Halle am Plazzet in Zuoz E.A.T.
Am Plazzet, Zuoz
Senter Künstler Not Vital
Referat am Engadin Art Talk mit Kurator Hans Ulrich Obrist
«Rote Bar» im Hotel Castell Zuoz
Susch, Ortsbild mit Inn
Eingang zum Muzeum Susch. Fotos © Ingrid Isermann
«Engadin Art Talks»: Kunstmeile und Schauplatz kreativer Denkprozesse
Von Ingrid Isermann
Das Engadin hat sich als Schauplatz kreativer Denkprozesse mit Analysen zur Zeitgeschichte und der Kunst- und Kulturtrends etabliert. Zahlreiche, internationale Gäste und Celebreties waren zum Kunst- und Architekturforum «Engadin Art Talks» unter dem Motto «Snow & Desert» in den tief verschneiten Bergort Zuoz angereist.
Ein Schneefall bedeckte im vergangenen Dezember erstmals die Wüstenlandschaften der Sahara. Koinzidenz oder Zufall? Die aktuellen Themen des Klimawandels wurden am zweitägigen Symposium 28. und 29. Januar 2017 nachhaltig aufgegriffen. Die Gespräche fanden auf Englisch statt. 2010 von Cristina Bechtler gegründet, fördern die Engadin Art Talks (E.A.T.) den Austausch und Interaktion zwischen Künstlern, Architekten, Kuratoren sowie Kunst- und Kulturbegeisterten und werden von international bekannten Kuratoren geleitet: Daniel Baumann, (Direktor Kunsthalle Zürich), Bice Curiger (Direktorin Fondation Van Gogh Arles), Hans Ulrich Obrist (künstlerischer Leiter und Kurator der der Serpentine Galleries in London) und Philip Ursprung (Prof. gta ETH Zürich).
Die Thematik «Snow & Desert» wurde von den Referenten Manuel Herz, Heinz Mack, Subhankar Banerjee, Julian Charrière, Francis Kéré, Christine Levy, Eileen Myles, Emily Scott, Oscar Tuazon, Rüdiger Wehner und Not Vital beleuchtet. Die in Berlin lebende Videokünstlerin Hito Steyerl präsentierte den Film «Liquidity Incorporation» über Wasserwelten. Der junge Westschweizer Künstler Julian Charrière (*1987), – seine Arbeiten «First Light» sind gegenwärtig in der Zuozer Galerie Tschudi ausgestellt -, erläuterte seine Faszination für entlegene Landschaften und Expeditionen: «Fieldwork at the end of geography».
Kurator Daniel Baumann, Kunsthalle Zürich: Snow & Desert sind «Trigger words», Reizworte, die etwas in uns auslösen. Schnee und Wüste als Projektionsflächen, die das Absolute und das Unheimliche bezeichnen als Räume, die Menschen nicht brauchen. Schnee und Sandwüsten sind Sinnbilder umwälzender Veränderungen. Gletscher bilden das Langzeitgedächtnis der Erde und der Natur. Wenn das Klima sich verändert, geht das Gedächtnis der Natur verloren. Die Engadiner Art Talks vernetzen die Hirnzellen vor Ort, so Kurator Philip Ursprung.
«Sahara-Project»
Sein zentrales Thema ist das Licht und seine Lichtinstallationen wirken metaphysisch. Heinz Mack, *1931 in Hessen, Mitbegründer der Avantgarde-Gruppe ZERO, nahm an Documenta-Ausstellungen (1959 / 1966) sowie 1970 an der Biennale von Venedig teil. In seinen Werken experimentiert er mit den Effekten des Lichts und der Farbe, um Reflexionen, Bewegungen und Strukturen zu ergründen: «Schnee ist eine sehr spezielle Landschaft, die Schönheit einer Landschaft kann verletzt werden, als neue Form der Kolonisation. Die Menschheit flüchtet vor sich selbst, in die Arktis und die Wüste in utopische Welten. Surrealität stellt jedoch eine Gefahr in diesen Ländern dar. In der Wüste ist man mit der Frage konfrontiert: Warum bist du hier und was willst du hier? Meine Antwort ist das «Sahara-Project», das ich 1959 entwarf». Seither hat er verschiedene künstliche Gärten in der Wüste und in der Antarktis angelegt. Sein Freilichtkunstwerk «The Sky Over Nine Columns» ist am St. Moritzer See bis März 2017 zu sehen.
Gletscher und Klimawandel
Das aktuelle Trendwort postfaktisch könnte vielleicht bald in post-human verwandelt werden. Christine Levy meinte lakonisch lächelnd: «Vor 10 000 Jahren fand die letzte Eiszeit statt, in 10 000 Jahren könnte es wieder soweit sein». Aber vielleicht handelt es sich hier nur um Alternative Fakten? Die Naturwissenschaftlerin, *1975, studierte an der ETH Zürich Geographie und Glaziologie. Im Engadin erstellte sie eine Kartografie für Geomorphologie und verliebte sich in die Landschaft. «Ich beobachte, was sich in der Natur verändert und in den Landschaften meiner Umgebung», so Levy, «ein grosser Teil der Veränderung der schrumpfenden Gletscher ist dem Klimawandel geschuldet. Ich mache Fotos der Gletscher, die sich jedes Jahr verändern. Schritt für Schritt halte ich ihre Geschichte fest, möchte aber auch die Schönheit der Gletscher und der Berge zeigen. Und ich möchte auch die Konsequenzen des Klimawandels aufzeigen, das ist der Hauptteil meiner Arbeit. Die Gletscher beweisen uns ganz klar die Tatsache des Klimawandels», sagt die promovierte Naturwissenschaftlerin, die für die Academia Engiadina und GEO Grischa AG tätig ist und sich in ihren Projekten mit Gletschern, Permafrost und Klimawechsel beschäftigt.
«Refugees – Weaving the Nation»
Seine Studien fokussieren auf die Beziehung zwischen Migration, Architektur und Nation. Manuel Herz, *1969 in Düsseldorf, Architekt und Professor an der Universität Basel, griff das Thema mit «Weaving the Nation» auf: «Die Migration und der Aufbau einer Nation im Exil durch Architektur und Handwerk sind einige der zentralen Themen meiner Arbeit in den Flüchtlingscamps der vertriebenen Sahrawi in der Westsahara. Sie versuchen, ihr Leben soweit wie möglich selbst zu gestalten, als Ziel einer Emanzipation und sozialer Transformation. Die Wüste in der West Sahara ist von Marokko besetzt, seit die Franzosen das Land verliessen, denn die Phosphor-Vorkommen sind für Marokko sehr lukrativ». Seine Projekte umfassen Bauten in verschiedenen Ländern, unter anderem die Neue Synagoge in Mainz und eine Museumserweiterung in Ashdod, Israel. Herz stellte weltweit aus, wie an der Venedig Biennale Architektur 2016.
Burkina Faso – Bauwerke als Inspiration
Als Sohn eines Bürgermeisters eines Dorfes aus dem kleinen Ort Gando in Burkina Faso, konnte Francis Kéré, *1965, Architekt aus Westafrika, in Deutschland Architektur und Ingenieurwissenschaften studieren. Parallel zu seinen Studien gründete er die Kéré Foundation (früher Schulbausteine für Gando e.V.) für den Zweck des Fundraising, um eine Primarschule in Gando zu bauen, die 2004 mit dem renommierten Aga Khan Award ausgezeichnet wurde. Kéré entwickelte seither innovative konstruktive Strategien, die traditionelle Materialien mit moderner Technik verbinden. Seit der Gründung der Kéré Architektur 2005 haben seine Werke mehrere Awards erhalten. November 2014 wurde Francis Kéré mit dem Erich-Schelling-Architekturpreis ausgezeichnet. Kéré ist auch der Entwerfer des Operndorf Afrika des früh verstorbenen Regisseurs Christoph Schlingensief. Seine Arbeit wurde unter anderem im Museum of Modern Art (MoMA) präsentiert, wie auch im Architekturmuseum der TU München, wo 2016/2017 die erste Einzelausstellung seines architektonischen Gesamtwerks Francis Kéré: Radically Simple gezeigt wird. Kéré unterrichtet an der Graduate School of Design der Harvard University sowie als Entwurfsprofessor an der Università della Svizzera italiana in Mendrisio. Francis Kéré wird auch den Serpentine Pavillon 2017 in London designen, Ausstellung 23. Juni – 8. Oktober 2017.
Oscar Tuazon: «Protector Architecture»
Oscar Tuazon, geboren 1975 in Seattle, USA, lebt und arbeitet in Los Angeles. Seine Arbeiten umfassen eine breite Vielfalt gross angelegter Skulpturen und Installationen, die die Grenzen zwischen Kunst und Architektur sowie zwischen Form und Funktion überschreiten. Tuazon nahm auch an der Biennale von Venedig 2011 teil. Von der sogenannten «Outlaw- Architektur», einer extremen Form der Do-it-yourself-Architektur inspiriert, erforscht er in seinen Werken den physikalischen Raum und verweist auf den Minimalismus. Charakteristisch für seine Werke ist eine Kombination aus natürlichem und industriellem Material, beispielsweise Holz, Beton und Metall. Er verwendet diese Materialien, um originelle Objekte, Strukturen und Installationen zu erschaffen, die vom Betrachter benutzt, besetzt und in Anspruch genommen werden können. Seine neuesten Arbeiten «See Through» stellt Oscar Tuazon gegenwärtig in der Galerie Eva Presenhuber Löwenbräu Zürich in der Doppelausstellung mit John Giorno «Space forgets you» bis 25. März 2017 aus.
Not Vital: «ArDEZ – AgaDEZ»
Not Vital, * 1948, der Künstlernomade aus Sent aus dem Unterengadin, stellte in seinem Referat ArDEZ-AgaDEZ Korrelationen zwischen Ardez im Unterengadin und Agadez in den Raum. Die historische Altstadt Agadez in der Sahelzone gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. In Ardez gründete Not Vital 2005 seine Stiftung Foundation Ardez, die Kunstausstellungen veranstaltet und über eine umfangreiche Bibliothek verfügt.
«Habitat» nennt Not Vital seine Wohnbauten an verschiedenen Orten, denn die Architektur, inspiriert von den Lehmbauten der Sahelzone Agadez in Niger, ist ihm ebenso wichtig wie seine Kunstwerke. In der Galerie Thaddaeus Ropac, Paris präsentiert Not Vital gegenwärtig «POLES», Skulpturen, Malerei, Zeichnungen und Installationen bis 18. März.
Vital schlug an vielen Orten der Welt seine Zelte auf, seit Mitte der 70er Jahre arbeitete er dreissig Jahre in New York, seit 2008 in Beijing in der Nachbarschaft von Ai Weiwei in einem von einem japanischen Architekten entworfenen grosszügigen Atelier. «Ohne Fenster, nur Oberlichter mit Blick auf den Himmel, so werde ich nicht vom Arbeiten abgelenkt», erzählt er im persönlichen Gespräch. Er pendelt zwischen Beijing und Rio de Janeiro, den Philippinen, Neuseeland und der Schweiz. In Sent hat Not Vital einen Skulpturenpark bestückt, unter anderem mit einer Plastik des mächtigen Schnauzbartes von Nietzsche, den er zitiert: «Seit ich des Suchens müde ward, erlebte ich das Finden». Kürzlich hat Vital das historische Schloss Tarasp erworben, das er als Kunst- und Kulturzentrum im Unterengadin umgestalten will. Das Programm ist in Planung, eine Stiftung ist bereits gegründet: «Das Schloss hat die grösste Privatsammlung und eine hervorragende geografische Lage. Es wird jedes Jahr Ausstellungen und Symposien geben. Im oberen Teil des Engadins gibt es viele Galerien, im Unterengadin nicht».
Was bedeutet die Schweiz dem Künstler? «Ich kenne die Schweiz nicht so gut, nur das Engadin. Hier ist meine Familie in Sent beheimatet, seit 1392». Not ist übrigens der romanische Vorname für Otto. Wie Segantini, Nietzsche und Giacometti lebten viele Künstler im lichtvollen Engadin. Der russische Tänzer Nijinski kurierte 1919 in einem Sanatorium in St. Moritz einen Nervenzusammenbruch aus. «Leute aus dem Engadin wanderten oft als Zuckerbäcker in die Fremde aus, die Randulins, Schwalben, wie man sie nannte, doch sie kehrten stets zurück und bauten hier ihre Paläste», sagt Not Vital, der weitgereiste Künstler aus dem Unterengadin nicht ohne Stolz.
Kulturort Hotel Castell
Zum kulturellen Anziehungspunkt Zuoz hat massgeblich auch das renommierte Fünfsterne-Hotel Castell beigetragen, das 1996 von der Sammlerfamilie Bechtler erworben wurde und eine veritable Kunstsammlung vorweisen kann. Rudi Bechtler initiierte vor Ort verschiedene Kunst- und Architekturprojekte und organisiert Kunsttagungen und Symposien im Hotel Castell. Weitere Werke wurden dank der Initiative Art Public Plaiv in Zusammenarbeit mit der Walter A. Bechtler-Stiftung geschaffen und sind öffentlich zugänglich. Ein Blickfang im Hotel Castell ist auch die «Rote Bar», die von der Multimediakünstlerin Pipilotti Rist und der Zürcher Architektin Gabrielle Hächler (Architekturbüro Fuhrimann Hächler) entworfen wurde. Nach dem intensiven Gedankenaustausch an den Art Talks traf sich männiglich an der Roten Bar und vernetzte die Hirnzellen vor Ort.
Veranstaltungshinweis: Castell Art Days MARTIN KIPPENBERGER – 20 JAHRE SPÄTER.
Susanne Kippenberger, Schwester und Biographin des Künstlers Martin Kippenberger, wird über ihre Erinnerung an ihren Bruder berichten. 6. – 8. März 2017 im Hotel Castell, in Zuoz. https://
«Muzeum Susch»
Ein neues Museum wird im Unterengadin in Susch, unweit von Scuol erstellt, das «Muzeum Susch». Am Wochenende der Engadin Art Talks fand eine Besichtigung statt und Kunstinteressierte strömten zuhauf in die Halle und den mehrstöckigen Rohbau. Das von der polnischen Sammlerin Grazyna Kulczyk initiierte Projekt wird 2018 eröffnet. Mit dem Umbau der ehemaligen Brauerei wurde das Zürcher Architekturbüro Voellmy Schmidlin beauftragt. Die umfangreiche Sammlung und temporäre Ausstellungen werden vom Duo Fredi Fischli und Niels Olsen kuratiert. Zum Museum gehören auch Räume für Künstlerresidenzen, ein Novum für Susch, dem einzigen Dorf im Engadin, durch das direkt der Inn fliesst.