Ai Weiwei ©Fotomuseum Winterthur
Ai Weiwei «Study of Perspective - Tiananmen (Perspektivische Studie - Platz des himmlischen Friedens), 1995-2010 © Ai Weiwei
Mikhail Kaufmann «Alexander Rodtschenko in Arbeitskleidung» 1923, © Archiv Rodtschenko / 2011, ProLitteris, Zürich
Alexander Rodtschenko «Mächen mit Leica» 1934, © Archiv Rodtschenko, 2011, ProLitteris, Zürich
«Doppelausstellung Rodtschenko und Ai Weiwei im Fotomuseum Winterthur»
Von Ingrid Isermann
Ai Weiwei – Interlacing ist die erste grosse Ausstellung mit Fotografien und Videos von Ai Weiwei. Sie stellt den Kommunikator Ai Weiwei in den Vordergrund, den dokumentierenden, analysierenden, verflechtenden und über viele Kanäle kommunizierenden Künstler. Ai Weiwei hat bereits in seiner New Yorker Zeit fotografiert, vor allem aber seit seiner Rückkehr nach Peking unablässig die alltäglichen, städtebaulichen und gesellschaftlichen Realitäten in China dokumentiert und über Blogs und Twitter diskutiert. Die Fotografien des radikalen städtebaulichen Wandels, der Suche nach Erdbeben-Opfern, der Zerstörung seines Shanghai-Studios werden zusammen mit den kunstfotografischen Projekten, dem Documenta-Projekt Fairytale, den unzähligen Blog- und Handy-Fotografien vorgestellt. Ein umfangreiches Material- und Archivbuch begleitet diese Ausstellung. (Bis 21. August 2011).
Ai Weiwei, 1957 als Sohn des Dichters Ai Qing geboren, ist ein generalistischer, konzeptueller, gesellschaftskritischer Künstler, verschrieben der Reibung mit und der Gestaltung von Realitäten. Er ist als Architekt, Konzeptkünstler, Bildhauer, Fotograf, Blogger, Twitterer, Interviewkünstler und politischer Aktivist ein Seismograph für aktuelle Themen und strukturelle Probleme: ein grosser Multiplikator und Kommunikator, der das Leben zur Kunst und die Kunst zum Leben führt. Seit Jahren setzt er sich bewusst mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in China und in der Welt auseinander: mittels Dokumentationen des architektonischen Kahlschlags von Peking im Zeichen des Fortschritts, mit provokativ erscheinenden fotografischen Vermessungen der Welt, mit radikalen Schnitten an der Vergangenheit, um für die Gegenwart und Zukunft Möglich-keiten zu schaffen, und mit seinen Zehntausenden von Blogtexten, Blog- und Handy-Fotografien. Diese erste grosse Fotografie- und Video-Ausstellung will diese Vielfältigkeit, Vielschichtigkeit, Vernetztheit von Ai Weiwei, dieses «Interlacing» und «Networking», ins Zentrum rücken und thematisieren.
Jede Gesellschaft auf dieser Welt braucht zu jeder Zeit, in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, singuläre Figuren wie Ai Weiwei, um wach zu bleiben, um den eigenen Starrsinn zu erkennen, und um die eigene Betriebsblindheit vermeiden zu können. Wir bedauern deshalb aufs Äusserste, dass die Fertigstellung dieser Ausstellung mit der Verhaftung von Ai Weiwei zusammenfällt. Wir sind in grosser Sorge um den Künstler und wünschen, dass dieser grosse Denker, Gestalter und Kämpfer uns allen, besonders aber China, als widerständige öffentliche Stimme erhalten bleibt.
Kurator: Urs Stahel. Zur Ausstellung erscheint ein umfassender Katalog (englisch, mit deutschem Appendix): Ai Weiwei – Interlacing, hg. von Urs Stahel und Daniela Janser, Steidl Verlag Göttingen.
«Revolution der Fotografie» – Alexander Rodtschenko
Die Moderne hat die Fotografie zu sich selbst gebracht. Sie hat sie selbstbewusst gemacht und ihr Selbstvertrauen gegeben. Selbstbewusst, weil die Fotografie in den 1920er Jahren ihre eigenen Möglichkeiten und Qualitäten erkannte und ent-wickelte: ein forschendes Sehen der Welt, ein Erkunden der sichtbaren Wirklichkeit aus verschie-denen Perspektiven, direkt, klar, von oben, unten, hinten, vorne, aber ohne die Verweise auf den Fundus der Kunstgeschichte. Der russische Konstruktivismus ist wesentlicher Teil dieses grossen Wandels.
Im Jahre 1924 stürmte Alexander Rodtschenko, bereits bekannt als Maler, Bildhauer und Grafiker, die traditionelle Fotografie mit dem Wahlspruch «Experimentieren ist unsere Pflicht!» Das Ergebnis dieser Eroberung war ein Neudenken des Begriffs Fotografie und der Rolle des Fotografen. Konzeptuelle Arbeiten hielten Einzug. Statt ein Abbild der Realität zu sein, wurde Fotografie ein Mittel der visuellen Darstellung geistiger Konstrukte und der Künstler wurde zum «Künstler-Ingenieur».
Rodtschenko war weit mehr als ein dynamischer Bildermacher, mit immer neuen Manifesten versuchte er seine Ideen des russischen Konstruktivismus in die Welt hinauszutragen. Stürzende Bilddiagonalen, harte Kontraste, schräge Aufsichten sowie Bild- und Textcollagen sind gestaltende Elemente seiner Fotografie. Gemeinsam mit Alexander Rodtschenkos Texten, bilden diese einen einzigartigen Beleg einer ungebrochenen künstlerischen Energie, die sich auch im typografischen Werk, seinen Plakaten, Einladungskarten und Publikationen manifestiert.
Die Ausstellung wurde vom Moscow House of Photography Museum organisiert und von der Direktorin, Olga Sviblova, kuratiert. Es erscheint ein englischsprachiger Katalog mit deutschem Beiheft. (Fotomuseum Winterthur, Ausstellung bis 14. August 2011)