Doris Dörrie © Mathias Bothor / photoselection [No image is to be copied, duplicated, modified or redistributed in whole or part without the prior written permission from photoselection GmbH. Fon: +49 30 787 13 65 0. mail@photoselection.de]
«Doris Dörrie – Reisen zwischen Freibad und Tokio»
Von Rolf Breiner
Doris Dörrie ist eine fesselnde Erzählerin und Filmerin, die sowohl Melodramen wie Komödien beherrscht. Die Filmemacherin («Männer») und Schriftstellerin beschreibt in ihren letzten Büchern Inspirationen aus der Küche und die Reiseerfahrungen einer «Heldin» in San Francesco, Tokio und Marrakesch – genussvoll genüsslich. Ihr aktueller Kinofilm «Freibad» entwirft einen bayrischen Mikrokosmos, fast nur von Frauen bevölkert, in dem Vorurteile und Gegensätze aufeinanderprallen.
In diesem Plansch-Mikrokosmos spielt die Welt ein bisschen verrückt und die Männer bleiben aussen vor – bis auf einen befristen Bademeister. Eine Filmkritik und ein Porträt der fabulierenden Filmerin aus Hannover.
Ist man frei im Freibad und heisst das Schwimmbad so, weil man sich frei fühlt? In diesem Fall sind es ausschliesslich Frauen, die sich auf grüner bayrischer Wiese unter Sonnenschirmen (wenn man denn einen erobert hat) oder im plauschigen Nass tummeln. Die verschleierte Fraktion unter Führung Kamilas (Sabrina Amali) wähnt sich endlich ein bisschen frei – vor Männerblicken und muslimischen Regeln. Doch das beobachten Frauen wie die Kopftuchträgerinnen Sema (Sema Poyraz) oder Emine (Ilknur Boyraz) eher argwöhnisch.
Erst recht motzt die weisse Partei dagegen, auch weil die Freundinnen Eva (Andrea Sawatzki) und Gabi (Maria Happel) eine Art Heimrecht geniessen und sich eingeengt fühlen. Da hilft auch wenig, dass Yasemine (Nilam Farooq) im Ganzkörperkondom, also Taucheranzug, fesch sportlich ihre Bahnen zieht und Kassierin Rocky (Lisa Wagner) auf Körperkult und Kasse steht. Doch weder Rocky noch die schwarze Bademeisterin Steffi (Melodie Wakivuamina) können den drohenden Knatsch verhindern. Steffi fährt aus der Haut und schmeisst ihren Job hins.
Ein Bad, auch wenn es sich frei nennt, ohne Badeaufsicht, geht gar nicht. In der Not frisst der Teufel Fliegen, in diesem Fall bietet die schnippische «Meckerliese» Eva einen Mann auf, den «aquatischen Menschen» Nils (Samuel Schneider), der den Bademeister unter lauten Frauen verkörpern muss. Das führt geradewegs zu einem Tohuwabohu. Die Grillanbieterin Kim (Nico Stank), ein verdeckter Mann versteht sich, kann die Wogen auch mit seinen Lammwürstchen (kein Schweinefleisch!) nicht glätten. Die ausgegrenzte pummelige Paula (Julia Jendrossek) ruft zum Girlkott (statt Boykott) auf und legt das Bad lahm…
Mit diesem fulminanten Ensemble – mal oben ohne, mal verschleiert – hat sich Filmautorin Doris Dörrie einen Spass gemacht. Ihr «Freibad» ist deftig und dufte, grantig und genüsslich, lustvoll und lasterhaft. Dabei geht es nicht nur um vorgetäuschte Toleranz und schlummernde Vorurteile, sondern auch um Ausgrenzung, Selbstwert und Selbstbestimmung. Das macht Sinn und Spass. Doris Dörrie spielt mit Klischees und arrangiert sie lust- und liebevoll, bisweilen boshaft. Im freibadenden Mikrokosmos ist keiner vor Fallen, Rassismus und Aggressionen gefeit. Angst vorm Altern und Sexfrust spielen mit. Doris Dörrie ergänzt: «Die Altersangst bezieht sich sehr stark auf den Körper und die Ausgrenzung allein durchs Alter, wofür man gar nichts kann. Vor Ausgrenzung und Einsamkeit fürchtet sich hier nicht nur Eva, die eine emanzipierte Frau ist, Feministin, allein lebt, aber natürlich irgendwo dazu gehören möchte. Das ist für uns alle, und für jede Figur hier im Film die Frage – wo und wie kann ich dazugehören?»
Diese Komödie macht keine Angst, sondern amüsiert trotz weiblicher Keilerei und Klischeeaustausch mit Hintersinn.
Doris Dörrie, 1955 in Hannover geboren, hat sich nicht nur einem Namen als couragierte Filmerin gemacht – von «Männer» (1985) über «Kirschblüten – Hanami» (2008) bis «Kirschblüten & Dämonen» (2019), sondern auch als Autorin. Sie ist Professorin für Angewandte Dramaturgie und Stoffentwicklung in München (seit 1997), Gründungsmitglied der Deutschen Filmakademie, Film- und Opernregisseurin. Will man ihren letzten beiden Büchern glauben, ist sie ein Kultur- und Genussmensch. Davon legen einerseits ihre Inspirationen aus der Küche («Die Welt auf dem Teller», Diogenes 2020) Zeugnis ab, andererseits ihre «autofiktionalen Texte» in ihrem Reisebuch «Die Heldin reist» (Diogenes 2022). Sie erzählt von drei Stationen, die ihr Leben mitgeprägt haben: San Francesco, Tokio und Marrakesch.
Ihre Ausgangsfrage: Kann eine Frau überhaupt Heldin sein, kann sie sich von den Klischees befreien, ist frau überhaupt zu einer «Heldenreise» fähig? «Der Held muss aus dem Haus, um ein Held zu werden. Und die Heldin? Sie ist gar keine Heldin, sondern die Frau des Helden, sie bleibt, wo sie ist, und beschützt das Haus. Sie ist die Hausfrau, die Frau im Haus. Sie muss auch deshalb dableiben, damit jemand zu Hause ist, wenn der siegreiche Held zurückkehrt. Sie darf nicht ausziehen, um das Fürchten zu lernen, aber das muss sie auch gar nicht, denn sie hat ja sowieso permanent Angst… » Doris Dörrie hat notabene keine Angst und erkundet die Welt, zum Beispiel in Kalifornien, vor allem aber in ihrem Lieblingsland Japan. Sie gibt akribisch Einblicke ins japanische Wesen, in Gewohnheiten und Kultur, beispielsweise in die Welt der ama, der Taucherinnen ohne Sauerstoffgeräte. Man lernt Tatsu kennen, eine japanische Freundin aus Kyoto in Hannover und deren Sicht auf Frauen, auf Deutschland, auf Dörries Film «Mitten im Herz» (1983). Am Ende der Reise gesteht Dörrie sich ein: «Ich habe keinen Kampf geführt, nicht dem Drachen ins Auge gesehen, sondern er nur mir. Ich bin keine Heldin, ich bin nur gereist. Ohne Not, ohne dringenden Anlass. Ich bin nicht ausgezogen, um das Fürchten zu lernen…Endlich schlafe ich ein. Im Traum vollbringe ich Heldinnentaten. Ich bin unterwegs, auf einer langen, weiten Reise in eine abenteuerliche Geschichte.» Spannend – so oder so, egal ob auf der Leinwand oder zwischen Buchdeckeln.
Alle Bücher von Doris Dörrie im Diogenes Verlag, Zürich
«Bildhalle: CIG HARVEY – EAT FLOWERS»
I.I. Cig Harvey ist eine in Grossbritannien geborene und in Maine (USA) lebende Künstlerin und Autorin, die mit ihren Farbfotografien die Magie des Alltäglichen einfängt und Geschichten erzählt, die tief in der Natur und familiären Beziehungen verwurzelt sind. Die Bildhalle freut sich, die Repräsentanz dieser renommierten Künstlerin mit der ersten Einzelausstellung in der Schweiz zu feiern.
Westliche Künstlerinnen und Künstler haben sich seit Jahrhunderten leuchtende Farben und Blumen zu eigen gemacht, um diese als verschlüsselte Symbolik auf ihre Leinwände zu bannen. Cig Harvey setzt diese historische malerische Tradition in ihrer Fotografie fort und nutzt das Florale als Symbol für Sterblichkeit und Wiedergeburt.
Doch sie erweitert die Sprache der Blumen weit über die Kunstgeschichte hinaus: Rosen zu züchten sei ein Akt des Mutes, meint sie. Denn: Könnte die blosse Anwesenheit von Schönheit, einfach durch ihre pure Existenz, helfen, uns zu vereinen? Können wir, wenn wir vor Harveys Blumen stehen, durch sie eine – wenn auch nur flüchtige – Verbindung zueinander herstellen, über diese oft so tiefe Kluft hinweg? Für Cig Harvey ist die Fotografie ein Weg, Eigenständigkeit zurückzugewinnen und zwischen den Menschen zu vermitteln.
Vernissage Donnerstag, 1. September 18-20.30 h
Cig Harvey ist anwesend und liest aus ihrem Buch «Blue Violet».
Die Ausstellung dauert bis zum 22. Oktober.
Bildhalle AG
Stauffacherquai 56
8004 Zürich
+41 44 552 09 18
www.bildhalle.ch
«Besucherrekord: 137 000 Besucherinnen und Besucher am 18. ZFF»
I.I. Das Zurich Film Festival bleibt auf starkem Wachstumskurs: Es verzeichnete mit 137’000 Besucherinnen und Besuchern 15 Prozent mehr Eintritte als im Jahr 2019. Das ZFF bleibt damit das grösste Filmfestival der Schweiz. Stars wie Eddie Redmayne, Charlotte Gainsbourg oder Liam Neeson freuten sich über den Kontakt mit dem Publikum wie auch Regisseure wie Luca Guadagnino, Mia Hansen-Løve oder Kirill Serebrennikov. Als Publikumsknüller erwies sich der Swiss-Ploitation-Film MAD HEIDI, bei dem alle Vorstellungen ausverkauft waren.
Insgesamt wurden 146 Filme aus 49 Ländern gezeigt. «Unsere Erwartungen wurden bei weitem übertroffen», erklärt Christian Jungen, Artistic Director des Zurich Film Festival. «Die Stimmung war von Beginn weg sehr positiv und viele internationale Gäste waren beeindruckt davon, wie sehr das Autorenkino in Zürich vom Publik wertgeschätzt wird.»
Zum starken Wachstum beigetragen hat der Kongresssaal mit 1200 Plätzen, der nun erstmals die ganzen elf Festivaltage bespielt wurde. Zudem konnte das ZFF mit 38 so viele Welt- und Europapremieren zeigen wie noch nie in seiner Geschichte. Charlotte Gainsbourg, die ein Goldenes Auge erhielt, und Rebel Wilson stellten ihr Drama THE ALMOND AND THE SEARHORSE als Weltpremiere vor und Publikumsliebling Eddie Redmayne, der ebenfalls ein Goldenes Auge erhielt, präsentierte den Thriller THE GOOD NURSE als Europapremiere.
Weitere Stars am ZFF waren Liam Neeson, Diane Kruger, Matthias Schweighöfer, Iris Berben, Daniel Brühl und Til Schweiger. Zudem stellten zahlreiche renommierten Autorenfilmer wie Luca Guadagnino (BONES AND ALL), Neil Jordan (MARLOWE), Louis Garrel (L’INNOCENT), Bill Pohlad (DREAMIN’ WILD), Cristian Mungiu (R.M.N.), Mia Hansen-Løve (UN BEAU MATIN), Lukas Dhont (CLOSE) oder Kirill Serebrennikov (TSCHAIKOWSKY’S WIFE) ihre Werke persönlich dem Publikum vor.
Die Gewinnerfilme des 18. Zurich Film Festival
Das Goldene Auge des Fokus-Wettbewerbs ging an CASCADEUSES der Westschweizerin Elena Avdija. Sie porträtiert drei Stuntfrauen, die in ihrem Berufsalltag oft Opfer verkörpern und geschlagen werden. Der Dokumentarfilm zeigt ihren unglamourösen Arbeitsalltag und wirft ein Schlaglicht auf die oft von sexistischer Gewalt geprägte Darstellung von Frauen im Film. Eine lobende Erwähnung erhielt auch FOUDRE von Carmen Jaquier.
Das Goldene Auge des Spielfilm-Wettbewerbs ging an LOS REYES DEL MUNDO von Laura Mora Ortega aus Kolumbien. Sie erzählt von fünf Jugendlichen am Rande der Gesellschaft, die kaum eine Chance haben, zu ihrem Recht zu kommen. Der zweifache Oscarpreisträger und Jurypräsident Asghar Farhadi aus dem Iran nutzte die Gelegenheit, um im Namen aller Juroren die Solidarität mit den Frauen in Iran zu bekunden, die sich gegen das Regime ihres Landes auflehnen. Auch Regisseurin Laura Mora Ortega solidarisierte sich in ihrer Dankesrede mit den Frauen in Iran.
Das Goldene Auge des Dokumentarfilm-Wettbewerbs ging an SAM NOW von Reed Harkness. Anhand von eigenen Super-8-Aufnahmen und Homevideos aus dem reichhaltigen Familienarchiv erzählt Filmemacher Reed Harkness in dem Dokumentarfilm mit feinem Humor von den Wunden der Trennung und der Kraft der Versöhnung. Je eine lobende Erwähnung erhielten THE KILLING OF A JOURNALIST von Matt Sarnecki über die Ermordung eines Ringier-Journalisten in der Slowakei und THE NEW GREATNESS CASE von Anna Shishova, der einen einmaligen Einblick in den russischen Widerstand bietet.
Starker Auftritt von Schweizer Filmen
Nebst dem Gastland Spanien hatte auch der Schweizer Film einen starken Auftritt. Gezeigt wurden 18 einheimische Produktionen, darunter die Weltpremiere der Best-Ager-Komödie DIE GOLDENEN JAHRE von Barbara Kulcsar und die Weltpremiere von Laurent Nègres historischem Drama A FORGOTTEN MAN über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Das stimmungsvollste Screening des ganzen Festivals war jedoch die Premiere von MAD HEIDI von Johannes Hartmann und Sandro Klopfstein, der im Kongresshaus von einer tobenden Menge frenetisch gefeiert wurde. Der Film war sofort ausverkauft, so dass das ZFF noch eine Zusatzvorstellung am Samstagabend im Kino Corso anberaumte.
Auch der Zurich Summit, der im Dolder Grand stattfand, war ein grosser Erfolg. Internationale Führungspersönlichkeiten aus der Filmbranche trafen sich, um über die Herausforderungen der Filmwirtschaft zu diskutieren. Unter den Teilnehmern waren auch Tom Bernard und Michael Barker, die Gründer und Co-Präsidenten von Sony Pictures Classics. Die beiden Pioniere wurden anlässlich des 30-Jahr-Jubiläums ihres Studios mit dem Game Changer Award ausgezeichnet.
«Rückblick aufs ZFF 2022: Kompaktes Kino – perfektes Publikum»
Von Rolf Breiner
Die Lichter sind ausgegangen, der grüne Teppich wurde eingerollt die Augenklappen sind fallen: Das 18. Zurich Film Festival (ZFF) verbuchte Rekordzahlen. 137000 Zuschauer und Zuschauerinnen besuchten 146 Filme aus 49 Ländern. Goldene Augen gingen an die Schweizerin Elena Avdija («Cascadeuses»), die Kolumbianerin Laura Mora Ortega («Los reyes del mundo») und den Amerikaner Reed Harkness («Sam Now»).
Das Zürcher Filmfestival fand respektablen Anklang. Die Filmauswahl war breit gefächert von blutrünstigen Streifen à la «Crimes of the Future» und «Bones and All» über gesellschaftliche oder familiäre Dramen wie «Unruly» oder «Lieber Kurt», über Politthriller à la «Boy from Heaven» bis zu dokumentarischen Aufarbeitungen wie bei «Cascadeuses» und «Albert Anker. Malstunden bei Raffael». Da konnte jedermann (natürlich auch -frau) auf die seine/ihre Kosten kommen. Direktor Christian Jungen konnte mit seiner dritten ZFF-Ausgabe höchst zufrieden sein. Es hat sich als Publikumsfestival bewährt und ist schier auf Augenhöhe mit Locarno (Zuschauer 2022: 128 500), was Publikumsresonanz und Staraufgebot angeht. Das Kino lebt, wenn man die grossen Kinderscharen betrachtet, welche in Sihlcity die Kinosäle bevölkerten, beispielsweise beim «Jungen Häuptling» oder bei «Detective Bruno». Das macht Hoffnung, denn noch immer halten unsichtbare Hemmschwellen manche Besucher vom Kinoeintritt ab – abseits eines Events oder Festivals. Unser Rückblick aufs ZFF 2022 pickt einige Perlen, Begegnungen und Besonderheiten heraus.
Ticketing. Freundlichkeit wurde gross geschrieben bei der ZFF-Ausgabe 2022, und das in Zürich. Vom Pressebüro bis zur Ticketkontrolle in den diversen Kinosälen. Da könnten sich manche Leute hinter Ladentheken oder beim Service eine Scheibe abschneiden. Die Ticketorder via Internet war dagegen her mühsam, zumindest für Pressevertreter.
Blutig. Beim Rindersteak bestelle ich gern blutig (rare oder saignant), im Kino kommt’s drauf an bei Vampiren oder Killern. Doch wenn es um Kannibalen heute geht wie im Roadmovie «Bones and All» von Luca Guadagnino, stehen einem doch die Haare zu Berge. Das Pärchen Maren (Taylor Russell) und Lee (Timothée Chalamet) unternimmt einen wilden Trip durch US-Lande (Ohio, Kentucky usw.) und hat sich zum Fressen gern. Guten Appetit! Blutrünstig geht’s auch im SF-Body-Thriller «Crimes of the Future» von David Cronenberg zu. Saul (Viggo Mortensen) «produziert» quasi Organe und stellt die Entnahme öffentlich zur Schau, verständig begleitet und animiert von Partnerin Caprice (Lèa Seydoux). Die Performance einer OP wird zum Sexualakt – eine Vision aus der «dystopischen Zukunft» Der Body-Horrorstreifen geht unter die Haut, denn im Inneren liege die Schönheit, wird behauptet. Wer’s glaubt…
Blutig, aber auf andere elende und grausame Art geht’s im Antikriegsfilm «Im Westen nichts Neues» zu. Hier wird nichts beschönigt, die Helden krepieren elendiglich im Ersten Weltkrieg. Die Hoffnung – stirbt hier zuerst. Der gleichnamige Roman von Erich Maria Remarque wurde vom deutschen Regisseur Edward Berger wiederbelebt. Die Bilder vom mörderischen Schlachtfeld brennen sich ein. Keine Action zur Unterhaltung, kein Heldentod, keine Versöhnung und Heilung. Übrigens eine der markanten Netflix-Produktionen am ZFF.
Familienbande. Die Schweizerin Ursula Meier schuf ein tiefgründiges Familiendrama mit «La ligne». Die 35jährige Margaret (Stéphanie Blanchoud) rastet aus, geht handgreiflich auf ihre Mutter (Valeria Bruni Tedeschi) los, verletzt sie und beendet so abrupt deren Pianistin-Karriere. Der rabiaten Tochter wird juristisch eine Linie gezogen, sie muss sich 100 Meter von ihrer Familie fernhalten. Ein Beziehungskonflikt wird bis zur Schmerzenslinie(-grenze) ausgereizt. Nachhaltig. Familienbande spielen auch im Spielfilm «The Swimmers» von Sally El Hosaini eine prägende Rolle. Lebensmittelpunkt und -sinn der syrischen Schwestern Yusra und Sarah ist das Schwimmen. Yusra ist ehrgeizig und träumt von einer Teilnahme an den Olympischen Spielen. Aber Damaskus ist 2011 kein sicherer Ort. Das Schwimmbad wird bombardiert. Der einzige Ausweg heisst Flucht. So wird «The Swimmers» zum Flüchtlingsdrama, das 2016 in Rio de Janeiro endet. Die Mardini-Schwestern schrieben ein Kapitel Sport- und Flüchtlingsgeschichte. Eindrücklich.
Liebesdramen. Zwei Burschen, 13 Jahre jung, sind schier unzertrennliche Freunde. Sie sind sich nah. So auch der Filmtitel «Close» des Belgiers Lukas Dhont. Doch zwischen Léo und Rémi entstehen Rissen. Gedankenlose Schulkameraden diffamieren sie als Schwulenpaar. Léo geht auf Distanz, das verkraftet sein Freund nicht. Und Léo muss eine schwere Last verkraften, sich seinen Gefühlen und vermeintlichen Mitschuld stellen.
Ein Liebesdrama ganz anderer Art ist «Dalíland» von Mary Harron. Der junge Galerist James (Ezra Miller) wird Assistent beim exzentrischen Künstler Salvatore Dalí (Ben Kingsley). Er wird Zeuge und Beteiligter des bizarren Schaffens des Malers und dessen süchtigen Beziehung zur Gattin Gala (Barbara Sukowa). Ein dramatisches Endzeit-Porträt des genialen Künstlers.
Drama oder Satire? In Sönke Wortmanns Familienclinch «Der Nachname» artet ein Treffen auf Lanzerote aus. Nach «Der Vorname» serviert Wortmann eine Fortsetzung mit sarkastischem Humor, entlarvenden Emotionen und herrlichen Dialogen – dargeboten von einem bewährten Ensemble mit Christoph Maria Herbst, Caroline Peters, Iris Berben und mehr.
Historisch. Schweiz 1945. Das Nazi-Reich liegt in Trümmern. Der Schweizer Boschafter kehrt aus Berlin zurück. Hans Frölicher hatte sich mit den braunen Machthabern arrangiert. Unbefleckt? Dramatiker Thomas Hürlimann hatte dies in seinem Theaterstück «Der Gesandte» angezweifelt. Diese Problematik greift Laurent Nègre in seinem Spielfilm «A Forgotten Man» auf. Hier heisst der Diplomat Heinrich Zwygart, überzeugend verkörpert durch Michael Neuenschwander. Und der wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert, er soll tatenlos zugesehen haben, wie der gescheiterte Schweizer Attentäter Maurice Bavaud (Victor Poltier) gefasst und gehenkt wurde. Der heimgekehrte Botschafter wird diesen Geist nicht los. Der Film nimmt sich dies bezügliche dramatische Freiheiten heraus, auch was einen Studenten angeht, der ihn beschuldigt. Bestechend gleichwohl, das kammerspielartige Drama verdichtet in der Figur Zwygarts die politische Stimmung in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg, zugespitzt auch auf die Frage: Ist der Diplomat nun Täter oder Opfer, ist die Schweiz mitschuldig oder nur mitgefangen? Am Ende dieses schwarzweissen Dramas um den Diplomaten im braunen Deutschland taucht eine Schweizer Fahne auf – schmutzig rot eingefärbt.
Winnetou gebrandmarkt. Ein Gespenst geht um, das der «kulturellen Aneignung» im Zusammenhang mit rassistischen Vorwürfen. Beizer sagten wegen «Rastafarilocken» Konzerte ab, weil sich Konzertbesucher unwohl fühlten oder fühlen könnten. Dürfen Schauspieler und Sänger noch Chinakostüme und -zöpfe tragen, wenn sie in Bregenz die Oper «Madame Butterfly» aufführen? Eine Kritikerin hatte sich darüber mokiert. Anmassung? Und nun hat es auch den Phantasten Karl May erwischt. In Deutschland bremste der Ravensburger Verlag das Buch zum Film «Der junge Häuptling Winnetou» aus.
ZFF-Direktor Christian Jungen zeigte sich davon unbeeindruckt und liess den Film im Rahmen des «ZFF für Kinder» aufführen. Warum auch nicht! Bei der Aufführung, die ich im Abaton besuchte, waren die jungen Besucher zufrieden und applaudierten. Der junge Winnetou bewährte sich und schloss nach anfänglicher Skepsis Freundschaft mit einem weissen Jungen. Gemeinsam legten sie einem goldgierigen Banditen das Handwerk. Man sah und staunte: Keine geringerer als der internationale Schweizer Filmstar Anatole Taubman machte böse Miene als Banditen-Boss und suhlte sich als Kerl, der Indianer austrickste…? Aber die junge Freundschaft und edle Absichten siegten gleichwohl. Ein harmloser gut gemeinter und kindergerechter Abenteuerfilm, in dem es wohl Prügeleien und Fesselungen gab, aber keine Tote und Verletzte! Im Gegensatz zu den jungen Zuschauern war der Moderator im Kino freilich nicht auf der Höhe. Er versuchte den jungen Besuchern zu erklären, dass Karl May die Länder, die er beschrieben hat, also auch den Wilden Westen, nicht vor dem Verfassen seiner Erzählungen besucht hat. Korrekt. Dieser bereiste erst 1899 den Orient und 1908 Amerika. Der berühmte Autor war ein Phantast, er hatte seine Reiseerzählungen schlicht erfunden. Karl May wurde 1842 in Ernstthal geboren, und nicht 1942 wie der Moderator zweimal verkündigte. May starb 1912 in Radebeul. Nach dem Ende des ZFF wurde bekannt, dass der «Junge Häuptling Winnetou» (Ascot-Elite) nicht in Schweizer Kinos gezeigt wird. Er wurde wohl auch Opfer kultureller Bevormundung und rassistischer Anmassung!
Missverstanden. Wenn man nicht im Rampenlicht steht als Preisträger oder Star auf dem grünen Teppich in Zürich, bleiben oft nur der Schatten oder Licht des eigenen Films. Filmschaffende waren froh, mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen, auch weil es kaum anderen Foren dafür am ZFF gab. so waren die Polin Anna Kazejak («Fucking Bornholm») und der Welsche Laurent Négre (« A Forgotten Man») dankbar, dass das Publikum Kontakt mit den Filmern suchte – nach der Vorstellung.
Das klappte auf verschiedene Weise. Anna Kazejak traf auf ein polnisches Publikum, das manche Szenen und Dialoge besser verstanden hat als der Rest, wenn man den Lachern glauben will. Dort kamen Anspielungen und Wortwitz im Polnischen rüber. Das zeigt, dass Untertitelung nicht alles ist, hier versagte sie. Mir war bei dieser Camper-Familiengeschichte jedenfalls nicht zum Lachen zumute. Die Ankündigung der Regisseurin, «Fucking Bornholm» mit «Fucking Monte Rosa» oder so ähnlich also Camping im Winter fortzusetzen, war ebenso ein schlechter Witz, wie den Film als «komödiantisches Drama» im Programmheft zu beschreiben.
Auch Regisseur Laurent Nègre war sichtlich froh, dass er mit dem Publikum über «A Forgotten Man» ins Gespräch kommen konnte. Er hat ein Stück Schweizer Geschichte in ein Kammerspiel «eingepackt» – dicht und intim. Der kompromisslose Spielfilm, so meinte der Regisseur Négre im Gespräch, hätte noch keinen Verleih gefunden. Ist das Spiegelbild auf eine ambivalente Schweiz zwischen Geschäft und Gewissen zu entlarvend? Schaut man lieber einen Trash-Streifen wie «Mad Heidi»? Diese durchgeknallte Satire («Swissploitation») aufs Alpen- Heidi lockte jedenfalls reichlich Publikum an. Kino – quo vadis?
Preisträger. Die Goldenen Augen, dotiert mit je 25 000 Franken, gehen an:
Im Wettbewerb Fokus an «Cascadeurs» von Elena Avdija, im Wettbewerb Spielfilm an «Los reyes del mundo» von Laura Mora Ortega und im Wettbewerb Dokumentarfilm an «Sam Now» von Reed Harkness.
Kritikerpreis an «Foudre» von Carmen Jaquier
ZFF für Kinder Juryspreis an «Lucy ist jetzt Gangster» von Till Endemann; Publikumspreis Kinderfilm für «My Robot Brother» von Fredrik Meldal Nørgaard
Publikumspreis an «Becoming Giulia» von Laura Kaehr
Beste Internationale Filmmusik: Robert IJserinkhuijsen
Das 19. Zurich Filmfestival findet vom 28. September bis 8. Oktober 2023 statt.
«Grosse Starparade am 18. ZurichFilmFestival (ZFF): Von Sir Ben Kingsley, Diane Kruger bis Charlotte Gainsbourg und Eddy Redmayne»
I.I. Selten war der Glamfaktor am ZFF höher als in diesem Jahr, Stars wie Sir Ben Kingsley, Charlotte Gainsbourg, Eddie Redmayne, Diane Kruger, Liam Neeson, Til Schweiger, Rebel Wilson, Matthias Schweighöfer oder Machine Gun Kelly werden am ZFF erwartet. Das Zurich Film Festival ist das zweitgrösste Festival im deutschsprachigen Raum. Das ZFF verzeichnete in der letztjährigen Ausgabe 102‘000 Besucherinnen und Besucher und zog tausende akkreditierte Film- und Medienschaffende aus aller Welt an.
Goldenes Auge
Sir Ben Kingsley, Charlotte Gainsbourg und Eddie Redmayne erhalten ein Goldenes Auge für ihre Top-Karrieren. Auch dem Schweizer Film wird der grüne Teppich ausgerollt. Das Programm umfasst 146 Filme aus 49 Ländern, insgesamt läuft die Rekordzahl von 38 Filmen als Welt- oder Europapremieren..
Christian Jungen, Artistic Director des Zurich Film Festival: «Das ZFF erfreut sich international eines hervorragenden Rufes und deshalb ist es möglich, Filme wie THE ALMOND AND THE SEAHORSE mit Charlotte Gainsbourg und Rebel Wilson, DALÍLAND mit Sir Ben Kingsley oder THE GOOD NURSE mit Eddie Redmayne als Welt- oder Europremieren vorstellen zu können.»
Gala-Premieren
In der Sektion «Gala Premieren» zeigt das ZFF die meist erwarteten Autorenfilme der kommenden Saison. Ein Highlight ist der Film-Noir-Thriller MARLOWE von Oscarpreisträger Neil Jordan (The Crying Game), den der Ire zusammen mit Liam Neeson und Diane Kruger dem Publikum vorstellen wird. Darin verkörpert Diane Kruger eine Femme fatale, die im Hollywood der 1930er Jahre einen Privatdetektiv (Liam Neeson) anheuert, um ihren Ex-Mann zu beschatten.
Zu den weiteren Highlights in der Sektion zählt das Roadmovie BONES AND ALL von Luca Guadagnino, der vor fünf Jahren schon «Call Me By Your Name» am ZFF vorstellte und nun den A Tribute to… Award, den höchsten Preis des ZFF für einen Regisseur entgegennehmen wird.
Ebenfalls zum zweiten Mal kommt Eddie Redmayne ans ZFF, der 2007 im Eröffnungsfilm «Savage Grace» brillierte. Nun stellt der Oscarpreisträger seinen neuen Film THE GOOD NURSE von Tobias Lindholm vor. Darin verkörpert er einen Krankenpfleger, der für seine Patienten zur tödlichen Gefahr wird. Der Brite erhält für seine Schauspielleistung ein Goldenes Auge. Ein solches erhält auch die französisch-britische Schauspielerin Charlotte Gainsbourg.
Til Schweiger wiederum wird seine neuste Regiearbeit LIEBER KURT vorstellen, eine Beststeller-Adaption, in der er die Hauptrolle eines Vaters spielt, der von der Liebe über den Verlust seines Sohnes hinweggetragen wird. Weitere Prestigeproduktionen aus Deutschland sind DER NACHNAME von Sönke Wortmann, der in Anwesenheit von Iris Berben und Christoph Maria Herbst Weltpremiere feiert, sowie IM WESTEN NICHTS NEUES von Edward Berger. Der Antikriegsfilm nach dem Klassiker von Erich Maria Remarque ist der deutsche Oscar-Beitrag und feiert in Zürich Europapremiere.
Im Weitern stellen Autorenfilmer wie Kiril Serebrennikow (TCHAIKOWSKY’S WIFE), Bill Pohlad (DREAMIN‘ WILD), Gina Prince-Bythewood (THE WOMAN KING), Marie Kreutzer (CORSAGE), Mia Hansen-Løve (UN BEAU MATIN), Lukas Dhont (CLOSE), Rebecca Zlotowski (LES ENFANTS DES AUTRES), Cristian Mungiu (R.M.N.), Oliver Hermanus (LIVING) und Louis Garrel (L’INNOCENT) ihre neuen Werke persönlich dem Publikum vor.
Schweizer Filme
Eine zentrale Rolle spielt im Programm auch der Schweizer Film. Das ZFF zeigt über alle Sektionen 18 einheimische Produktionen, darunter die Weltpremiere von A FORGOTTEN MAN des Genfers Laurent Nègre. Von Thomas Hürlimann‘s Bühnenstück «Der Gesandte» und neuen Quellen inspiriert, erzählt er von der zwielichtigen Rolle des Schweizer Botschafters in Hitlers Reich.
Ebenfalls als Weltpremiere wird die Best-Ager-Komödie DIE GOLDENEN JAHRE von Barbara Kulcscar mit Esther Gemsch und Stefan Kurt in den Hauptrollen gezeigt. «Der Schweizer Film befindet sich im Aufwind», erklärt Christian Jungen. «Wir wollen dazu beitragen, dass er auch international stark wahrgenommen wird.»
Wettbewerb
Im Wettbewerb konkurrieren in drei Kategorien je 14 innovative Filme um den Hauptreis, das mit 25’000 Franken dotierte Goldene Auge. Im «Fokus Wettbewerb» laufen Spiel- und Dokumentarfilme aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, darunter zehn Erstlingswerke und neun Filme von Regisseurinnen. «Ein Thema, das in vielen Filmen zum Tragen kommt, ist die Suche nach der eigenen Identität», erklärt Christian Jungen. «Im österreichischen Drama EISMAYER von David Wagner muss ein harter Instruktor im Militär lernen, zu seiner Homosexualität zu stehen, der Dokumentarfilm BECOMING GIULIA von Laura Kaehr wiederum dreht sich um eine Balletttänzerin, die nach dem Mutterschaftsurlaub wieder Fuss fassen möchte im Opernhaus Zürich und in VAMOS A LA PLAYA von Bettina Blümner sind junge, idealistische Touristen aus Deutschland in ihrem Kuba-Urlaub plötzlich mit der Frage konfrontiert, ob sie eigentlich der Prostitution Vorschub leisten.»
Oft stehen Protagonisten im Zentrum, die zu ihrer Identität stehen und dafür die Konsequenzen tragen. So etwa der Besitzer einer Kuchenfabrik in der dänischen Komödie THE CAKE DYNASTY, der zum Islam konvertiert oder die ukrainischen Frauen, die sich VALERIA IS GETTING MARRIED via Partnerportal als Ehefrauen für jüdische Männer in Israel vermitteln lassen.
Im «Dokumentarfilm Wettbewerb» sind 8 von 14 Filmen Erstlingswerke. Viele drehen sich um Menschen, die sich gegen Missstände auflehnen. THE KILLING OF A JOURNALIST rekonstruiert minutiöse und spannend wie ein Thriller die Hintergründe, die 2018 zur Ermordung eines Ringier-Journalisten in der Slowakei geführt haben. A TASTE OF WHALE wiederum beleuchtet, wie Tierschutz-Aktivisten gegen den Walfang auf den Färöer-Inseln kämpfen, der dort eine Jahrhunderte alte Tradition ist.
Die Preise werden am 1. Oktober im Rahmen der Award Night im Opernhaus Zürich verliehen.
#MyReligion
Die Sektion Hashtag ist jeweils einem Thema gewidmet, das aktuell auf Social Media Trends setzt. Unter dem Hashtag #MyReligion zeigt das ZFF acht Filme. «Religionen feiern in vielen Ländern, etwa in den USA oder in Russland, ein Comeback, was zu Problemen beim Zusammenleben in multikulturellen Gesellschaften führen kann», erklärt ZFF-Direktor Christian Jungen. «Wir zeigen Filme wie BOY FROM HEAVEN oder HONK FOR JESUS. SAVE YOUR SOUL, die den Einfluss klassischer Religionen auf die Gesellschaft beleuchten. Aber auch Werke wie TIKTOK BOOM über moderne Ersatz-Religionen wie eben Tiktotk, das von vielen Nutzern mit missionarischem Eifer praktiziert wird.»
Neue Welt Sicht – Gastland Spanien
Die Sektion «Neue Welt Sicht» ist diesem Jahr dem Gastland Spanien gewidmet. Gezeigt werden 12 Werke des aufregenden, jungen spanischen Kinos, darunter ALCARRAS von Carla Simón über in ihrer Existenz bedrohte Pfirsichbauern in Katalonien oder EN LOS MÁRGENES, das Regiedebüt des spanischen Schauspielstars Juan Diego Botto. In seinem Sozialdrama brilliert Penélope Cruz als Kassiererin, die ihre Wohnung zu verlieren droht.
Das 18. Zurich Film Festival findet vom 22. September bis 2. Oktober statt. Der Ticketverkauf startet am Montag, den 12. September, ab 12 Uhr auf der ZFF Website und beim Tickethäuschen am Paradeplatz in Zürich.
Filmtipps
Corsage
rbr. Kindskopf und Kaiserin. Sie ist wieder in aller Kritikermunde: Sisi – Elisabeth Amalie Eugenie von Wittelsbach, ursprünglich Herzogin von Bayern, dann Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn (1837- 1898). TV- und Netflix-Produktionen haben sie neu ins Licht gestellt und ins Gespräch gebracht – 70 Jahre nach der romantisch verklärten Trilogie um «Sissi». Autorin und Filmerin Marie Kreutzer beschreibt die späten Jahre der Kaiserin. Elisabeth (Vicky Krieps) feiert ihren 40. Geburtstag. Ihre Miene sagt alles über ihre Stimmung – zerknirscht, missmutig und leidend lässt sie die Huldigungsprozedur über sich ergehen. Diese Sisi (das ist die richtige Schreibweise) ihrer Rolle als hochgestylte Präsentantin und Modeikone überdrüssig. Strengen Diäten (Gewichtskontrollen) unterworfen und in einem Korsett gefesselt, unternimmt sie verschiedene Ausbruchsversuche. Sie raucht wie ein Schlot, auch beim Festmahl, sucht kleine Freiheiten beim Ausreiten, beim erotischen Techtelmechtel mit dem Reitlehrer und möchte am liebsten ihrem Kaiser ins Handwerk fuschen. Doch Kaiser Franz Joseph (Florian Teichtmeister) lässt sie nicht und macht ihr klar, dass sie nur zu Repräsentationszwecken dient. Ihre Pflicht, einen Thronfolger zu gebären, hat sie bereits erfüllt. Kronprinz Rudolf (Aaron Friesz) ist freilich nicht besonders kaiserlich graten. Sisis Versuch, ihren Mann ins Bett zu locken, endet ernüchternd. Und so beauftragt sie eine Zofe, ihrem Mann Gutes zu tun.
Man sieht, diese Elisabeth ist anders, nicht nur aufmüpfig und provokativ, sondern auch verzweifelt und lebensmüde. Ein Sturz aus dem Fenster verläuft freilich glimpflich. Sie ist es mit den Jahren leid geworden, schön und perfekt zu sein und als Mutter und Monarchin zu funktionieren. Wie ein Befreiungsakt wirkt da die Szene, als sie sich ihrer Haarpracht radikal entledigt und wie lästige Wolle entsorgt. Diese Kaiserin fällt aus der Zeit, flucht und zeigt auch mal den Stinkefinger. Sie ist menschenfreundlich, besucht Kriegsversehrte und Irre, kann aber auch hartherzig reagieren, als sie ihre Lieblingszofe Marie (Katharina Lorenz) an sich bindet und sie zu einem Rollentausch zwingt. Am Ende sucht sie einen radikalen Weg der Befreiung, nicht nur aus der Corsage.
Dass Regisseurin Marie Kreutzer mit dem Mythos «Sissi» radikal aufräumen möchte und ihre Figur zur emanzipatorischen Heldin macht, die rebelliert, kann man akzeptieren. «Punk statt Prunk» schreibt das Kinomagazin «Cinema». Andere Medien loben den Spielfilm in höchsten Tönen, doch darf man sich nicht täuschen lassen. «Corsage» nimmt zwar historische Anleihen, ist aber kein Biopic, sondern ein Psychodrama über eine unglückliche, narzisstische Frau, die sich einige Freiheiten nimmt. Die Tragödie ist mit modernen Songs garniert, etwa mit «As Tears Go By» (Rolling Stones) oder «Help Me Make It Through the Night» (Kris Kristofferson). Fraglos bietet die luxemburgische Schauspielerin Vicky Krieps eine überzeugende Leistung, am Filmfestival Cannes ausgezeichnet. Man sieht dem inneren und äusseren Kampf, dem Akt der Befreiung der Monarchin bewundernd zu, doch bewegt dies Sisi-Schicksal auch? Sisi lebt weiter, und Österreich hat «Corsage» für die Oscar-Nominationen 2023. angemeldet.
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Tausend Zeilen
I.I. Einer der grössten Medienskandale ist die Story der gefälschten Interviews des mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Journalisten Claas Relotius, der jahrelang für das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» und namhafte Titel, auch Schweizer Medien, schrieb. Den Journalisten auf den Zahn zu fühlen, kommt nicht überall gut an, entsprechend war das Kritikerecho auf den Film mässig. Den Regisseur Michael Herbig kennt man sonst eben eher aus Komödien oder Winnetou-Filmen, einer anderen Charge. Dennoch hat der Film einen beachtlichen, auch satirischen Unterhaltungswert, wenns den Topmanagern beim Magazin «Die Chronik» (dem „Spiegel“ nachempfunden) hauptsächlich um Storytelling wie bei den Public Relations geht und die reine Faktenlage sprich Information zu wenig hergibt. Längst ist der Boulevard auch bei den sogenannt seriösen Medien angekommen, das verkauft sich einfach besser. Diese Kritik des Films ist durchaus realistisch. Das Drehbuch basiert auf dem Buch «Tausend Zeilen Lüge» (2019) des Spiegel-Journalisten Juan Moreno, der 2018 den Fall Relotius aufdeckte. Warum hat man nicht den Originaltitel für den Film verwendet, das hätte der Aufklärung nicht geschadet. Im Film heisst der Journalist Lars Bogenius (Jonas Nay), der zusammen mit seinem Kollegen, dem freien Journalisten Juan Moreno (Elyas M’Barek) in Mexico Flüchtlinge begleiten und interviewen soll. Bei der gemeinsamen Reportage bemerkt Moreno später Unwahrheiten in der Beschreibung seines Kollegen Bogenius. Als er seine Befürchtungen der Redaktion mitteilt, wird seine Kritik als Neid abgetan. Er wird seinen Job los und beginnt selbst auf eigene Kosten Recherchen durchzuführen. Es dauert eine Weile, bis er handfeste Beweise vorlegen kann und in der Chefetage bricht das Chaos aus. Das ist durchaus spannend und auch amüsant inszeniert. Der Film wurde 2019 in München, Berlin, Hamburg und Spanien gedreht. Dem Phänomen Claas Relotius ist er nicht auf die Spur gekommen, wie andere Medien ebenfalls nicht. Der Autor erklärte seine Handlungsweise mit psychischen Problemen. Dass er schreiben kann, hätte er auch als Schriftsteller unter Beweis stellen können, hier wohl aber ohne die sofortige Aufmerksamkeit des Publikums. Die Kritik an der Medienbrache ist eine berechtigte und insofern bietet der Film eine aktuelle Perspektive.
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Don’t worry Darling
I.I. Science-Fiction im Hollywood der 50er. Regisseurin Olivia Wilde machte Schlagzeilen, als sie den vorgesehenen Schauspieler Shia LaBeouf, der seinerseits mit Missbrauchsanzeigen Schlagzeilen machte, durch ihren Lebenspartner, den Sänger Harry Styles ersetzte, was auch Hauptdarstellerin Florence Pugh nicht gefiel. Wilde versetzte das 50-er-Jahre Villenparadies Victory mitten in die Wüste von Arizona, mit Bungalows, Palmen und grossen Schlitten. Die Idylle bekommt Risse, als eine Nachbarin der Hausfrau Alice (Pugh) sich vom Dach ihres Hauses stürzt und der Vorfall vertuscht wird. Denn es ist verboten, Victory zu verlassen. Und Frauen sollten auch nicht arbeiten, sondern Kinder kriegen und ihren Mann verwöhnen. Der charismatische Anführer der sektenartigen Community (Chris Pine) will ihren Ehemann Jack (Styles) bei einem rauschenden Fest befördern, an dem Alice von Halluzinationen heimgesucht wird. Sie will ihrem Verdacht nachgehen und herausfinden, was hinter der Fassade steckt. Mit Popsongs der 50-er und schönem Interieur in Bonbonfarben wird die Idylle inszeniert, hinter der ein unheimliches Geheimnis steckt. Alice verlässt das Haus und macht sich auf den Weg, aus der Community hinaus, verfolgt von mehreren Polizeiautos, die sich mit ihr ein Racing liefern. Dass es sich um eine Matrix-ähnliche Situation handelt, wird schnell klar, weniger die Handlung an sich. Harry Styles und vor allem Florence Pugh mit ihren Panikattacken liefern eine überzeugende Darstellung.
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Triangle of Sadness
I.I. Persiflage auf die Reichen und Schönen. Der Film wird seinem Titel gerecht, die drei Teile des zweieinhalbstündigen Films schildern ein tristes Klassenbild der Superreichen und der Modelszene. In Cannes heimste der schwedische Regisseur Ruben Östland dafür eine Goldene Palme ein. Zur Satire kann sich der Film nicht recht entscheiden, zur Gesellschaftskritik scheinen die Ansätze zu banal. Auf einer Luxuskreuzfahrt durch die Karibik übertreffen sich ein Dutzend Multimillionäre mit putzigen Einfällen. Ein Helikopter wirft in rasantem Sturzflug einen Aktenkoffer auf die Luxusyacht, der von der Crew aus dem Wasser gefischt wird. Darin befinden sich keine Kernkraftgeheimnisse, sondern ein paar Gläser Nutella, die sich ein Grosskapitalist kommen lässt. Beim Dinner am Russentisch verrät ein schwerreicher Schwergewichtiger seine beruflichen Orientierung: «I shall shit!». Den pikierten britischen Models Carl und Yaya, die auf der exklusiven Kreuzfahrt als Influencer mit vielen Followern gratis mitreisen dürfen, erklärt der Russe auf Nachfrage «Dünger», er habe mit Dünger ein Vermögen gemacht. Um Geld dreht es sich natürlich immer, in allen Kreisen. Wer zahlt? Yaya (Charlbi Dean) ignoriert den Kellner, der die Rechnung bringt und Carl (Harry Dickinson) regt sich auf, dass er immer zahlen soll, obwohl sie als Model viel mehr verdient als er. Kleiner Wink mit dem Zaunpfahl zum Auftakt des Films Richtung umgekehrte Gendergerechtigkeit. Eine gelangweilte Millionärin findet, dass auch das Schiffspersonal mal Spass haben und die ganze Crew per Wasserrutsche ins Meer befördert werden soll, mitsamt des Kochs in Badehose, während das Fischmenü inzwischen verdirbt und der Kapitän (Woody Harrelson) nicht aus seiner Kajüte kommt, aus der herumrollende Flaschen scheppern. Das Wetter schlägt orkanmässig um und das Captains-Dinner gerät zum Spektakel, nicht nur Gläser, Flaschen und Menüteller fliegen durch die Luft, auch die Bonzen geben das teuer Eingekaufte wieder, Fontänen von Unverdautem schwirrt durch die Luft, Toiletten schwappen über und der Shit ergiesst sich über alles. Wer seinen Spass an Unappetitlichem hat, ist hier gut bedient. Damit wollte es der Regisseur aber nicht bewenden lassen, Schiffspiraten müssen her und nach dem Unwetter finden sich die Passagiere gestrandet auf einer Karibikinsel, wo sie ohne die Hilfe einer Putzfrau (Dolly De Leon) aufgeschmissen wären, die Fische fangen und ein Feuer machen kann. Sie übernimmt die Führung und treibt die Reichen vor sich her «Triangle of Sadness» am ZurichFilmFestival, Freitag, 23.9., 18 Uhr; Sonntag 25.9., 20.45 Uhr; Samstag, 1.10., 18 Uhr.
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Ticket to Paradise
I.I. Komödie auf Bali. Mach dir ein paar schöne Stunden, geh ins Kino, so lautete ein früherer Slogan. Scheint etwas aus der Zeit gefallen, schliesslich machen heute die Streamingdienste den Kinos arge Konkurrenz. Deshalb lässt man sich eine beschwingte Komödie auf der Grossleinwand doch gerne vorführen, die uns ein paar Stunden, genauer gesagt 104 Minuten, verführen will. Und gelingt das dem «Ticket to Paradise», wenn man das Kinoticket löst? Die Story ist schnell erzählt, ein geschiedenes Ehepaar, sich in alter Streitlust eng verbunden, will mit aller Kraft und Tücke die Hochzeit ihrer Tochter (Kaitlyn Dever) mit einem Balinesen verhindern, in den diese sich auf Bali während ihren Ferien nach ihrem Harvard-Abschluss als Anwältin verliebt hat. So möglich oder unmöglich das ist, das ist der Ausgangspunkt. Der Clou ist jedoch nicht die Story, sondern die berühmtesten Stars der Kinoglanzzeit: Julia Roberts und George Clooney. Roberts war seit einiger Zeit nicht mehr auf der Leinwand zu sehen und Clooney machte mehr Schlagzeilen mit seiner Familie und seinem Besitz am Comer See. Beide sind attraktiv gealtert und geben das streitbare Paar, das sich fetzige Dialoge und Schuldvorwürfe um die Ohren schlägt und das alles in der zauberhaften balinesischen Landschaft, wo man über Sitten und Gebräuche anders denkt. Das ist hübsch anzusehen und man kann sich zufrieden zurücklehnen und die tropische Exaltiertheit der Protagonisten geniessen. Ein feel-good-Movie in der Regie von Ol Parker.
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Three Thousand Years of Longing
rbr. Von Mythen, Märchen und Moderne. Einst schlug er sich in drei düsteren, brutalen Endzeitschlachten mit «Mad Max» herum. Jetzt zeigt der Australier George Miller ein ganz anderes Gesicht. Der neuste Filmtitel ist kompliziert und der Film «Three Thousand Years of Longing» auch ein bisschen. Dabei bewegt sich Miller auf verschiedenen Erzählebenen – von antiken Mythen und Märchen zur Moderne. Die Erzählforscherin Alithea Binnie (Tilda Swinton) – so etwas gibt es tatsächlich im Bereich der Ethnologie– glaubt nicht an Geister und andere überirdische Wesen, bis sie einem begegnen. Sie kommt in Istanbul in den Besitz einer antiken Flasche, die sie fälschlicherweise öffnet, und schon wird sie mit dem Dschinn (Idris Elba) konfrontiert…
Ein Dschinn ist gemäss Wikepedia in arabischer Vorstellung ein übersinnliches Wesen aus «rauchlosem Feuer» entstanden. Und Alithea, Wissenschaftlerin aus London, muss ihr Wissen quasi über Bord werfen. Denn ihr Dschinn ist ein lebendiges Wesen, zumindest für die Besitzerin. Der Geist möchte sich befreien und erzählt ihr drei Geschichten aus seinem «Leben». Eine handelt von der Königin von Saba, eine zweite von einer Konkubine am Palast von Suleiman dem Prächtigen und eine dritte von Zefir, der jungen Frau eines türkischen Kaufmanns Mitte des 19. Jahrhunderts. Alle enden damit, dass der Dschinn in die Flasche zurückkehren muss und gefangen bleibt. Wenn er nun aber der Britin Alithea drei Herzenswünsche erfüllen darf, könnte er sich endlich aus seiner 3000 Jahren alten Flaschengefangenschaft befreien. Alithea zweifelt, will davon anfangs nichts wissen, aber nachdem sie vom Schicksal des Dschinn erfahren hat, spricht sie einen Wunsch aus: Sie möchte, dass sich die beiden Wesen verlieben. Doch damit ist ihre Reise noch nicht zuende…
Die zauberhafte Liebesgeschichte basiert auf der Kurzgeschichte «Der Dschinn im Auge der Nachtigall» (1994) der Britin A.S. (Antonia Susan) Byatt. George Miller hat sie in eine abenteuerliche Zeitreise verwandelt und ein märchenhaftes Fantasy-Panoptikum geschaffen. Das mag manchen Kinobesuchern zu kitschig, romantisch und abenteuerlich vorkommen, und doch kann man sich auch von der exotischen Leidenschaft zweier Wesen, von den flirrenden märchenhaften Umständen und Kämpfen gefangen nehmen lassen. Der Zauber stellt sich ein, wenn man sich dem 1001-Nacht-Fluidum öffnet. Diese 3000 Jahre-Reise ist auch eine Hymne aufs alte Kino und beschreibt nichts anderes als die Sehnsucht nach Zweisamkeit.
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Where the Crawdads Sing
rbr. Aus dem Sumpf gezogen. Bei einem weltweiten Bestseller lässt eine Verfilmung nicht lange auf sich warten. Der amerikanische Roman «Where the Crawdads Sing» (2019) von Delia Owens verkaufte sich über 15millonenfach. Hollywood hat zugegriffen. Hollywoodstar Reese Witherspoon und Lauren Levy Neustadter haben produziert, Olivia Newman hat Regie geführt. Daisy Edgar-Jones, in Locarno ausgezeichnet, verkörpert die «Sumpffrau» oder eben das «Marsch-Mädchen Kya. In den Sumpfwäldern North Carolinas von Eltern verlassen und auf sich allein gestellt, wächst Kya wild und naturverbunden auf. Sie beobachtet Tierwelt und Fauna akribisch, zeichnet, schreibt. Das hat der nette Naturbursche aus dem Dorf, Tate (Taylor John Smith), ihr beigebracht, in den sie sich prompt verliebt. Doch Tate hat College-Ambitionen, verschwindet und meldet sich jahrelang nicht, obwohl er es verspochen hatte. Die junge Frau, naiv und leichtgläubig, geht eine Liebschaft mit dem lokalen Macho (Harris Dickinson) ein, der sie ausnutzt und als reines Objekt des Vergnügens betrachtet.
Das alles erfahren wir in Rückblenden, die in einen Prozess eingebettet sind. Besagter Macho aus reichem Haus wird in den Sümpfen tot aufgefunden und Aussenseiterin Kya des Mordes verdächtigt. Die «Wilde» und der erfolgreiche Quarterback – die Meinungen sind gemacht. Pflichtverteidiger Milton (David Strathairn) ist einer der wenigen, der an Kyas Unschuld glaubt.
Das Ende kennen die Leser, und es sei gleichwohl nicht verraten. Die Romanverfilmung ist zumindest bis zu zwei Drittel stimmig und nah. Hier der Überlebenskampf eines Mädchens, einer Frau, die gegen die Umwelt, sprich Vorurteile, kämpft, dort die juristische Aufarbeitung eines Lebens ausserhalb der Zivilisation. Am Ende spult der Film etwas lieblos die Lösung eines Geheimnisses wie eine Randnotiz ab. Daisy Edgar-Jones überzeugt als schöne Amazone in dieser Sumpfromanze mit juristischem Nachspiel. Augenfällig arrangiert mit einem Hauch von Kitsch. Leser werden sicher nicht enttäuscht.
Mit einem juristischen Nachspiel haben es freilich auch Autorin Delia Owens (73), ihr Ex-Mann Mark und Sohn Christopher in Sambia zu tun. Der Mord an einem Wilderer 1995 im Nationalpark blieb unaufgeklärt. Die Owens lebten dort als Naturschützer, engagierten sich gegen Wilderer und sollen in den Fall verstrickt gewesen sein. Eine vage Vermutung. Delia Owens bestreitet Zusammenhänge. Und doch gibt es Parallelen zwischen der kämpferischen Autorin und ihrer Heldin Kya. Birgt der Roman noch andere Geheimnisse? War Delia Owens Zeugin eines tödlichen Vorfalls in Afrika?
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Good Luck to You, Leo Grande
rbr. Zu sich selbst stehen. Seit zwei Jahren verwitwet, aber jetzt erst recht neugierig aufs Leben, besonders auf Sex. Die 55jährige Nancy Stokes (Emma Thompson) hat eine angenehme, aber eher freudlose Ehe hinter sich. Orgasmus kennt sie nur vom Hörensagen. So fasst sich die Witwe ein Herz und bestellt sich einen Callboy. Leo Grande (Daryl McCormack) ist jung, charmant und vor allem verständig. Er hat nicht nur finanzielle Interessen an den Dates und zeigt mehr als erotisches Knowhow. Doch Nancy ziert sich, scheut körperliche Nähe, kann nicht aus sich heraus, dabei macht es ihr der Sexarbeiter leicht. In Gesprächen kommen sich Auftraggeberin und ihr «Versteher» näher. Nancy erzählt von ihrem unbefriedigenden Verhältnis zu Sohn und Tochter. Er weiht sie in sein gespanntes Verhältnis zum Bruder und Mutter ein. Beiden macht er weiss, dass er auf einer Bohrinsel arbeitet. Doch dann kommt es (nach 65 Kinominuten) zum Vertrauensbruch. Nancy hat Nachforschungen über das Privatleben ihres angemieteten Lovers angestellt. Leo erklärt ihr Verhältnis für beendet.
Doch damit ist diese unerfüllte Liebesgeschichte noch nicht zu Ende. Beide, Callboy Leo und Klientin Nancy, machen eine Entwicklung durch, stellen sich ihrem Leben und wandeln sich. Leo outet sich, und Nancy akzeptiert ihren Körper. Das Schlussbild prägt sich ein und ist ein feministisches Vermächtnis: Nancy steht nackt vor dem Spiegel, betrachtet sich und lächelt. Und Emma Thompson (63) ist ganz Frau – hautnah, entwaffnend und erfüllt. Einmalig. Die Australierin Sophie Hyde hat dieses einfühlsame, sehr intime Drama inszeniert. Obwohl viel von Sex und Gelüsten die Rede ist, erweist sich die knisternde Beziehungsgeschichte alles andere denn als Sexfilm. Sie ist ein Plädoyer für Lebenslust und Ehrlichkeit zu sich selbst, über Sehnsüchte und Befriedigung.
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Juniper
rbr. Generationsclinch. Und noch ein Spielfilm, in dem eine grosse Schauspielerin, Charlotte Rampling (76), sich grandios eingibt und fasziniert. Ruth (Rampling), Kriegsreporterin notgedrungen im Ruhestand, ist eigensinnig, störrisch und unnachsichtig. Sie fürchtet die Einsamkeit und sucht nach einem Beinbruch (nun an den Rollstuhl gefesselt) ihren Enkel Sam (George Ferrier) in Neuseeland heim. Sie hat weder zu ihrem Sohn (Márton Csókás) noch zum Enkel ein gutes Verhältnis. Die Engländerin Ruth hat Ecken und Kanten, wird in Neuseeland von der Pflegerin Sarah (Edith Poor) versorgt – vor allem mit Gin und Wasser. Wie soll das gut gehen?
Diese Charaktere haben das Heu wirklich nicht auf demselben Heuboden. Der selbstmordgefährdete Teenager Sam und die alte alkoholsüchtige Dame versuchen sich gegenseitig zu ignorieren, was sich auf Dauer nicht verhindern lässt, wenn man im selben Haus wohnt. Man geht in den Clinch, und es geht um Leben oder Tod, Trauer, Entfremdung und Akzeptanz.
Matthew J. Saville (Buch und Regie) inszeniert mit wenigen Mitteln einen bitterböse und doch versöhnlichen Beziehungsclinch. Der Hass, die Verbitterung der Grossmutter mit schillernder Vergangenheit bröckeln. Im Kern beschreibt Savilles Familiendrama, wie Entfremdung nicht in Stein gemeisselt sein muss, wie Veränderungen immer möglich sind und dass aus Brüchen neue Bindungen wachsen können.
Die grosse Mimin Charlotte Rampling («Dune») setzt mit sparsamen schauspielerischen Mitteln (im Rollstuhl!) Zeichen und Marken. Blicke, Mimik. Gestik sprechen Bände. Und ihr Gegenspieler, der Neuseeländer George Ferrie bietet Stirn und überzeugt. Ein leiser, ganz anderer Familienfilm mit traumhaften Impressionen aus Neuseeland. Der Filmtitel «Juniper» ist sowohl als weiblicher wie männlicher Vorname gebräuchlich und bedeutet eigentlich Wacholder, gemeint sind immergrüne Sträucher und Bäume. Wacholder ist landläufig als Spirituose bekannt, siehe Gin oder Genever. Und da wären wir bei «Alki Ruth»…
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Alles über Martin Suter – Ausser die Wahrheit
rbr. Lügen in Wahrheit verpackt. Der Filmer André Schäfer ist ein Fan des Autors. Das ist nach wenigen Einstellungen unschwer zu erkennen. Wir nehmen teil am filmischen Spaziergang durch Geschichten und Geschichte: Martin Suter (74), einer der erfolgreichsten zeitgenössischen Schweizer Autoren, ist quasi Gastgeber. Der Titel deutet es fast spitzbübisch an: Dieser Film ist kein minutiös angelegtes Biopic, kein Porträt der konventionellen Art, kein biographisches Kompendium, sondern ein Vexierspiel im Kosmos des Martin Suter. Natürlich steckt hinter der Titelfloskel «Ausser die Wahrheit» (Sprachpuritaner würden sie gern in «Ausser der Wahrheit» umschreiben) einige Wahrheit.
Man weiss nicht recht, wer wen bei diesen literarischen und biografischen Erkundungen bei der Hand nimmt: der Hauptdarsteller den Filmer oder umgekehrt. Wie auch immer, Herr Suter ist ganz Gentleman, der Einblicke in seine Arbeit, etwa im Studio in Guatemala, gewährt, der in seinem literarischen Garten oder sollte man Gestrüpp spaziert. Da tauchen Figuren und Szenen aus Büchern auf. Aber es werden auch Live-Szenen eingestreut und «Weisheiten» ausgetauscht – mit Schreiberling Benjamin von Stuckrad-Barre oder mit Ex-Kicker Bastian Schweinsteiger, Held seines jüngsten Werks. Ergiebiger und stimmiger sind da freilich Konzertausschnitte mit Stephan Eicher, für den Suter einige Liedertexte verfasst hat.
So pendelt die fiktionale Dokumentation vergnüglich zwischen Tat und Wahrheit, Fiktion und Selbstdarstellung und kommt seinem Titelhelden spielerisch nahe. Man erfährt dies und da, auch über seine Kinder aus Guatemala (wobei der Sohn tragisch zu Tode kam), weniger über seine Frau, ein paar Sentenzen über seinen Ur-Verleger Daniel Keel (und Ziehvater) und dessen Sohn, dem heutigen Chef beim Diogenes Verlag. Es fallen wegweisende Sätze wie «Lügen in Wahrheit verpackt werden glaubwürdiger» und andere sprachliche Bonbons. Dass die kritische Distanz fehlt und der Film den Erfolgsautor in schönstem Licht zeigt, wird durch wohlfeiles Vergnügen und Verschmitztheit wett gemacht. Man kann sich amüsieren wie bei Suters Allmen-Krimis.
Und wenn Vergessen beim Erinnern hilft, wie es einmal heisst, dann ist der Rückgriff auf seine Romanen, etwa zu «Lila, Lila» oder «Die dunkle Seite des Monds», sicher ein Gewinn, auch wenn die Wahrheit eine Fiktion bleibt.
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Semret
rbr. Last der Vergangenheit. Semret, eine Frau aus Eritrea, lebt unscheinbar in Zürich und versucht, ihre Tochter im Teenageralter vor der Welt zu schützen. Semret ist allein und verunsichert, trägt schwer an Erinnerungen und geht, wenn immer es geht, auf Distanz, besonders zu ihren Landsleuten. Ein junger Mann (Tedros Tekleab) aus Eritrea, wohl mit ähnlichem Schicksal, unterstützt sie. Doch sie bleibt misstrauisch, weist ihn zurück. Semret arbeitet in einem Spital und möchte Hebamme werden. Ihre vierzehnjährige Tochter Joe (Hermela Tekleab) ist unbeschwert und stösst bei ihrer Mutter auf eine Mauer des Schweigens, wenn sie etwas über ihre Herkunft, Identität und Vergangenheit erfahren will. Der Mutter-Tochter-Konflikt spitzt sich zu, als Joe mit einem Jungen anbändelt.
Die Zürcher Filmautorin Caterina Mona kennt sich mit eritreischen Schicksalen aus, hat Frauen mit Flüchtlingshintergrund persönlich kennen gelernt. Behutsam und einfühlsam schildert sie in ihrem Spielfilmdebüt «Semret», wie schwer eine Frau ihre Vergangenheit belastet. Sie versucht, ihr zu entfliehen, will vergessen, verdrängen. Doch ihre Tochter zwingt sie, sich ihrem Trauma zu stellen.
Das stille Sozialdrama überzeugt durch Intimität und Authentizität, getragen von der Eritreerin Lula Mebrahtu, die in London lebt und eine paar Brocken Schweizerdeutsch für den Film gelernt hat. Denn über weite Strecken wird die eritreische Landessprache (Tigrinya) gesprochen. Auch der Landsmann, der Mutter und Tochter helfen will, hat einen eritreischen Hintergrund, gespielt von Tedros «Teddy» Teclebrhan. Der stammt selber aus Asmara, Eritrea, und ist in Deutschland ein bekannter Komiker (Teddy Comedy) und Schauspieler. Sein Musikvideo «Deutschland isch stabil» wurde im Jahr 2020 von Millionen Leuten aufgerufen und angesehen.
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to be continued