«Triest: Drehscheibe des Verbrechens im Herzen Europas»
Von Susanne Schanda
Keiner lässt die nördlichste Hafenstadt am Mittelmeer schöner aus der Asche erstehen als Veit Heinichen mit den zwielichtigen Figuren seiner brillant erzählten Krimis. Dem Filz von Wirtschaft, Politik und organisierter Kriminalität immer hart auf der Spur, lockt er eine internationale Fangemeinde durch die Strassen Triests – auf der Suche nach Schauplätzen wie der Gran Malabar, dem Mercato Coperto oder der Sacchetta. Triest lebt – und stirbt – und tötet.
Begegnung mit dem deutschen Krimiautor Veit Heinichen in Triest
Anfang Oktober wurden in Triest zwei Brüder nach einem Motorraddiebstahl festgenommen und in die Questura, die Polizeihauptwache, geführt. Einem der Festgenommenen gelang es beim Gang auf die Toilette, dem ihn begleitenden Polizisten die Waffe zu entreissen. Er erschoss den Polizisten und – bei der Flucht aus dem Gebäude – einen weiteren. Dies geschah ausgerechnet am Tag vor der Eröffnung der Barcolana, der weltweit grössten Segelregatta, in unmittelbarer Nähe der prächtigen Piazza dell’Unità d’Italia. «Terrore e morte in Questura» lautete die Schlagzeile auf der Frontseite der Triestiner Tageszeitung «Il Piccolo», die den Tathergang und die Hintergründe in Bild und Text auf sieben Seiten ausbreitete. Die Eröffnung der Barcolana wurde um einen Tag verschoben, um der Trauer und dem Gedenken an die beiden getöteten Polizisten Raum zu geben. Aus Rom meldete sich neben dem Staatschef und der Innenministerin auch der Ex-Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini mit einem Statement, in dem er betonte, dass der Täter ein Ausländer sei und es keine Gnade für ihn geben dürfe. Auf dem Weg nach Triest, wo er an der Trauerfeier teilnehmen wollte, wurde Salvini von einer plötzlichen Übelkeit erfasst und ins Spital von Monfalcone gebracht…
Dies ist nicht die Eröffnungsszene eines neuen Proteo-Laurenti-Krimis von Veit Heinichen, sondern geschah tatsächlich am 4. Oktober 2019 in Triest. Aber genau so realistisch lesen sich die Romane des in Triest lebenden deutschen Autors, die immer von realen und allzu oft ungesühnten Verbrechen ausgehen. Dafür recherchiert er jahrelang, spricht mit hundert Zeitzeugen und steigt in Archive. Für eine längere Recherche liess er sich von einem Fernsehteam der RAI begleiten. Als die italienische Übersetzung eines seiner Romane erschien, präsentierte er das Buch in der Eingangshalle der Questura, zusammen mit dem Polizeipräsidenten.
Die Questura ist auch der Arbeitsort des Protagonisten Commissario Proteo Laurenti. Im neuen Roman «Borderless» rückt sie allerdings ebenso in den Hintergrund wie Laurenti selbst. Xenia Zannier heisst die neue Kommissarin, und sie jagt die Verbrecher über die Landesgrenzen hinweg. Die Fäden der Handlung reichen von Triest über Rijeka und Zagreb bis Salzburg und München. Und zeitlich von 2015 zurück in die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre, als Waffen aus DDR-Beständen unter Umgehung des UN-Embargos nach Kroatien geliefert wurden.
Triest – ein europäisches Laboratorium
Von Triest aus sieht man mit dem Fernglas übers Meer bis nach Slowenien und Kroatien hinüber. Die nördlichste Hafenstadt am Mittelmeer, die 500 Jahre lang zur Habsburger Monarchie gehörte, ist nur eine gute Autostunde von Ljubljana und Rijeka entfernt. Was hat Veit Heinichen vor 25 Jahren in diese Stadt verschlagen? «Die Neugier», sagt er beim Espresso im legendären Caffè San Marco gleich neben der mächtigen Synagoge. Das Literaturcafé erinnert mit seinem knarrenden Parkett, den grossen Spiegeln, schwarzen Lederbänken und den in einem warmen Habsburgergelb gestrichenen Wänden an ein Wiener Kaffeehaus. «Die geopolitisch-strategische Position macht Triest zu einem Brennpunkt der europäischen Kultur, wo sich die mediterrane Welt und der Norden begegnen, wo das frühere Westeuropa auf das frühere Osteuropa trifft. Die Stadt wurde von Menschen aus über 90 Ethnien aufgebaut, was sie zu einem Prototyp der europäischen Stadt macht, zu einem europäischen Laboratorium».
Literatur entsteht da, wo Brennpunkte, Kontraste und Widersprüche wirken. Italo Svevo hat der Stadt mit seinen Romanen ein Denkmal gesetzt, Ivo Andric und James Joyce haben einige Jahre in Triest gelebt, und der bereits 106-jährige Boris Pahor, der mehrere Konzentrationslager überlebt hat, und Claudio Magris sind noch heute hier zuhause. «Triest ist eine der wenigen Hauptstädte der Weltliteratur», sagt Veit Heinichen, der selbst über Umwege zur Literatur gekommen ist. In seinem früheren Leben studierte er Wirtschaft, arbeitete in der Zentrale von Daimler-Benz, machte dann eine Buchhändlerlehre und arbeitete in verschiedenen Verlagen mit, darunter der Ammann-Verlag in Zürich, bis er mit zwei Kollegen 1993 den Berlin-Verlag gründete. Bereits in diesen Jahren, als er zwischen Zürich, Frankfurt und Triest pendelte, entstand in seinem Kopf die Figur des Commissario Proteo Laurenti.
Der Autor als Hirte
Veit Heinichen denkt sich die Plots seiner Bücher nicht am Schreibtisch aus. «Auf manche Ideen komme ich morgens, in dieser dämmrigen Zeit zwischen Schlaf und Wachen». Am Anfang steht immer das Interesse für einen bestimmten Stoff, den er sich durch gründliche Recherchen und Reisen erarbeitet. «Ich schreibe nicht um des Schreibens willen, sondern um Stoffe zu erzählen. Dann erschaffe ich die Figuren. Erst wenn ich meine Figuren durch und durch kenne, mit ihren Stärken und Ticks, ihrem Werdegang, ihrer Schuhgrösse und verwandtschaftlichen Beziehungen, so dass sie glaubwürdig sind, dann kann ich ihnen vertrauen, sie laufen lassen. Dann machen sie den Plot». Aber als Autor müsse er aufpassen, dass ihm die Figuren keine faulen Eier legten und den Plot ins Abseits führten. Sonst muss er zurück zu dem Punkt, wo es schief ging und dort wieder neu anknüpfen. Er vergleicht seine Arbeit mit der eines Schäfers, der seine Herde von A nach B bringen muss: «Wenn sich auch nur eines der hundert Schafe verrennt, muss ich mit der ganzen Herde zurück und es suchen. Wenn es tot ist, muss ich es auf der Schulter heimtragen, ich muss die ganze Herde ans Ziel bringen».
Borderless, der neue Krimi-Roman von Triest
Nun also «Borderless», der neue Roman. Mit der Figur der 40-jährigen Kommissarin Xenia Zannier ist Heinichen ein grosser Wurf gelungen. Geboren wurde sie während eines Erdbebens, bei dem ihre Eltern verschüttet wurden. Die im siebten Monat schwangere Mutter konnte zwar aus den Trümmern geborgen werden, verstarb aber nach einem Notkaiserschnitt. Das Mädchen dagegen überlebte. Eine Vollwaise von Geburt an, bei ihrer Tante im dreisprachigen Gorizia aufgewachsen, klaustrophob mit Angst vor Grenzen und engen Beziehungen, intelligent und mit einem hoch entwickelten Gerechtigkeitssinn. Xenia Zannier hat sich von Rom nach Grado versetzen lassen, einem verschlafenen Badeort bei Triest, von wo aus sie ihre Erzfeindin, die korrupte Senatorin Romana Castelli de Poltieri, die am gewaltsamen Tod von Xenias geliebtem Stiefbruder und Cousin indirekt Schuld trägt, im Blick hat. Soweit die Ausgangslage. Schon bald überschlagen sich die Ereignisse. Ein Frachter aus der Türkei, der nicht nur Flachstahl geladen hat, sondern syrische Flüchtlinge in Italien absetzt, wird beschlagnahmt. Doch bereits wenige Tage später wird das Schiff im Hafen von Rijeka entdeckt, wo es bei Nacht und Nebel mit einer neuen Fracht beladen wird. Als ein Investigativjournalist und Freund Xenias in Salzburg ermordet wird und eine ehemalige Wettkampfschwimmerin auf Fotoreportage in Rijeka spurlos verschwindet, lässt die Kommissarin ihre Beziehungen spielen.
Doch wer glaubt, dass nach diesem 460-Seiten-Thriller wie im Sonntagabend-Krimi Ordnung herrscht, alle Bösen im Knast sitzen und die Guten feiern, täuscht sich. «Die Welt ist nicht so. In Wirklichkeit beginnt es mit Unordnung und endet im Chaos», sagt Veit Heinichen. Er versteht seine Krimis als Spiegel der Welt, wie sie ist. Deshalb sind sie so nachhaltig wie ein Schuss aus der Waffe von Xenia Zannier, die ihre Gegner nicht umbringen will, wie sie erklärt: «Wenn eine Waffe auf dich gerichtet ist, schiess sie ihm aus der Hand und triff, wo’s wehtut und nie wieder ausheilen kann. Lass sie leben und für immer büssen».
Veit Heinichen ist ein brillanter Erzähler mit einem schier unerschöpflichen Vorrat an Geschichten und Anekdoten. Nach zwei Stunden verlassen wir das Caffè San Marco und begeben uns – vorbei am Geburtshaus von Italo Svevo – an einen zentralen Schauplatz der Krimis um Commissario Proteo Laurenti: die Gran Malabar auf der belebten Piazza San Giovanni. Wo der Commissario Verdächtigen auflauert oder eine Denkpause einlegt, wenn er im Filz aus Wirtschaft, Politik und organisiertem Verbrechen steckenbleibt, lassen wir unser Gespräch bei einer Flasche Weisswein vom Karst ausklingen. Nein, Proteo Laurenti ist nicht in Pension gegangen. «Im Gegenteil, er macht mir schon wieder Arbeit», sagt sein Schöpfer mit einem lustvollen Seufzen.
Veit Heinichen, 1957 geboren, wächst auf im Südwesten Deutschlands in einer Gegend voller Grenzen: Die Nähe zu Frankreich und der Schweiz, die Mentalitätsunterschiede zwischen dem katholischen Baden und dem protestantischen Württemberg, der Kontrast zwischen dem kleinen Bauerndorf, in dem er aufwuchs, und der Stadt, wo er das Abitur machte. Durch diese Gegend läuft die Europäische Wasserscheide, und die Donau, der zweitlängste Fluss Europas mit zehn Anrainerstaaten, hat dort ihren Ursprung. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft in Stuttgart und dem ersten Arbeitsleben in der Zentrale eines Automobilkonzerns beschliesst Veit Heinichen, die Karosserie gegen den Inhalt zu tauschen. Zuerst im Buchhandel, später der Wechsel ins Verlagswesen: Ammann Verlag in Zürich, S. Fischer Verlage in Frankfurt. 1994 Mitbegründer des Berlin Verlags, Berlin, und dessen Geschäftsführer bis 1999. Nach Triest kommt Veit Heinichen zum ersten Mal 1980, ohne zu ahnen, dass sich dies als schicksalsbetonte Begegnung zeigen wird. Die «Stadt der Winde» ist heute der Ort, mit dem er in seinem Leben am längsten verbunden ist. Zuerst als Pendler, ab 1997 schließlich als Einwohner. Triest ist eine Schnittstelle Europas, der Ort, in dem sich die drei grossen europäischen Kulturen begegnen: die romanische, die slawische und die germanische. Eine Hauptstadt der Weltliteratur, in der Literatur in vielen Sprachen geschaffen wurde. Jules Verne, Richard Francis Burton, Sigmund Freud, Italo Svevo, James Joyce, Umberto Saba, Fulvio Tomizza, Claudio Magris, Boris Pahor und viele andere haben mit ihren Werken diese vielsprachige Gegend im Herzen Europas geprägt.
Veit Heinichen
Borderless
Roman
Piper Verlag, 2019
Kartonierter Einband, 464 S.
CHF 24.90
ISBN 978-3-492-06147-6