstler, drehte erste Filme auf 16mm/35mm und zeigte Ausstellungen in Deutschland und der Schweiz mit Fotoarbeiten und Computeranimationen, Vernetzung verschiedener Künste und Medien. Seit 2000 intermediäres Kunstprojekt „hamlet_X“, Fritsch ist dabei Schauspieler, Film- und Theaterregisseur, Autor, Performer, Fotograf und Zeichner. Seit 2007 arbeitet Herbert Fritsch ausschliesslich als Regisseur an verschiedenen deutschen Bühnen. 2009 wird er mit dem Gordana-Kosanovic-Schauspielerpreis und dem Oberhausener Theaterpreis/1. Jurypreis für seine Arbeit als Regisseur und Bühnenbildner («Tartuffe» und «Die Beute») ausgezeichnet. 2009 widmen die Oberhausener Kurzfilmtage Herbert Fritsch ein „Profil“ und zeigen erstmals all seine Filme im Kontext eines Festivals. Nach seiner Inszenierung «Drei Schwestern» am Opernhaus Zürich 2013 ist nun mit Friedrich Dürrenmatts «Die Physiker» erstmals eine Inszenierung von ihm am Schauspielhaus Zürich zu sehen.
«Corinna Harfouch: Elektra im Theater Rigiblick»
Im Schauspielhaus Zürich brilliert sie mit der fulminanten Darstellung als Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd in «Die Physiker», das noch auf dem Spielplan steht. Im Theater Rigiblick nun ist sie «Elektra», die den Vatermord rächt, in der Nachdichtung von Hugo von Hofmannsthal.
Am Samstagabend, an dem schon der erste Schnee fällt, und Flocken durch die Strassen wirbeln, ist das Theater Rigiblick bis auf den letzten Platz besetzt. Und Corina Harfouch sitzt auf der Bühne, in auberginefarbenem Kleid mit schwarzer Strickjacke und schwarzen Stiefeln, schmucklos ohne Kulissen, nur der Tonmeister Shaban neben ihr, und sie beginnt zu sprechen. Eine Sprechrolle der besonderen Art, denn was «Elektra» zu sagen hat, geht unter die Haut.
«Die Stimme als Instrument»
Sie moduliert die Töne, mit wilder Entschlossenheit, mal als zaghafte Schwester, die die zu allem entschlossene Elektra von ihrer Tat, den Vater zu sühnen, die Mutter und ihren Geliebten umzubringen, abhalten will. Dann als die Mutter, die sie beschwört, und der Geliebte, den sie hasst. Und sie beklagt auch Orestes, ihren Bruder. Der jedoch liess sich verleugnen und kehrt mit seinem Pfleger zurück. Elektra ist überglücklich und drängt den Bruder zur Tat, «…von den Sternen stürzt alle Zeit herab…», wirkungsvoll von den Percussionstönen der Trommeln untermalt. Die Verwandlungsfähigkeit ihrer Stimme,
in der Begeisterung und Entsetzen aufschäumen, ist phänomenal, sie beklagt den Verlust des Lebens, «wie ein Kleid zerfallen, von den Motten zerfressen…», in der wunderbaren Sprache Hofmannsthals lässt sich fürs eigene Leben Wahrhaftigkeit erkennen. Das macht die antike Tragödie (413 v.Chr. in Athen, Sophokles) so anrührend. Corinna Harfouch gelingt es, mit ihrer Stimme einen ganzen Kosmos zu schaffen, in der Stimme liegt die Welt. Die sensitive Musikbegleitung stammt von von Johannes Gwisdek, ihrem Sohn (Shaban).
Theater Rigiblick, 23. November 2013 20 Uhr
www.theater-rigiblick.ch