Die Frauen von Babelsberg, Edition Ebersbach 2012
«Doris, Alice, Iris und die anderen – Rollen und Rollenbilder aus 100 Jahren Film»
Von Christina Tilmann
Sie sind das schöne Gesicht der Filmkunst, Traumfrauen und Glamourgirls, Objekte der Fantasie und des Begehrens: Die Schauspielerinnen Asta Nielsen und Zarah Leander brachten Glanz und Internationalität ins Filmgeschäft, Marlene Dietrich und Lilian Harvey machten den deutschen Film und die Babelsberger Studios weltberühmt. Weniger bekannt sind bis heute Regisseurinnen, Dramaturginnen und Produzentinnen. Die biografischen Porträts sind eine längst überfällige Hommage an die Künstlerinnen vor und hinter der Kamera. Die Filmstudios Babelsberg können 2012 auf 100 Jahre Filmproduktion zurückblicken.
Das Publikum
Doris, ein kleines Provinzmädchen, kommt nach Berlin, fest entschlossen,in der Großstadt ihr Glück zu machen. Und sie will ihren Weg dorthin schriftlich festhalten, nicht als Tagebuch, nein, für ihre Schriften will sie eine neue Form: »Ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein. Und ich sehe aus wie Colleen Moore, wenn sie Dauerwellen hätte und die Nase mehr schick ein bisschen nach oben. Und wenn ich später lese, ist alles wie Kino – ich sehe mich in Bildern.« 1
Nicht nur Doris, Irmgard Keuns Protagonistin aus Das kunstseidene Mädchen, träumt von einer Karriere beim Film. Film, das ist die neue Kunstform für die »neue Frau«, die sich in den leuchtenden Vor-Bildern wiedererkennt, die ihr auf der Leinwand entgegentreten: Asta Nielsen, Colleen Moore, Clara Bow, Henny Porten, Louise Brooks. Flapper, It-Girls, Garçonnes, modern, frech, frei, modebewusst, emanzipiert, selbstständig. So, wie die Zuschauerinnen selbst sein wollten. Film, das ist Sehnsuchtsfutter für Tausende. Kein Wunder, dass das weibliche Publikum von Anfang an als Hauptzielgruppe der neuen Kunstform ausgemacht wurde.
Die neue Kunstform braucht ein neues Publikum – und hat es in den Bürogehilfinnen, Sekretärinnen, Verkäuferinnen oder Telefonistinnen der zehner und zwanziger Jahre gefunden. Mit Bubikopf, Hängekleid, Zigarette und flottem Hut sind sie in fröhlichen Gruppen mit Freundinnen und Kolleginnen auf den Straßen unterwegs, tags ins Büro und abends ins Café, ins Kino und in die VergnügungspalaÅNste. Siegfried Kracauer konstatiert 1929: »Es gibt heute in Deutschland 3,5 Millionen Angestellte, von denen 1,2 Millionen Frauen sind.« 2
»Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino« hat er seinen berühmten Essay genannt. Und klarsichtig beschrieben, dass das neue Medium – wie auch die zeitgleich florierenden Magazine – Bedürfnisse bedient und weckt. 3
Die Begeisterung für den Film geht einher mit neuen Berufsfeldern für Frauen. 21 250 weibliche Angestellte in der Filmbranche zählt die Zeitschrift Der Kinematograph 1916: »Weibliche Angestellte in den Lichtspieltheatern (Kassiererinnen, Platzanweiserinnen, Garderobenfrauen und Vorführerinnen); weibliche Angestellte in Filmfabriken, in Verleihgeschäften und Firmen, die als Lieferantinnen für die Kinobranche in Betracht kommen (im Bureau, in der Expedition, also im Innendienst, und im Außendienst: in den Ateliers, Werkstätten etc.); Filmdarstellerinnen (Solistinnen und Statistinnen).« 4
Doch der abendliche Glanz war für die »Ladenmädchen« nur die kurze Flucht aus einem mühseligen, wenig glamourösen Dasein, das aus schlechter Entlohnung, langen Arbeitszeiten, monotoner Tätigkeit und gelegentlich auch Nachstellungen des Chefs bestand. Kein Wunder, dass diese Mädchen von Happy Ends träumten, die ihnen das Kino immer wieder vor Augen führte: Davon, dass vielleicht der Chef sie heiratet und hinausführt aus dem Erwerbsleben in den Hafen der Ehe und Familie. Und wenn das schon nicht real geschah, so war zumindest der Film dazu da, diesen Traum für zwei süsse Stunden Wirklichkeit werden zu lassen. Das Versprechen, das die Kunstform Kino ihren Konsumentinnen gab, war so traditionell und patriarchalisch wie eh und je.
Die Chance
Alice, eine junge Sekretärin, sitzt 1895 mit großen Augen in Paris in der allerersten Filmvorführung der Brüder Lumière. Sie sieht die Arbeiter aus den Fabriktoren strömen, sieht den Zug in den Bahnhof von La Ciotat einfahren. Und sie weiß: So etwas will ich auch machen. Sie überredet ihren Chef Léon Gaumont, ihr seinen neu entwickelten Apparat für bewegte Bilder für einen Versuchsfilm zu überlassen. Im häuslichen Garten entsteht im Frühjahr 1896 der Kurzfilm La Fée aux choux (F 1896, Alice Guy) – einige Wochen, bevor Georges Méliès im Theater Robert-Houdin seine ersten Leinwandmärchen vorführt. Alice Guy, die kleine 22-jährige Sekretärin von Gaumont, hat damit einen der ersten Spielfilme der Welt gedreht. Sie haben Glück, die Frauen im frühen Film. Dass der Kinematograph eher als Jahrmarktsvergnügen denn als Kunstform gilt, öffnet den experimentierfreudigen Newcomerinnen den Weg in eine neue Welt, in der sie oftmals alles auf einmal machen: als Produzentinnen, Regisseurinnen, Drehbuchautorinnen und Schauspielerinnen. Alice Guy dreht noch bis 1906 für Gaumont Filme und geht dann mit ihrem Ehemann, dem Kameramann Herbert Blanché, in die USA, wo sie mit ihrer Produktionsfirma Solax über 300 Filme herausbringt. 1914 schreibt sie: »Es war für mich lange Zeit ein Grund zur Verwunderung gewesen, dass nicht mehr Frauen die wunderbare Gelegenheit ergriffen haben, die ihnen die Filmkunst bot, um als Filmregisseurin ihren Weg zu Ruhm und Glück zu machen. (…) Es gibt nichts im Zusammenhang mit der Inszenierung eines Films, was eine Frau nicht ebenso leicht wie ein Mann machen könnte, und es gibt keinen Grund, warum sie nicht jede technische Seite dieser Kunst vollkommen meistern könnte.« 5
Auch in Deutschland ist die Filmwirtschaft in den zehner Jahren entscheidend durch Frauen bestimmt. Asta Nielsen verhandelt 1911 selbstbewusst über Beteiligungen und Mitspracherechte, ja stellt Bedingungen, etwa mit welchem Regisseur sie drehen möchte. Nicht der Regisseur, sondern der Filmstar ist in diesen Jahren die entscheidende Figur. Mehrfachnennungen als Produzentinnen, Drehbuchautorinnen und Schauspielerinnen waren eher die Regel als die Ausnahme. Die Amerikanerin Fern Andra, die bei Max Reinhardt in Berlin studiert hatte, gründete 1915 ihre Produktionsfirma Andra-Film. Und Henny Porten war während ihrer Karriere Chefin von drei verschiedenen Produktionsgesellschaften. Während des Ersten Weltkriegs schlägt endgültig die Stunde der Frauen: Die Bioscop-Dramaturgin Luise Heilborn-Körbitz rettet 1914 die Babelsberger Studios durch einen Privatkredit von 20 000 Mark und hält den Betrieb während der Kriegsjahre aufrecht. 6
Nicht zu vergessen die vielen helfenden Hände hinter den Kulissen. Film, das war in den ersten Jahren vor allem Fleißarbeit für schnell angelernte Hilfsarbeiterinnen. Frauen arbeiteten im Kopierraum und im Perforierraum, bei der Film-Kleberei und der Negativ-Abzieherei, im Negativ-Trockenraum und der Filmfärberei. Und doch hatten die Filmmädchen ihr Selbstbewusstsein: In der anrührenden Dokumentation Die kleinen Kleberinnen (BRD 1980, Eva-Maria Hammel, Heide Breitel) erinnert sich eine fröhliche Runde alter Damen an jene Frühzeit des Films. »Als Kleberin war man gleichzeitig auch Regieassistentin«, erzählt eine von ihnen und beklagt gleichzeitig, dass damals wie heute Frauen, die Männerarbeiten machten, nicht in gleichem Maße anerkannt wurden. Denn als sich in den zwanziger Jahren Schnitt, Szenenbild und Montage als eigenständige künstlerische Ausdrucksformen entwickelten, war es mit den Chancen der Frauen schnell vorbei.
Die Ausnahme
Die blonde Friede Velten ist gewohnt, ihren Mann zu stehen im Produktionsablauf der Wolf Helius-Werften für Raumschiffe. »Wenn Sie so weiter arbeiten, werden Sie bald die Werkmeisterin von uns allen sein«, lobt einer der Werktätigen sie bei ihrer Verlobungsfeier. Aber anstatt fleißig im Sinne des traditionellen Frauenbildes Kinder zu produzieren, wird Friede die treibende Kraft bei einem ganz anderen Abenteuer: dem Flug zum Mond. Sie überredet den Astronauten Wolf Helius zum Weltraumflug, sie tritt mit Filmkamera bewaffnet auf den Mond und filmt das neue Terrain. Und sie entwickelt in der Dunkelkammer die Filme selbst. In der Sekretärin Friede, gespielt von Gerda Maurus, hat die deutsche Drehbuchautorin Thea von Harbou ein Frauenbild geschaffen, das ihrem eigenen Rollenverständnis weit voraus war. Nicht sie ist es, die 1928 Frau im Mond, den Film nach ihrem gleichnamigen Erfolgsroman, dreht, sondern ihr Mann Fritz Lang. Nicht treibende Kraft, Entscheiderin, Weltenentdeckerin ist die Frau nach Thea von Harbous Rollenverständnis, sondern dem Genie des Mannes dienende Helferin. Hierin unterscheidet sie sich grundlegend von ihrer Kollegin Leni Riefenstahl, die zeitgleich nicht nur Berge erobert, sondern von Film zu Film stürmt und die Filmwelt nach ihrer Pfeife tanzen lässt. Erst nachdem Fritz Lang Deutschland 1933 verlassen hatte und ins Exil nach Frankreich und in die USA gegangen war, drehte auch Thea von Harbou zwei eigene Filme, mit mäßigem Erfolg. Ab Mitte der zwanziger Jahre setzt in Deutschland wie in den USA ein Verdrängungsprozess ein. Es verschwinden die Regisseurinnen, es verschwinden auch die Drehbuchautorinnen. Erst recht unter den Nationalsozialisten bleibt der Frau bei der Ufa wieder nur die klassische Rolle als Leinwandstar, abonniert auf liebende, leidende Frauen, wie sie Kristina Söderbaum und Zarah Leander immer wieder übernehmen. Leni Riefenstahl ist die große Ausnahme.
Doch zwei Jahre nach Frau im Mond entsteht in Babelsberg ein Film, bei dem tatsächlich eine Frau Regie führt. Mädchen in Uniform (D 1931), ein Emanzipationsdrama in einem preußischen Mädcheninternat, ist das Debüt von Leontine Sagan. In Budapest geboren, in Johannesburg aufgewachsen, hatte sie in Berlin eine klassische Karriere als Theaterschauspielerin gemacht und bei »Gestern und heute«, einem Theaterstück von Christa Winsloe, erstmals auch die Regie übernommen. Als kurz darauf ein Anruf von Carl Froelich, dem Direktor der Deutschen Film Gemeinschaft, kam, dachte sie zunächst, es ginge um eine Rolle beim Film.
Dass sie bei der Verfilmung des Winsloe-Dramas die Regie übernehmen sollte, hielt sie zunächst für einen Witz: »Herr Froelich, ich bin noch nie in einem Filmatelier gewesen, die Filme, die ich bisher gesehen habe, könnte ich an meinen Fingern abzählen. Ich habe mich nur für Rollen im Film interessiert, um Geld zu verdienen. Und dies ist mir nicht gelungen.« 7
Leontine Sagan hat ihr Filmerfolg kein Glück gebracht. Mädchen in Uniform, damals aufgenommen als Kritik an den strengen preußischen Erziehungsmethoden, wurde erst Jahre später als das erkannt, was der Film auch war: einer der ersten Filme, die lesbische Liebe und weibliches Begehren thematisieren. 1932 verlässt die Regisseurin Berlin, geht nach London, wo sie im Auftrag von Alexander Korda und seinen London Film Productions einen weiteren Film dreht, Men of Tomorrow (GB 1932). Der Film floppte, und Sagans Filmkarriere war beendet. »Männer-Regisseure dürfen sich Misserfolge leisten, einer Film-Regisseurin, die an sich ein Kuriosum ist, würde es als ein Makel anhaften. (…) Ich ahnte, dass es beim Film kein später geben würde«, schreibt sie in ihren Erinnerungen. 8
Der Widerspruch
Die DEFA hat Schauspielerinnen hervorgebracht, so eigenwillig, eigenständig, unverwechselbar wie in kaum einer Filmepoche sonst. Ungewöhnlich hoch ist die Zahl der Filme, die Frauen in den Mittelpunkt stellen. Alleinerziehende, Frauen zwischen zwei Männern, Frauen, die bei der Arbeit ihren Mann stehen. So emanzipiert und selbstbewusst sind nur die Frauen in der Frühzeit des Kinos aufgetreten.
Iris Gusner, eine der wenigen DDR-Regisseurinnen, hat das besondere Faible der DDR-Filmschaffenden für Frauenfilme auf den Punkt gebracht:
»Ich wurde oft nach dem Begriff ›Frauenfilm‹ gefragt. Ich habe nie verstanden, was das ist: ein Frauenfilm. Frauen und Männer existieren ja nicht isoliert voneinander, in ihrem Zusammenspiel bilden sie die Gesellschaft, und die hat mich interessiert. Später habe ich verstanden, dass man über Frauen deutlicher über den Zustand einer Gesellschaft berichten kann, nämlich: Wie reagiert eine Gesellschaft auf ihr Bemühen um Selbstbehauptung? Deshalb standen in meinen letzten vier Filmen Frauen im Mittelpunkt.« 9
Stark waren auch die Arbeitsbeziehungen, die zwischen Regisseuren, Kostümbildnerinnen, Dramaturginnen und Schnittmeisterinnen bestanden und zeitweilig zu Lebensbeziehungen wurden. Heiner Carow hat fast immer mit seiner Frau Evelyn Carow als Schnittmeisterin gearbeitet, Siegfried Kühn mit der Autorin Regine Kühn, Roland Gräf mit der Dramaturgin Christel Gräf. Jahrelang hat Egon Günther immer wieder Christiane Dorst als Kostümbildnerin angefordert. Die gebürtige Babelsbergerin war schon als Kind vom Treiben in den Filmstudios fasziniert.
1970 kam sie zur DEFA und übernahm schließlich 1990 die Leitung der legendären Kostüm- und Maskenstudios, die sie bis 1999 innehatte. Und obwohl Günther auf ihre ersten Entwürfe mit dem Ausruf reagierte: »Da haste aber schöne Püppchen gemalt«, entstanden in der Zusammenarbeit Günther/Dorst einige der schönsten Kostümfilme, von Lotte in Weimar (DDR 1975, Egon Günther) bis zu Die Braut (D 1999, Egon Günther).
Überdurchschnittlich viele Schnittmeisterinnen zählte die DEFA, und es gab großartige Szenenbildnerinnen wie Gisela Schultze, die die berühmte »Berliner Straße« mit entwarf. Doch so stark die Frauenrollen in den Filmen waren, so zahlreich Frauen hinter den Kulissen wirkten − als Regisseurin bei der DEFA hatten Frauen es schwer. Wenige nur haben es überhaupt geschafft, und auch die nur mit großen Mühen – oft führte der Weg schließlich zurück in die Regieassistenz. Iris Gusner, die an der Moskauer Filmhochschule studierte und deren erster Film Die Taube auf dem Dach über eine junge Bauleiterin zwischen zwei Männern 1973 verboten wurde und erst 1990 in verstümmelter Form ins Kino kam, arbeitete danach wieder als Regieassistentin für Konrad Wolf.
Heute spricht Gusner recht bitter über die Verhältnisse in Babelsberg:
»Die DDR war patriarchalisch, meine Vorgesetzten jedenfalls waren immer Männer.« 10
Während ihre westdeutschen Kolleginnen wie Helke Sander, Ula Stöckl, Jutta Brückner und Claudia von Alemann sich längst zusammengeschlossen hatten, gab es in der DEFA in dem Sinne keine Frauenbewegung: »Nach meinem Verständnis lag das zum einen an der offiziellen Gleichberechtigung, die uns Frauen zumindest finanziell unabhängig machte, zum anderen: Wir lebten in einem autoritären System, und in einem solchen System suchte man nach Gleichgesinnten und Verbündeten, und die Frage, ob dieser ein Mann oder eine Frau ist, wird zweitrangig. Außerdem hätte sich eine organisierte Frauenbewegung mit Sicherheit nicht öffentlich äußern dürfen.« 11
Erst Ende der siebziger Jahre ändert sich das Klima. Die Regisseurin Evelyn Schmidt erinnert sich an ihren Film Seitensprung (DDR 1980):
»Der Generaldirektor des Studios war neu, die Autorin war eine Frau, die Dramaturgin ebenfalls. Ende der siebziger Jahre sollten die Frauen gefördert werden. Der Generaldirektor namens Mäde knuffte uns lachend in die Arme und nannte uns – sich einbeziehend – Drei-Mäde-Haus.« Auch Iris Gusner durfte wieder drehen: Alle meine Mädchen (DDR 1980), ihr Film über eine Frauenbrigade im Berliner Glühlampenwerk Narva, rehabilitierte sie nach dem Ärger um Die Taube auf dem Dach und machte den Weg frei für weitere Filme.
Das besondere Drama der DEFA waren die Filmverbote, die Frauen vielleicht noch etwas stärker als Männer trafen. Nie hat die Dramaturgin Regine Kühn es verwunden, dass ihr Drehbuch »Schwarzweiß und Farbe «über das Atomkraftwerk bei Lubmin jahrelang verschleppt und nie verwirklicht wurde – aus Angst vor Anti-Atomkraft-Debatten, wie sie zeitgleich in der Bundesrepublik tobten. Auch die Dramaturgin Christel Gräf traf es hart, dass Jahrgang 45 (DDR 1966/1990, Jürgen Böttcher) verboten wurde. Der Film Das Fahrrad (DDR 1982, Evelyn Schmidt) lief zwar an, bekam aber vernichtende Kritiken. Die Dramaturgin Evelyn Richter sieht darin ein »Bauernopfer«: »Wir hatten früher schon einmal so eine Situation. So um 72, 73, 74 herum gab es eine Kette interessanter Filme, die aufmüpfig und problembewusst waren. Sie alle sind durchgekommen, (…) direkt verboten wurde nur einer, und das war der erste Film von Iris Gusner, Die Taube auf dem Dach. Dieser Film war in keiner Weise politisch angreifbarer als die anderen. Aber es war der Film einer Newcomerin, einer Frau, die noch dazu aus Moskau kam. (…) Und ein bisschen ist es vielleicht auch mit dem Fahrrad so. Es war eine kipplige Situation, und Evelyn war das schwächste Glied.« 12
Auch Evelyn Schmidt arbeitet danach als Assistentin weiter: »1987 hatte ich keine Existenz als Regisseurin mehr. Es blieb nur die Alternative, Assistenz zu machen oder einen anderen Beruf zu wählen. Aber zu wählen war da nichts.« 13
Der späte Triumph
2010, die Verleihung der Oscars im Kodak Theatre in Los Angeles steht bevor. Das Ergebnis scheint vorhersehbar. Regisseur James Cameron hatte mit seinem 3D-Spektakel Avatar (USA 2009) Rekorde über Rekorde eingefahren und nach Meinung der Kritiker die Filmwelt revolutioniert.
Alle rechneten damit, dass auch bei der Oscar-Verleihung ein Rekord zu erwarten sei. Und dann die Überraschung: Avatar, für neun Oscars nominiert, erhält nur drei Auszeichnungen, keine davon in den Top-Kategorien.
Klarer Sieger hingegen ist ein Film, dem man nicht allzu große Chancen eingeräumt hatte: ein brutaler, schonungsloser Thriller über den US-Einsatz im Irak, ein Film, der von Angst, Testosteron und männlicher Abenteuerlust erzählt – und der von einer Frau gedreht wurde. Als Kathryn Bigelow, die übrigens von 1998 bis 2001 mit James Cameron verheiratet war, für The Hurt Locker (USA 2009) als erste Frau den Oscar für die beste Regie in Händen hält, ist die Sensation perfekt. 82 Oscar-Verleihungen, über 100 Jahre Filmgeschichte hat es gedauert, bis eine Regisseurin die höchste Film-Ehrung erhält.
Anmerkungen
1 Irmgard Keun, Das kunstseidene Mädchen, München 1996, S. 6.
2 Siegfried Kracauer, Die Angestellten, Frankfurt 1971, S. 11.
3 Siegfried Kracauer, a.a.O., S. 65.
4 R. Echner: Die Frau im Dienste der Kinematographie. Eine soziale Plauderei, in: Der Kinematograf, Nr. 520, 13.12.1916. Zit. nach Frauen und Film, Heft 50/51, Juni 1991, S. 130.
5 Alice Blanché, »Woman’s Place in Photoplay Production«, in The Moving World, 11. Juli 1914, zitiert nach: Anthony Slide, Engel vom Broadway oder Der Einzug der Frauen in die Filmgeschichte, Frankfurt 1982, S. 27.
6 Wolfgang Jacobsen, Babelsberg. 1912 Ein Filmstudio 1992, Berlin 1992, S. 26 f.
7 Leontine Sagan, Licht und Schatten, Schauspielerin und Regisseurin auf vier Kontinenten, Berlin 2010, S. 178.
8 Leontine Sagan, a.a.O., S. 198.
9 Iris Gusner zit. nach Ingrid Poss, Peter Warnecke (Hg.), Spur der Filme. Zeitzeugen aus der DDR, Berlin 2006, S. 322.
10 Iris Gusner zit. nach Ingrid Poss, Peter Warnecke, a.a.O., S. 323.
11 Iris Gusner ebenda.
12 Erika Richter zit. nach Ingrid Poss, Peter Warnecke, a.a.O., S. 388.
13 Evelyn Schmidt zit. nach Ingrid Poss, Peter Warnecke, a.a.O., S. 389. Biografische Porträts über Asta Nielsen, Thea von Harbou, Marlene Dietrich, Henny Porten, Leni Riefenstahl, Lilian Harvey, Zarah Leander, Hildegard Knef, Margarethe von Trotta u.v.m.
Die Frauen von Babelsberg
Lebensbilder aus 100 Jahren Filmgeschichte
Edition Ebersbach Berlin 2012
Herausgegeben von Daniela Sannwald und Christina Tilmann
Mitherausgeber: Internationale Filmfestspiele Berlin (IFB)
Mit einem Vorwort von Dieter Kosslick
128 S., Broschur, ca. 40 Fotos, Euro 19.80.
ISBN 978-3-86915-059-8